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Allgemeine Chronik
Überblick
Die wichtigsten politischen Ereignisse des Berichtsjahres stellten die Parlamentswahlen und die anschliessend erfolgte Umbildung der Regierung dar. In der Gesamterneuerungswahl für den Nationalrat gelang es der SVP, ihren grossen Erfolg von 1999 zu wiederholen und noch einmal – zumindest für schweizerische Verhältnisse – massive Stimmenanteil- und Sitzgewinne zu erzielen. Mit einer Wählerstärke von 26,7% erreichte sie einen Wert, der seit 1955 (SP mit 27%) von keiner anderen Partei erzielt worden war. Durch ihren Vormarsch in der Romandie, wo sie in den Kantonen Genf, Neuenburg und Waadt zur stärksten bürgerlichen Partei wurde, streifte die SVP auch das Stigma ab, eine fast ausschliesslich auf die Deutschschweiz beschränkte Partei zu sein. Da ihre Gewinne zu Lasten der weniger weit rechts stehenden anderen bürgerlichen Parteien gingen und die Linke (vor allem die Grünen) ebenfalls zu den Siegerinnen zählte, konnte man von einer Polarisierung der politischen Kräfteverhältnisse sprechen.
Noch am Wahlsonntag erhob die Wahlsiegerin SVP ultimativ Anspruch auf einen der beiden Bundesratssitze der CVP. Dabei verlangte sie kompromisslos, dass ihr bei weitem populärster Exponent, der Zürcher Unternehmer und Nationalrat Christoph Blocher, und kein anderer zum neuen Bundesrat zu wählen sei. Die CVP wehrte sich vergebens gegen diese Herausforderung; die SP sicherte ihr zwar Unterstützung zu, forderte aber im Gegenzug die Mithilfe bei der Durchsetzung sozialdemokratischer Anliegen im Parlament. Dank den Stimmen der FDP wurde in der Gesamterneuerungswahl für den Bundesrat vom 10. Dezember Blocher anstelle von Ruth Metzler gewählt. Damit veränderte das Parlament nicht nur die seit 1959 bestehende Verteilung der Bundesratssitze auf die Parteien, sondern verweigerte auch zum ersten Mal seit mehr als hundert Jahren einem amtierenden Regierungsmitglied die Wiederwahl. Das Prinzip der Konkordanz im Sinne einer Beteiligung der vier grössten Parteien an der Regierungsverantwortung blieb dabei unangetastet, aber die zahlenmässige Vertretung der Parteien wurde an ihre neuen Wählerstärken angepasst. Der Eintritt von Blocher und dem am gleichen Tag zum Nachfolger des demissionierenden Kaspar Villiger bestimmten Freisinnigen Hans-Rudolf Merz in die Landesregierung fand den Beifall der Unternehmerverbände, stiess aber bei der Linken auf heftige Kritik. Empört waren Frauen, mehrheitlich – aber nicht ausschliesslich – aus dem linken Lager auch über die Tatsache, dass nach der Nichtwahl von Metzler und der erfolglosen Kandidatur der Freisinnigen Christine Beerli gegen Merz nur noch einer der sieben Bundesratssitze mit einer Frau besetzt ist.
Die seit 2002 mit der EU geführten Verhandlungen über ein zweites bilaterales Abkommen, welches unter anderem die Einbeziehung der Schweiz in die Verträge von Dublin und Schengen enthalten soll, konnten noch nicht abgeschlossen werden. Mit der grundsätzlichen Einigung über die Erhebung einer Quellensteuer auf den Erträgen von Bankkonten und anderen Anlagen von Personen mit Wohnsitz in der EU wurde aber für das umstrittenste Dossier eine von beiden Seiten akzeptierte Lösung gefunden. Die bewaffnete Intervention der USA und ihrer Verbündeten im Irak führte auch in der Schweiz zu grossen, vor allem von Jugendlichen getragenen Protestdemonstrationen. Da sich diese Intervention nicht auf ein explizites Mandat der UNO berufen konnte, wendete die Schweiz die neutralitätsrechtlichen Bestimmungen an und verweigerte Lufttransporten, welche dem Kriegseinsatz dienten, das Überflugsrecht. In einer Volksabstimmung hiess der Souverän die namentlich aus rechtsbürgerlichen Kreisen bekämpfte Armeereform (Armee XXI) mit grosser Mehrheit gut.
Im Bereich der politischen Rechte kam es im Berichtsjahr zu zwei Neuerungen. Zum einen stimmte das Volk der Einführung der „allgemeinen Volksinitiative“, welche die Umsetzung einer Volksinitiative auf Gesetzesstufe zulässt, und der Ausweitung des fakultativen Staatsvertragsreferendums zu. Zum anderen machten die Kantone erstmals von ihrem verfassungsmässigen Recht auf die Einreichung eines Kantonsreferendums Gebrauch. Ihre Opposition richtete sich gegen das vom Parlament beschlossene Steuerpaket, von welchem sie grosse Steuerausfälle befürchteten. Zu heftigen Reaktionen und zu Diskussionen über die Volksrechte führte ein Grundsatzentscheid des Bundesgerichts. Dieses hatte festgehalten, dass kommunale Entscheide über Einbürgerungsgesuche prinzipiell nicht an der Urne gefällt werden dürfen, da eine Ablehnung von Gesuchen ohne Begründung verfassungswidrig sei.
Die wirtschaftliche Lage verbesserte sich im zweiten Halbjahr etwas. Die Nationalbank sah sich aber noch nicht veranlasst, von ihrer expansiven Geldmengenpolitik abzuweichen. Der Konjunkturaufschwung blieb denn auch schwach und wirkte sich noch nicht positiv auf den Arbeitsmarkt aus, wo die Arbeitslosenquote bis zum Jahresende auf 3,9% anstieg. Mit der Verabschiedung des revidierten Kartellgesetzes leistete das Parlament einen Beitrag zu einer Stärkung des wirtschaftlichen Wettbewerbs. Die Finanzlage des Bundes sah weiterhin düster aus. Die Staatsrechnung 2003 schloss mit einem Defizit von 2,8 Mia Fr. und das Budget 2004 sah eine Zunahme des Ausgabenüberschusses auf 3,5 Mia Fr. vor.
Im Bereich der Verkehrs-, Energie- und Kommunikationspolitik wurde das Geschehen weitgehend von Volksinitiativen geprägt. Der Souverän lehnte drei Volksinitiativen aus Umweltschutzkreisen für ein Moratorium resp. die Stilllegung von Kernkraftwerken sowie für autofreie Sonntage ab. Zu zwei weiteren Volksinitiativen beschloss das Parlament Gegenvorschläge. Es weitete die sogenannte Avanti-Initiative, welche den Ausbau von überlasteten Autobahnstücken und einen zweiten Gotthardstrassentunnel fordert, um Förderungsmassnahmen für den öffentlichen Agglomerationsverkehr aus. Der von den Gewerkschaften eingereichten Initiative für die Erhaltung sämtlicher Poststellen kam das Parlament mit einer Revision des Postgesetzes weit entgegen. Dieses Vorgehen war bei der Avanti-Initiative erfolgreich, da die Automobilistenverbände ihren Vorstoss zurückzogen, nicht aber bei der Post-Initiative.
In der Sozialpolitik verabschiedete das Parlament mit der 11. AHV-Revision, der 4. IV-Revision, der 1. BVG-Revision sowie der Einführung einer Mutterschaftsversicherung mehrere Reformprojekte. Gegen die AHV-Revision und die Mutterschaftsversicherung wurden allerdings von der SP und dem SGB resp. von der SVP das Referendum ergriffen. Nicht vom Fleck kam die Reform der Krankenversicherung. Wie bereits im Vorjahr lehnte der Nationalrat die 2. Revision des KVG ab, womit das Projekt definitiv begraben wurde. War die von Bundesrat und Ständerat gestaltete Vorlage 2002 von den Bürgerlichen abgelehnt worden, so war diesmal der Widerstand der Linken ausschlaggebend. Dass ihre eigenen Rezepte aber ebenfalls nicht mehrheitsfähig sind, musste die SP in einer Volksabstimmung erfahren. Ihre Volksinitiative, welche unter anderem die Einführung von einkommensabhängigen Prämien gebracht hätte, wurde von Volk und Ständen sehr deutlich abgelehnt. Bereits lancierten die SVP und linke Organisationen aus der Westschweiz weitere Volksinitiativen zur Neuordnung der Krankenversicherung.
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