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Grundlagen der Staatsordnung
Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
Die Bergier-Kommission veröffentlichte einen Bericht zur Flüchtlingspolitik der Schweiz im 2. Weltkrieg. – Trotz finanziellen und organisatorischen Problemen soll die Landesausstellung Expo.01 durchgeführt werden, allerdings erst im Jahr 2002. Das Parlament genehmigte dafür einen Zusatzkredit von 250 Mio Fr. – Volk und Stände hiessen die neue Bundesverfassung mit relativ knappem Mehr gut.
Grundsatzfragen
Die Krise um das Verhalten der Schweiz und speziell ihrer Banken während und nach dem Zweiten Weltkrieg ist im Berichtsjahr weiter abgeflaut. Der im Vorjahr zwischen internationalen jüdischen Organisationen und den beiden grössten schweizerischen Banken abgeschlossene Vergleich, der als sogenannte Globallösung auch alle Ansprüche gegen andere schweizerische Firmen und Institutionen umfasst (mit Ausnahme der Versicherungen, wo analoge Verhandlungen noch laufen), wurde vor dem federführenden New Yorker Gericht besiegelt. Im Frühjahr konnte der Bundesrat die von ihm 1996 eingesetzte und unter der Leitung des Diplomaten Thomas Borer stehende Task Force zur Wahrung der schweizerischen Interessen auflösen [1].
Für eine ausführliche Darstellung der den Finanzplatz betreffenden Fragen siehe unten, Teil I, 4b (Banken).
Am 10. Dezember stellte die Kommission Bergier ihren Bericht über die schweizerische Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg vor. Die Studie konnte zu diesem bereits gut erforschten Thema eigentlich nur im Bereich der finanziellen Aspekte der Flüchtlingspolitik grundlegend neue Erkenntnisse gewinnen. Die aus früheren Forschungen bekannten negativen Aspekte der damaligen schweizerischen Politik (Abweisung insbesondere von jüdischen Flüchtlingen), aber auch deren positive Seiten (Aufnahme von mehr als Hunderttausend Flüchtlingen, darunter mehr als 20 000 Juden) fanden ihre Bestätigung. Dabei wurden auch die früher ermittelten Zahlen über abgewiesene Flüchtlingen nicht nach oben korrigiert. Der Bericht wurde in den Medien breit dargestellt, führte aber nicht zu heftigen Auseinandersetzungen. Kritisiert wurde daran höchstens die leserunfreundliche Darstellung als Sammelwerk von Einzelbeiträgen und der fehlende Bezug zur damaligen internationalen Lage und zur Flüchtlingspolitik anderer Staaten [2].
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Die Errichtung der 1997 vom Bundesrat angekündigten Solidaritätsstiftung kam im Berichtsjahr nicht voran. Die Absicht des Bundesrates, mit einem neuen Währungsartikel eine rechtliche Grundlage für die geplante Sonderverwendung von nicht mehr benötigten Währungsreserven der Nationalbank zu schaffen, scheiterte im Nationalrat an einer unheiligen Allianz zwischen der Linken und der SVP. Die SVP begründete ihren Widerstand mit der Ablehnung der Solidaritätsstiftung, die Linke bekämpfte das im Artikel neu formulierte Ziel der Notenbankpolitik. Der Bundesrat kündigte anschliessend an, dass er bis Ende Jahr abklären wolle, welche anderen Möglichkeiten zur Schaffung von Rechtsgrundlagen für die Verwendung dieser Geldmittel bestehen würden. Kurz nach diesem Entscheid lancierte die SVP, die sich seit je gegen die Errichtung der Solidaritätsstiftung ausgesprochen hatte, die im Vorjahr angekündigte Volksinitiative, welche verlangt, dass sämtliche nicht mehr benötigten Goldreserven und deren Erträge in den AHV-Fonds zu fliessen haben [3].
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Die Rangliste der politischen Probleme, deren Lösung die Schweizerinnen und Schweizer für am vordringlichsten halten, hat sich im Vergleich zum Vorjahr verändert. Gemäss der unmittelbar nach den Nationalratswahlen vom Oktober durchgeführten Selects-Umfrage hat die Asylproblematik das Thema Arbeitslosigkeit von der Spitze verdrängt. Diesen Meinungsumschwung aber allein auf die Wahlpropaganda gewisser Parteien (namentlich der SVP) zurückzuführen, wäre wohl kaum zutreffend. Immerhin hatten sich in der Zwischenzeit auch die realen Verhältnisse verändert: die Arbeitslosenzahlen hatten sich weiter massiv reduziert und infolge des Kosovo-Konflikts war im Sommer eine neue Höchstzahl an einreisenden Flüchtlingen zu verzeichnen gewesen. In der französischen Schweiz konnte sich allerdings die Angst vor der Arbeitslosigkeit an der Spitze halten; dort spielen sozialpolitische Fragen für die Bevölkerung generell eine wesentlich wichtigere Rolle als in der Deutschschweiz [4].
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Anfangs Jahr wurden die vakanten Posten eines künstlerischen Direktors und einer technischen Direktorin neu besetzt. Das Strategische Komitee der Expo engagierte den Zürcher Museumsdirektor Martin Heller und die Waadtländer Raumplanerin Nelly Wenger als Nachfolger der im Vorjahr zurückgetretenen Pipilotti Rist und Paolo Ugolini [5]. Kurze Zeit später machte die Expo ihre akuten finanziellen Probleme bekannt. Um die Bauarbeiten fristgerecht anfangs Mai in Angriff zu nehmen, seien bis zu diesem Zeitpunkt 120 Mio Fr. aufzubringen und dazu weitere 130 Mio Fr. in Form von Bankgarantien zu sichern. Ende Juni wurde der offizielle erste Spatenstich für den Bau der Expo vorgenommen [6].
Als im Sommer dann immer deutlicher wurde, dass die erwarteten Sponsoring-Zusagen der Wirtschaft ausblieben, häufte sich intern und extern die Kritik an der Expo-Generaldirektorin Jacqueline Fendt. Anfang August forderten die vier Direktoren sie zum Rücktritt auf. Nachdem sie dies ablehnte wurde sie am folgenden Tag vom Strategischen Ausschuss wegen mangelnden Vertrauens entlassen [7]. Die finanziellen Probleme der Expo veranlassten den Bundesrat kurz danach, den Unternehmer Nicolas Hayek mit einer Expertise über den finanziellen Zustand und die Realisierbarkeit der Ausstellung zu beauftragen. Dieser Bericht sollte die Grundlage für die Zusage von weiteren Bundesmitteln und allfällige Strukturreformen bilden. Vertreter der grossen Wirtschaftsunternehmen gaben bekannt, dass sie nach wie vor an einer fristgemässen Durchführung der Expo interessiert seien, aber Finanzierungszusagen erst nach dem Vorliegen des Hayek-Berichtes machen könnten [8].
In der Ende September vorgestellten Expertise stellte Hayek fest, dass die Expo zwar machbar sei (sogar innerhalb der vorgesehenen Fristen), dass es dazu aber beträchtlicher Anstrengungen von Wirtschaft, Politik und Ausstellungsmachern bedürfe. In seiner Beurteilung des Ist-Zustandes konstatierte er erhebliche Mängel bei der Finanzplanung. Das ursprüngliche Budget, das beim Parlamentsentscheid von 1996 über den Expo-Kredit 730 Mio Fr. (davon 234 Mio Fr. als sogenannt externes Budget durch Dritte zu finanzieren) betragen hatte, habe sich auf geschätzte 1,6 Mia Fr. (davon 382 Mio Fr. im externen Budget) erhöht. Da neu mit rund 1,05 Mia Fr. Einnahmen gerechnet wird, bestehe je nach Gewichtung der Risiken eine Deckungslücke zwischen 380 und 550 Mio Fr. Der Bericht empfahl deshalb eine Redimensionierung des Projekts. Als sehr prekär wurde zudem die aktuelle Liquidität der Expo beurteilt. Kaum Positives vermochte der Bericht auch bei den Organisationsstrukturen auszumachen. Er forderte eine Ablösung der bestehenden Generaldirektion durch ein professionelles und mit starken exekutiven Kompetenzen ausgestattetes Projektteam. Als Oberaufsicht sollte anstelle des Strategischen Ausschusses ein kleines Steuerungskomitee wirken, in welchem, neben namhaften Persönlichkeiten aus der Wirtschaft und der Politik, ein Bundesrat oder ein hoher Beamter aus der Bundesverwaltung Einsitz nehmen soll [9].
Erste Konsequenzen aus dem Bericht ergaben sich in der Direktion: der Finanzchef und der Marketingchef stellten ihre Posten zu Verfügung. Der Strategische Ausschuss beantragte seinerseits beim Bundesrat einen Zusatzkredit von 230 Mio Fr. und erklärte sich mit seiner faktischen Entmachtung durch ein gemäss dem Hayek-Bericht formiertes Steuerungskomitee einverstanden [10]. Das Steuerungskomitee wurde Mitte Oktober gebildet. Der in den Medien oft als Wunschkandidat genannte Bundesrat Couchepin, dessen Departement von Bundesseite her für die Expo zuständig ist, hatte Ende September erklärt, dass er für diese Aufgabe nicht zur Verfügung stehe. Zum Mitmachen als Delegierter des Bundes erklärte sich der von Couchepin angefragte Nationalrat Franz Steinegger (fdp, UR) bereit. Neben dem als Präsidenten agierenden Steinegger berief der Strategische Ausschuss im Einvernehmen mit dem Bundesrat zwei Vertreter der Wirtschaft und zwei ehemalige Regierungsräte der Standortkantone Bern und Neuenburg (Peter Schmid, svp, und Pierre Dubois, sp) in das neue Gremium [11].
Am 4. Oktober unterbreitete die Regierung dem Parlament einen Zusatzkredit für die Landesausstellung im Umfang von 250 Mio Fr. Da die ursprünglich vorgesehene Durchführung im Jahre 2001 nach Ansicht des Bundesrates kaum möglich sein wird, ordnete er eine Verschiebung der Ausstellung um ein Jahr an. Er gab sich überzeugt, dass bezüglich Form und Inhalte eine attraktive Landesausstellung im Entstehen ist, konstatierte jedoch in Bezug auf Finanzen, Termine und vor allem auch Führung eine äusserst kritische Situation. In Anbetracht dessen, dass der Bundesrat selbst zu den Initiatoren dieser Landesausstellung gehört hatte und dass ein Abbruch ebenfalls Kosten von einigen Hundert Mio Fr. verursachen würde, sprach er sich für eine Durchführung des Vorhabens aus. Mit den zusätzlichen Bundesmitteln (1996 sprach das Parlament bereits einen Verpflichtungskredit von 130 Mio Fr.) möchte der Bundesrat insbesondere auch gegenüber der Wirtschaft ein Zeichen setzen, welches sie zu noch vermehrtem eigenem Engagement animiert. Von den 250 Mio Fr. sollen 50 Mio Fr. zur Finanzierung der bundeseigenen Ausstellungsprojekte verwendet werden. Weitere 150 Mio Fr. stellen ein Darlehen an den Verein Expo 2001 dar, mit welchem dessen Zahlungsbereitschaft gesichert und finanzielle Risiken abgedeckt werden können; davon dienen 20 Mio Fr. zur Schliessung akuter Liquiditätslücken. Die restlichen 50 Mio Fr. sind einerseits Beiträge zur Finanzierung besonderer Projekte im Rahmen der künstlerischen Gesamtkonzeption (z.B. Installationen, Videoprojektionen) und andererseits Vorhaben, die unter Beteiligung von Kleinbetrieben gestaltet werden (sogenanntes KMU-Programm). Abgesehen vom Überbrückungskredit von 20 Mio Fr. sollen die Darlehen aber erst gewährt werden, wenn ein verbindliches Engagement der Wirtschaft im Umfang von mindestens 380 Mio Fr. vorliegt, und zudem die Expo-Leitung klar gemacht hat, wie sie die auch dann noch bestehende Budgetlücke von 290 Mio Fr. mit Redimensionierungen sowie verbindlich zugesicherten Kantons- und Gemeindebeiträgen sowie Sponsorengeldern schliessen will [12].
Im Nationalrat, welcher die Vorlage als Erstrat in der Wintersession behandelte, informierte zuerst die Sprecherin der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur, Jacqueline Fehr (sp, ZH), über den Stand der Planung: Am 20. Oktober hatte das neue „Comité directeur“ unter dem Vorsitz von Nationalrat Steinegger (fdp, UR) seine Arbeit aufgenommen. Es hatte der Expo-Direktion den Auftrag erteilt, das Budget für eine Expo im Jahre 2002 in der Dreiseenregion in einem Umfang von 1 Mia Fr. auszuarbeiten. Die Ausstellungsleitung machte sich in der Folge daran, im Rahmen dieser Vorgabe zwei Konzepte abzuklären: einerseits wie vorgesehen die vier „Arteplages“ in Biel, Murten (FR), Neuenburg und Yverdon (VD) und andererseits Varianten für eine mehr zentralisierte Ausstellung [13]. Im Ratsplenum lagen drei Rückweisungs- und ein Nichteintretensantrag vor. Die Grüne Teuscher (BE) begründete ihren Nichteintretensantrag damit, dass es angesichts der staatlichen Sparpolitik nicht angehe, weitere 250 Mio Fr. für eine Expo auszugeben, die im Gegensatz zum ursprünglichen Konzept nur noch eine überdimensionierte Leistungsschau der schweizerischen Wirtschaft sein werde. Ein von der SVP-Fraktion unterstützter Rückweisungsantrag verlangte nach einer Vorlage, welche die beiden Alternativen Abbruch oder Verschiebung auf das Jahr 2005 enthält. Zwei weitere Rückweisungsanträge verlangten eine Halbierung der Kosten (Hess, sd, BE) resp. eine Dezentralisierung auf alle vier Sprachregionen der Schweiz (Maspoli , lega, TI). Die Fraktionen der drei übrigen Bundesratsparteien und der LP äusserten ebenfalls heftige Kritik am alten Expo-Management; da jedoch die neuen Verantwortlichen zu Hoffnung auf ein Gelingen Anlass geben würden, unterstützten sie den Nachtragskredit. Die Rückweisungs- und Nichteintretensanträge vermochten nicht mehr als maximal 36 Stimmen auf sich zu vereinigen und unterlagen damit deutlich. Auf Antrag der Kommission wurde vom Nationalrat noch eine Bestimmung aufgenommen, welche die Expo-Leitung verpflichtet, der Eidgenössischen Finanzkontrolle und der Finanzdelegation der eidgenössischen Räte vierteljährlich Bericht über die Gesamtentwicklung und die Finanzlage zu erstatten, wobei diese beiden Gremien uneingeschränkt Einsicht in die erforderlichen Dokumente erhalten. In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat die Vorlage gegen den Widerstand von Mehrheiten der SVP und der GP mit 133:39 Stimmen an. Der Ständerat hiess den Nachtragskredit bei drei Gegenstimmen gut. Kritisch äusserte sich vor allem Brändli (svp, GR), der betonte, dass der Bund unter Umständen zusätzlich auch noch das im Hayek-Bericht erwähnte Restrisiko von mindestens 170 Mio Fr. werde zu tragen haben [14].
Trotz aller personeller und finanzieller Probleme nahm die Expo weiter Gestalt an. Anfangs März wurden die Architekturmodelle der vier Ausstellungen vorgestellt. Es handelte sich dabei um Konkretisierungen und Weiterentwicklungen der im Vorjahr vorgestellten Entwürfe. Für Murten und Yverdon wurden die schwimmenden Ausstellungsplatformen reduziert und das Wasser primär als Gestaltungshintergrund einbezogen. Später wurden auch bereits relativ konkrete Ausstellungsteile präsentiert [15].
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Der Beitrag der Schweiz zum Themenpark der Weltausstellung 2000 in Hannover, der Aspekte der schweizerischen Verkehrspolitik hätte vorstellen sollen, musste fallengelassen werden, nachdem es nicht gelungen war, neben dem Bund auch noch private Geldgeber aufzutreiben. Das eigentliche schweizerische Ausstellungsprojekt war davon nicht betroffen [16].
Im September beantragte der Bundesrat dem Parlament Massnahmen zu einer Verbesserung des Bildes der Schweiz im Ausland, wie sie vor einem Jahr auch der Nationalrat gefordert hatte. Insbesondere möchte er die bestehende Koordinationskommission für die Präsenz der Schweiz im Ausland (KoKo) verstärken und neu ausrichten. Als problematisch in der Tätigkeit der bisherigen KoKo nannte der Bundesrat die im Zeichen des internationalen Wettbewerbs gestiegenen Anforderungen an die Verwendung von neuen Kommunikationstechnologien und die abnehmende Bereitschaft der Privatwirtschaft, als Sponsoren die Vorhaben der KoKo zu unterstützen. Er schlug deshalb die Schaffung einer Nachfolgeorganisation der KoKo mit dem eingängigeren Namen „Präsenz Schweiz“ (PRS) vor. Ihre Aufgabe soll vorerst darin bestehen, eine glaubwürdige und attraktive Kommunikationspolitik zu entwickeln. Schwerpunkte ihrer Aktivitäten werden weiterhin eine, allerdings neu zu konzipierende Informationsplattform, Länderaktionen sowie die Teilnahme an wichtigen Ereignissen (z.B. Weltausstellungen) bilden. Zur Erfüllung ihrer Aufgabe soll die beim EDA verbleibende PRS wesentlich mehr Mittel erhalten als die bisherige KoKo; vorgesehen ist unter anderem eine Verdoppelung des bisher fünf Personen umfassenden Mitarbeiterstabs. Der Bundesrat beantragte einen Budgetrahmen von 46,4 Mio Fr. für die nächsten vier Jahre [17].
Im Nationalrat unterlag zuerst ein Nichteintretensantrag Schlüer (svp, ZH), der bemängelte, dass damit neben den schon bestehenden bundeseigenen oder subventionierten Stellen, die sich mit der internationalen Verbreitung der Kenntnisse über die Schweiz befassen (Pro Helvetia, Seco, Radio Schweiz International, Tourismus Schweiz) noch eine neue Agentur geschaffen werden soll. Etwas knapper (94:63 Stimmen) wurde auch ein Rückweisungsantrag Kofmel (fdp, SO) abgelehnt, der die neue Agentur über ein Globalbudget und einen Leistungsauftrag führen wollte und das Schwergewicht der Tätigkeit der neuen PRS bei der Koordination der Aktivitäten der im Antrag Schlüer erwähnten Institutionen sah. Nachdem in der Detailberatung noch spezifiziert worden war, dass die PRS Kontakte mit schweizerischen Firmen im Ausland, Auslandschweizerorganisationen und schweizerischen Delegationen bei internationalen Organisationen pflegen muss, nahm der Nationalrat die Vorlage mit 106:17 Stimmen an, wobei die Opposition aus dem Lager der SVP stammte [18].
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Totalrevision der Bundesverfassung
Am 18. April fand die Volksabstimmung über die neue, totalrevidierte Verfassung statt. Mit Ausnahme von links- und rechtsextremen Kleinparteien (PdA, FP, SD) sprachen sich alle nationalen Parteien und auch alle massgeblichen Interessenverbände für die neue Verfassung aus. Unter den Regierungsparteien fiel der Entscheid bei der SVP am knappsten aus: die von den Zürcher Nationalräten Hans Fehr und Schlüer angeführte Opposition unterlag an der Delegiertenversammlung mit 185:92 Stimmen. Für die rechtsbürgerlichen Kritiker ging die Reform über eine Nachführung hinaus. Sie sei vielmehr Ausdruck eines unakzeptablen, von der politischen Mitte und der Linken geprägten Politikverständnisses. Die Sektion Zürich der SVP und in ihrem Gefolge auch diejenigen von Kantonen, wo die SVP erst in den letzten Jahren gegründet worden ist (unter anderem BS, LU, SO, SG), gaben die Nein-Parole aus. Bei der SP, deren Fraktion die neue Verfassung anlässlich der parlamentarischen Verhandlungen ebenfalls heftig kritisiert hatte, entschied sich der Parteivorstand mit 34:3 Stimmen für die Ja-Parole. Die von Nationalrat Rennwald (JU) formulierte Kritik bemängelte das Fehlen von linken Politikinhalten, also gerade das Gegenteil von dem, was der Verfassung von SVP-Seite vorgeworfen wurde [19].
In der Kampagne schlugen die Wellen nicht sehr hoch. Auf Befürworterseite fiel vor allem der grosse Einsatz des aus dem Amt scheidenden Justizministers Koller auf. Im redaktionellen Teil der Presse war die Stimmung durchwegs positiv, hingegen waren praktisch keine Inserate für die neue Verfassung auszumachen. Die nicht zuletzt in Leserbriefen sehr aktiven Gegner behaupteten, dass sich die Schweiz mit der Verfassung internationalem Recht unterstellen würde (weil darin der auch bisher geltende Vorrang des Völkerrechts nun explizit erwähnt ist), sie zu einem Ausbau des Sozialstaats führe und sich überhaupt die alte Verfassung bewährt habe. In den Inseraten sprachen sie vor allem davon, dass die neue Verfassung eine „Liquidation der Schweiz“ einleiten würde; zudem stellten sie darin auch eine ganze Reihe von schlicht falschen Behauptungen auf (z.B. dass in der neuen Verfassung die Begriffe „Schweizerische“ und „Eidgenössische“ gestrichen worden seien). Neben den erwähnten SVP-Kantonalsektionen, der FP und den SD beteiligten sich auch weit rechtsaussenstehende Organisationen wie der VPM (mit der ihm nahestehenden Zeitschrift „Zeit-Fragen“) und „Pro Libertate“ an der Kampagne [20].
Volk und Kantone hiessen die totalrevidierte Bundesverfassung am 18. April mit einer relativ knappen Mehrheit von 59,2% und bei 122/2 gegen 84/2 Ständestimmen gut. Die Beteiligung fiel mit 35,9% recht mager aus; besonders niedrig war sie in der Romandie, wo nur gerade 21,6% von ihrem Stimmrecht Gebrauch machten. Mitverantwortlich dafür war sicher auch der Beschluss des Bundesrates, diese Vorlage in Anbetracht ihrer besonderen Bedeutung allein, d.h. nicht im Multipack mit anderen, für die Stimmbürgerinnen und -bürger attraktiveren Vorlagen zu präsentieren. Am meisten Ja-Stimmen gab es in der französischen Schweiz (mit Ausnahme des Wallis) und im Tessin. Ähnlich deutlich fiel die Zustimmung auch in den Grossstädten der Deutschschweiz aus. Gegen die totalrevidierte Verfassung sprachen sich die kleinen Kantone der Innerschweiz (ohne Zug), die Ostschweiz (ohne Graubünden) sowie der Aargau und das Wallis aus [21].
Bundesbeschluss über die Neue Bundesverfassung
Abstimmung vom 18. April 1999

Beteiligung: 35,9%
Ja: 969 310 (59,2%) / 122/2 Stände
Nein: 669 158 (40,8%) / 84/2 Stände

Parolen:
Ja: SP, FDP, CVP, SVP (8*), LP, LdU, EVP, EDU (1*); SGB, CNG, Vorort, SGV, SBV.
Nein: FP, SD, PdA; Centre patronal.

* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Die unmittelbar nach der Volksabstimmung durchgeführte Repräsentativbefragung Vox zeigte, dass die neue Verfassung von den Sympathisanten der SP am besten unterstützt worden war, und dass sie auch bei den Anhängern der FDP und der CVP sehr klare Mehrheiten fand. Deutliche Nein-Mehrheiten ergaben sich dagegen bei den Sympathisanten der SVP und bei Personen, die sich auf einer Links/Rechts-Skala als weit rechts stehend einordnen. Die zum Teil unwahren Behauptungen in der Propaganda der Kritiker der neuen Verfassung hatten bei den Nein-Stimmenden offenbar ihre Wirkung entfaltet: In einer offenen Frage nach den Gründen für den Entscheid wurde von den Gegnern am häufigsten die Angst vor einer Auflösung der schweizerischen Staatsbürgerschaft und am zweithäufigsten die Angst vor dem Verlust der Unabhängigkeit der Schweiz angegeben [22].
Im August legte der Bundesrat dem Parlament eine Botschaft mit einer Serie von technischen und redaktionellen Änderungen von Gesetzen und eingereichten Volksinitiativen vor, um diese formal an die neue Bundesverfassung anzupassen. Da es sich dabei nicht um materielle Neuerungen handelt, werden sie hier nicht einzeln aufgeführt. Das Parlament verabschiedete sie diskussionslos bei bloss einigen Gegenstimmen resp. Enthaltungen im Nationalrat, vor allem aus den Reihen der Freiheits-Partei. Der Bundesrat setzte die neue Bundesverfassung auf den 1. Januar 2000 in Kraft  [23].
Von den beiden im ursprünglichen Totalrevisionsvorhaben enthaltenen Reformpaketen Justizreform und Volksrechte konnte beim ersten die parlamentarische Behandlung abgeschlossen werden, während das zweite aufgegeben wurde (siehe dazu unten, Teil I, 1c, Gerichte resp. Volksrechte).
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Kantonale Verfassungsrevisionen
Als Zweitrat genehmigte auch der Nationalrat die am 14. Dezember 1997 vom Volk angenommene totalrevidierte Verfassung des Kantons Tessin [24]. Die Bundesversammlung hiess im Berichtsjahr ferner die teilrevidierten Verfassungen der Kantone Luzern, Nidwalden, Glarus, Basel-Land, Schaffhausen, Appenzell Ausserrhoden, Graubünden und Aargau und später auch noch diejenigen von Zürich, Obwalden, Solothurn, Waadt und Genf gut [25].
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Weiterführende Literatur
Arend, Michael / Lamprecht, Markus / Stamm, Hanspeter, Die Wahrnehmung der Schweiz im Ausland, Zürich 1999.
Benini, Aldo, Modern Switzerland, Boston (McGraw-Hill College) 1999.
Bergier, François, Die Schweiz in Europa. Zeitgemässe Gedanken eines Historikers, Zürich 1998.
Du Bois, Pierre, Alémaniques et Romands entre unité et discorde, Lausanne 1999.
Kaufmann, Eric / Zimmer, Oliver, „In search of the authentic nation: landscape and national identity in Canada and Switzerland“, in Nations and Nationalism, 1998, 483-510.
Klöti, Ulrich e.a. (Hg.), Handbuch der Schweizer Politik, Zürich 1999.
Leimgruber, Walter e.a. (Hg.), Goldene Jahre. Zur Geschichte der Schweiz seit 1945, Zürich 1999.
Linder, Wolf, Schweizerische Demokratie: Institutionen – Prozesse – Perspektiven, Bern (Haupt) 1999.
Linder, Wolf, „Das politische System der Schweiz“, in Wolfgang Ismayr (Hg.), Die politischen Systeme Westeuropas, Opladen 1999 (2., aktualisierte Aufl.), S. 455-87.
Ribeau José, Es war einmal die Schweiz... Ein Plädoyer, Bern 1999.
(Siehe auch die diversen Ansprachen der Bundesräte in Documenta, 1999).
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Albers-Schönberg, Heinz, Hat die Schweiz den Krieg verlängert? Handels-, Gold- und Verkehrspolitik gegenüber Deutschland im Zweiten Weltkrieg, Zürich 1999.
Braillard, Philippe, Die Schweiz im Fadenkreuz, Zürich 1999.
Halbrook, Stephen, Die Schweiz im Visier. Die bewaffnete Neutralität der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, Stäfa 1999 (Übersetzung der 1998 erschienenen englischen Ausgabe).
Kreis, Georg, Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Ihre Antworten auf die Herausforderungen der Zeit, Zürich 1999.
Lambelet, Jean-Christian, Le mobbing d’un petit pays: onze thèses sur la Suisse pendant la deuxième guerre mondiale, Lausanne 1999.
Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (Hg.), Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus, Bern 1999.
Weill, Pierre, Der Milliarden-Deal, Zürich 1999.
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Aubert, Jean-François, „Regards sur la nouvelle Constitution fédérale“, in Plädoyer, 1999, Nr. 5, S. 41-47.
Betschart, Hedy, „Strukturreformen im Rahmen der Ostschweizer Kantonsverfassungen“, in Gesetzgebung heute, 1999, Nr. 2, S. 41-59.
Chablais, Alain, „Constitutions cantonales: Le point sur les révisions totales“, in Gesetzgebung heute, 1999, Nr. 1, S. 67-82.
Ehrenzeller, Bernhard, „10 Jahre solothurnische Kantonsverfassung“, in Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht, 1999, S. 553-70.
Häberle, Peter, „Die Kunst der kantonalen Verfassungsgebung – das Beispiel einer Totalrevision in St. Gallen (1996)“, in Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, 47/1999, S. 149-170.
Koller, Arnold, Verfassungsfragen im Falle eines EU-Beitritts, St. Gallen (Uni) 1999.
Sitter-Liver, Beat (Hg.), Herausgeforderte Verfassung. Die Schweiz im globalen Kontext, Freiburg 1999 (17. Kolloquium der SAGG, 1997).
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[1] BaZ und NZZ, 1.4.99; vgl. SPJ 1998, S. 14 ff. Zur Einsetzung der Task Force siehe SPJ 1996, S. 119 f.1
[2] Lit. Unabhängige Expertenkommission; Presse vom 11.12.99. Siehe auch die Erklärung des BR dazu in Documenta, 1999, Nr, 4, S. 2. Vgl. SPJ 1998, S. 15. Anlass zu wissenschaftlicher Kritik boten auch zwei Schlussfolgerungen des Berichts: a) dass die Schweiz mit der von ihr geförderten Einführung des J-Stempels die Ausreise der Juden aus Deutschland in andere Länder behindert habe, und b) dass zur Zeit der totalen Grenzschliessung (August 1942) den eidgenössischen Behörden die deutsche Politik der systematischen Vernichtung aller Juden bekannt gewesen sei (vgl. Presse vom 11.12.99 und NZZ, 14.2. und 20.4.00).2
[3] Vgl. dazu unten, Teil I, 4b (Geld- und Währungspolitik) sowie SPJ 1998, S. 17. BR: TA, 24.6.99.3
[4] Hans Hirter, Wahlen 99. Selects, Bern 2000, S. 25 ff. Vgl. SPJ 1998, S. 18. Wegen anderer Frageformulierung lassen sich die Prozentwerte mit der im Vorjahr erwähnten Umfrage nicht direkt vergleichen.4
[5] Presse vom 23.1. und 27.1.99; SPJ 1998, S. 18.5
[6] BaZ und Blick, 24.2.99 (Finanzen); Presse vom 30.6.99 (Baubeginn).6
[7] Presse vom 5.8. und 6.8.99.7
[8] Presse vom 12.8. und 17.8.99. Siehe dazu auch die Debatten im StR (Amtl. Bull. StR, 1999, S. 434 ff. und 933 ff.).8
[9] Presse vom 25.9.99. Siehe dazu auch BR Couchepin in Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1946 ff.9
[10] Rücktritte: Presse vom 28.9.99. Strategischer Ausschuss: Presse vom 29.9. und 30.9.99.10
[11] Couchepin: LT, 30.9.99. Steinegger: NZZ, 11.10. und Presse vom 12.10.99. Komitee: 16.10.99; BaZ, 21.10.99; SZ, 16.10.99. Der weitgehend entmachtete bisherige Strategische Ausschuss existierte unter dem Namen „Assemblé générale de l’Expo“ weiter (NF, 30.11.99).11
[12] BBl, 1999, S. 9194 ff.; Presse vom 5.10.99; TA, 9.10.99. Zu den Ausstellungsprojekten des Bundes siehe Bund und LT, 7.4.99; NZZ, 4.11.99. Zur Beteiligung der KMU siehe BaZ, 17.10.99.12
[13] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2399.13
[14] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2397 ff.; Amtl. Bull. StR, 1999, S. 1142 ff.; BBl, 1999, S. 141 f.14
[15] Modelle: Presse vom 3.3.99 (siehe v.a. BaZ und NZZ); Blick, 29.12.99. Ausstellungsteile: Presse vom 4.5.99. Vgl. dazu SPJ 1998, S. 18.15
[16] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1798 f. Vgl. auch LT, 13.8.99. Zum schweizerischen Projekt siehe NZZ, 15.4.99 sowie SPJ 1998, S. 19.16
[17] BBl, 1999, S. 9559 ff.; NZZ, 9.9.99. Vgl. SPJ 1998, S. 18.17
[18] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2421 ff.18
[19] TA, 22.2. (DV-SVP) und 17.4.99; NZZ, 22.2.99 (SP).19
[20] NZZ und TA, 26.3.99; TA, 6.4. und 4.10.99 sowie BaZ, 13.4.99 (VPM etc.); SZ, 13.4.99 und AZ, 17.4. 99 (Inserate). Dieses über das übliche Mass von Abstimmungspropaganda hinausgehende Verdrehen von Tatsachen durch die Gegner rief in der letzten Woche vor der Abstimmung den Bundesrat mit einer Gegendarstellung auf den Plan (Blick und NZZ, 15.4.99).20
[21] BBl, 1999, S. 5986 f.; Presse vom 19.4.99; NZZ, 15.5.99.21
[22] Delgrande, Marina / Linder, Wolf, Vox. Analyse der eidgenössischen Abstimmung vom 18. April 1999, Bern 1999.22
[23] BBl, 1999, S. 7922 ff.; Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1811 ff., 1958 und 2317 ff.; Amtl. Bull. StR, 1999, S. 820 ff. und 997. Zur Inkraftsetzung siehe auch NZZ, 31.12.99.23
[24] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 74 f.; BBl, 1999, S. 2586. Vgl. SPJ 1998, S. 23.24
[25] BBl, 1999, S. 2514 ff. resp. 5397 ff.; Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1043 f. resp. 2601; Amtl. Bull. StR, 1999, S. 417 f. resp. 890 f.; BBl, 1999, S. 5181 f. resp. BBl, 2000, S. 131 f.25
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