Année politique Suisse 1996 : Politique sociale / Santé, assistance sociale, sport
Gesundheitspolitik
Das Bundesamt für Gesundheitswesen wurde neu organisiert und in
Bundesamt für Gesundheit (BAG) umbenannt. Dem BAG sind in den letzten Jahren zahlreiche neue Aufgaben übertragen worden. Dementsprechend mussten Organisation und Führung angepasst werden. Insbesondere wurden die Aufgaben neu gebündelt, die Amtsleitung erweitert, die einzelnen Fachgebiete verselbständigt und teilweise umbenannt sowie die Abläufe vereinfacht
[1].
Die "Schweizerische Gesundheitsbefragung" des Bundesamtes für Statistik erlaubte erstmals, repräsentative Angaben zu
Ernährungsgewohnheiten und -bewusstsein der gesamten in der Schweiz wohnhaften Bevölkerung zu machen. Dabei zeigte sich, dass 25% der rund 15 300 befragten Personen übergewichtig sind und 5% gar als fettsüchtig bezeichnet werden müssen. Mit zunehmendem Alter nimmt der Anteil der Personen, die überdurchschnittlich viele Kilos auf die Waage bringen, zu: Bei den Männern im Alter von 50 bis 64 Jahren ist fast jeder zehnte fettsüchtig, bei den Frauen ab 65 Jahren 8%. Nach wie vor wird zuviel (vor allem rotes) Fleisch und zu wenig Gemüse und Früchte gegessen. Zu besonderer Sorge gibt der Alkoholkonsum der Bevölkerung Anlass: 20% der Bevölkerung greifen mindestens einmal pro Tag zur Bier-, Wein- und/oder Schnapsflasche; 20% der Männer und 7% der Frauen gaben an, ein Alkoholproblem zu haben. Regionale Unterschiede im Ernährungsverhalten sind kaum auzumachen, doch essen die Schweizer und Schweizerinnen im Durchschnitt etwas gesünder als die ausländische Wohnbevölkerung
[2].
Ein am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Basel entstandener Bericht analysierte den
Gesundheitszustand der weiblichen Bevölkerung in der Schweiz. Die Studie führte die bereits bekannte Tatsache, dass Frauen durchschnittlich sieben Jahre länger leben als Männer, darauf zurück, dass Frauen umsichtiger mit ihrer Gesundheit umgehen als Männer: Todesfälle durch Verkehrsunfälle, Selbsttötung, Herz- und Kreislaufkrankheiten, Lungenkrebs sowie durch übermässigen Alkoholkonsum bedingte Krankheiten treten bei Frauen weniger auf. Trotz dieser statistischen Aussagen fühlen sich Frauen offenbar kränker als Männer: Mehr Frauen als Männer schätzten ihren Gesundheitszustand als eher schlecht ein, wobei sich Frauen aus tieferen sozialen Schichten gesundheitlich als besonders belastet betrachten. Aus dieser subjektiven Einschätzung heraus konsumieren sie mehr Schlaftabletten, Beruhigungs- und Schmerzmittel als Männer. 15,3% der Frauen, aber nur 9,5% der Männer gaben an, eine derartige Substanz mindestens einmal täglich einzunehmen. Frauen konsultieren auch die Gesundheitsdienste öfter
[3].
Aufgrund einer Motion Ruffy kam Bewegung in die Diskussionen um die
aktive Sterbehilfe. Der Waadtländer SP-Nationalrat argumentierte, trotz aller medizinischer Fortschritte gebe es weiterhin unheilbare Krankheiten, welche die Würde des Menschen in schwerer Weise beeinträchtigten. Immer mehr Menschen hätten den Wunsch, selber über ihr Ende mitbestimmen zu können. Bundesrat Koller anerkannte, dass das Problem der aktiven Sterbehilfe tatsächlich weiteste Kreise beschäftige. Es sei ein heikles Problem, das letzte ethische Entscheidungen abverlange. Dem Bundesrat scheine aber beim jetzigen Stand der Diskussionen die aktive Sterbehilfe nicht vereinbar mit der Schutzpflicht des Staates, weshalb er dem Wunsch des Motionärs nach einer Aufhebung des Verbots der aktiven Sterbehilfe im Strafgesetzbuch nicht zustimmen könnte. Sollte der Rat das Begehren jedoch in der Form des Postulates verabschieden, so werde der Bundesrat eine Fachkommission einsetzen, um verlässliche Grundlagen für eine Entscheidfindung in diesem Bereich zu haben. Der Rat folgte dem Bundesrat und überwies das Postulat mit 89 zu 30 Stimmen
[4].
110 Jugendliche zwischen 15 und 20 Jahren nehmen sich in der Schweiz im Durchschnitt pro Jahr das Leben. Die Schweiz liegt damit in der europäischen Rangliste der
Jugendsuizidrate hinter Finnland auf Rang zwei. Die Zahl der Selbsttötungen von Jugendlichen entspricht in etwa derjenigen der Todesopfer im Strassenverkehr in dieser Altersstufe. Als erster Kanton eröffnete Genf ein Zentrum für selbstmordgefährdete Jugendliche. Hier soll jungen Menschen nach einem Selbsttötungsversuch Hilfe angeboten werden. Damit hoffen die Fachleute zu verhindern, dass die Betroffenen rückfällig werden. Nach Bordeaux in Frankreich ist dies das zweite Zentrum dieser Art in Europa
[5].
Eine Interessengemeinschaft
"für freie Arzt- und Spitalwahl" lancierte Ende Jahr eine entsprechende Volksinitiative, welche die Chancengleichheit von öffentlichen, subventionierten und privaten Spitälern fordert. Im Vorstand sitzen unter anderem der Direktor des privat geführten Paraplegikerzentrums Nottwil (LU) sowie Nationalrat Suter (fdp, BE). Die Initiative wird unterstützt von der Schweizerischen Vereinigung der Privatkliniken, der Schweizerischen Vereinigung der Belegärzte und der Stiftung Patientenorganisation
[6].
Wie das Bundesamt für Statistik (BFS) vorrechnete, haben sich zwischen 1985 und 1995 die Kosten im Gesundheitswesen auf 35,1 Mia Fr. erhöht und damit fast verdoppelt. Während die Konsumentenpreise in diesem Zeitraum nur um 32,2% anzogen, schnellten allein die Spitalleistungen um 75,7% in die Höhe. Die ärztlichen Leistungen wurden demgegenüber bloss um 21,8% und die zahnärztlichen Dienste um 33,5% teurer. Gemäss BFS hat die 1992 bis 1995 geltende Kostenbremse zwar keine spektakuläre Wirkung entfaltet. Zusammen mit der verlangsamten allgemeinen Teuerung leitete sie aber eine gewisse Trendwende ein. Zwischen 1992 und 1995 blieb der Index der ärztlichen Leistungen mit einem Plus von 0,4% praktisch stabil, jener der Spitalleistungen wuchs um 14,2%. 1996 setzte sich diese Entwicklung mit einem Zuwachs von 0,5% bei den Ärzten und 3,4% bei den Spitälern fort. Die Auswirkungen des neuen Krankenversicherungsgesetzes (KVG) auf die Gesundheitskosten können frühestens 1998 ermittelt werden
[7].
Der neue
Preisüberwacher Werner Marti ortete die hauptsächlichsten Transparenzprobleme bezüglich der Kosten im Gesundheitswesen nicht bei den Krankenkassenprämien, wie dies die kantonalen Sanitätsdirektoren gerügt hatten, sondern in erster Linie bei den Leistungserbringern, insbesondere bei den Spitälern. Bei seinen Stellungnahmen zu verschiedenen Tarifanpassungen von Spitälern habe er feststellen können, dass so bedeutende Parameter wie eine einheitliche Kostenrechnung, Leistungsstatistiken, Betriebsvergleiche und häufig auch Spitalplanungen fehlten. Diese Unterlagen wären aber nötig, um die Wirtschaftlichkeit eines Spitals sowie die Betriebskostenanteile aus Überkapazitäten beurteilen zu können. Gemäss Marti müssten nun die Kantone selbst die Anstrengungen für mehr Transparenz in den Spitälern verstärken, da hier zweifelsohne ein grosses Sparpotential vorhanden sei
[8].
Zur Erstellung der Spitallisten, welche das neue KVG den Kantonen vorschreibt, siehe unten, Teil I, 7c (Krankenversicherung).
Eine Studie, die ein Forscherteam unter der Leitung des Chefs des Tessiner Gesundheitsdienstes durchführte, wies nach, dass in der Schweiz bezüglich der
Operationshäufigkeit grosse Unterschiede unter den Kantonen bestehen, und dass halbprivat oder privat Versicherte sowie Personen mit geringer Schulbildung besonders oft operiert werden, Ärzte und ihre Familienangehörigen eher selten. Je nach Art der Operation variieren die Eingriffe in den verschiedenen Kantonen, ohne dass in einem bestimmten Kanton durchgehend am häufigsten operiert wird. Die Studie kam weiter zum Schluss, dass die fünf häufigsten Eingriffe - Gebärmutter-, Blinddarm-, Mandel-, Gallenstein- und Hüftgelenkoperationen - in der Schweiz zwei- bis dreimal so oft durchgeführt werden wie in Frankreich
[9].
Luzern liess als erster Kanton die Gesundheitsförderung und
Prävention systematisch auf Stärken, Schwächen, Wirksamkeit und Akzeptanz hin
untersuchen. Die Studie zeigte, dass die Gesundheitsförderung einerseits im generellen politischen Diskurs und anderseits in den Gemeinden noch stärker verankert werden sollte. Zudem müssten vermehrt klare Schwerpunkte und Ziele gesetzt sowie an die Eigenverantwortung appelliert werden. Dort, wo das individuelle Verhalten jedoch an Grenzen stosse wie etwa bei den schädlichen Umwelteinflüssen, liege es an der Gesellschaft und der Politik, bessere Rahmenbedingungen zu schaffen
[10].
Kurz nach Inkrafttreten des neuen KVG wurde bekannt, dass die Leistungsverordnung zum KVG
Ultraschalluntersuchungen bei Schwangeren nur mehr in Risikofällen vorsieht. Dies löste sowohl bei Patientinnen- und Frauenorganisationen wie auch bei den Fachärzten einen Sturm der Entrüstung aus und veranlasste das zuständige EDI, noch einmal über die Bücher zu gehen. Die Leistungsverordnung wurde per 15. Mai - und auf fünf Jahre befristet - dahingehend abgeändert, dass zwei Ultraschalluntersuchungen pro Schwangerschaft wieder zur Pflichtleistung der Kassen werden
[11].
Eine Motion Hochreutener (cvp, BE) ersuchte den Bundesrat, die Gesetzesbestimmungen über die Pflege und Betreuung zu Hause und in Heimen in der AHV, der IV, den Ergänzungsleistungen sowie der Kranken- und Unfallversicherung zu einem
Gesamtkonzept zusammenzufügen und dafür zu sorgen, dass die Leistungen des Bundes und der Sozialversicherungen mit jenen der Kantone koordiniert werden; dabei soll insbesondere darauf geachtet werden, dass Personen, welche bereit sind, die Pflege von Angehörigen oder anderen Personen zu übernehmen, unterstützt und zeitweise entlastet werden. Da der Bundesrat auf bereits laufende oder vorgesehene Arbeiten (3-Säulen- und IDA-FiSo-Bericht, 4. EL-Revision) verweisen konnte, wandelte der Nationalrat die Motion in ein Postulat um
[12].
Seit dem Inkrafttreten des neuen KVG gehen die rein pflegerischen Leistungen im Spitex- und Pflegeheimbereich zu Lasten der Krankenkassen. Das verleitete einzelne Kantone dazu, ihr finanzielles Engagement zu reduzieren und dafür Spitextarifen von bis zu 100 Fr. pro Tag zuzustimmen. Bei rund 70 000 pflegebedürftigen Menschen würde dies jährliche Kosten von 2,6 Mia Fr. verursachen, was
rund 15% der Kosten in der Grundversicherung entsprechen und zu weiteren massiven Prämienschüben führen würde. Die Krankenversicherungen kritisierten, es gehe nicht an, den Kassen auch die Kosten für Altersgebrechen, die keine eigentlichen Krankheiten seien, aufzuladen. Sie appellierten deshalb an die Patienten und Angehörigen sowie die öffentliche Hand, weiterhin ihren Teil der Pflegekosten zu übernehmen, wenn sie nicht den Zusammenbruch des Krankenversicherungssystems riskieren wollten
[13].
Der Bundesrat setzte die
Verordnung für Medizinprodukte auf den 1. April in Kraft. Als Medizinprodukte gelten etwa Herzschrittmacher, künstliche Gelenke, Röntgenapparate und Kontaktlinsen. Die Verordnung legt die Anforderungen bezüglich Sicherheit, Wirksamkeit und Zuverlässigkeit fest. Im Gegensatz zu den Arzneimitteln bestanden für Medizinprodukte bisher in der Schweiz keine umfassenden Qualitätsstandards. Verschiedene Ereignisse, wie etwa die Diskussion um die Sicherheit von Silikon-Implantaten, machten die Notwendigkeit einer umfassenden Regelung der Medizinprodukte deutlich
[14].
Ausgehend von der revidierten Verordnung über die Arzneimittelpreiskontrolle, welche auf den 1. Januar 1996 in Kraft trat, nahm das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) die Preise von rund 280 Präparaten unter die Lupe. Kernpunkt des neuen Vorgehens ist ein
Preisvergleich mit Deutschland, Dänemark und den Niederlanden. In einer ersten Überprfüfung wurden für 70 ältere, patentabgelaufene Medikamente die Preise gesenkt, gleichzeitig aber für 90 neuere Arzneimittel Preiserhöhungen vorgenommen, da diese Produkte im internationalen Vergleich zu billig abgegeben würden. Nach dem gleichen Vorgehen werden bis zum Jahr 2000 alle Medikamente verbilligt, die vor 1985 auf den Markt gekommen sind. Das soll zu Einsparungen von gut 500 Mio Fr. führen; der verbesserte Patentschutz auf den neueren Medikamenten wird demgegenüber mit rund 70 Mio Fr. zu Buche schlagen
[15].
Preisüberwacher Marti nahm mit Genugtuung von den Preissenkungen Kenntnis, kündigte aber an, dass er die Preiserhöhungen noch einmal auf ihre Verordnungskonformität anschauen werde. Bundesrätin Dreifuss schloss sich dem an und wies das BSV an, die Preiserhöhungen noch einmal zu überprüfen und dabei auch die übrigen Kriterien der Verordnung (medizinisches Bedürfnis, Zweckmässigkeit, Zuverlässigkeit und Wirtschaftlichkeit) anzuwenden. Inskünftig soll es dem BSV untersagt sein, automatische Preiserhöhungen von Amtes wegen vorzunehmen; zudem muss es
Preiserhöhungen der Preisüberwachung unterbreiten, damit diese ihr Empfehlungsrecht wahrnehmen kann. Ein überwiesenes Postulat Hochreutener (cvp, BE) bemängelte überdies die Preisverzerrungen, die wegen der gewählten Methode (Vergleich des Publikumspreises) enstanden seien und regte an, inskünftig auf einen Vergleich der Herstellerpreise abzustellen
[16].
Die Absicht der Krankenkassen Helvetia und Visana, zur Senkung der allgemeinen Gesundheitskosten inskünftig einen Teil der
Medikamente per Post und unter Ausschluss der Apotheken zu vertreiben, stiess beim Schweizerischen Apothekerverein (SAV) auf harsche Kritik. Der SAV verlangte ein gesamtschweizerisches Verbot derartiger Praktiken, da ein Medikamentenversandhandel fachlich unvertretbar, patientenfeindlich, gesetzeswidrig und unwirtschaftlich sei. Der SAV schlug stattdessen ein neues Abgeltungssystem vor, bei dem die Apotheker wirtschaftliche Anreize erhalten sollen, um Medikamentenkosten einzusparen
[17].
Der Nationalrat nahm in seiner Herbstsession mit Zustimmung des Bundesrates eine Motion Heberlein (fdp, ZH) an, wonach das Verbot der
Medikamentenwerbung an Radio und Fernsehen weiter gelockert werden soll. Die Liberalisierung war aus Kreisen der Ärzteschaft, der Apotheker und der Konsumenten kritisiert worden, da sie einen Anstieg des Medikamentenkonsums befürchteten. Auch die beiden betroffenen Bundesämter BAG und Bakom hatten sich gegen eine Lockerung ausgesprochen
[18].
Mit Besorgnis wurde registriert, dass sich über
Internet problemlos - und oftmals zu deutlich tieferen Preisen - Arzneimittel bestellen lassen, die im eigenen Land nicht zugelassen sind oder für die ein entsprechendes Rezept eines Arztes fehlt. Nationale Kontrollstellen und Vorschriften werden so obsolet, da sie ohne weiteres umgangen werden können. Die juristische Lücke soll demnächst geschlossen werden. Europaweit laufen Anstrengungen für ein generelles Teleshopping-Verbot für Medikamente
[19].
Seit dem 1. Januar des Berichtsjahres gelten für medizinische
Versuche in der ganzen Schweiz strengere Normen, welche die Interkantonale Kontrollstelle für Heilmittel (IKS) gemäss internationalen Richtlinien festgesetzt hat. Danach müssen alle Versuche, bei denen Medikamente eingesetzt werden, genau dokumentiert sein. Im Gesuch muss unter anderem beschrieben werden, welche Risiken die verwendeten Substanzen mit sich bringen, wie die Patienten informiert wurden und welcher Versicherungsschutz für die Probanden besteht
[20].
Die IKS wird auf Anfang 1997 das sogenannte Fast-Track-Verfahren einführen für die
beschleunigte Registrierung von Arzneimitteln, die bei einer schweren Krankheit (Aids, Krebs, Alzheimer und Multiple Sklerose), für die es bisher keine befriedigende Behandlung gibt, eine erfolgreiche Heilung oder zumindest eine markante Verbesserung des Gesundheitszustandes versprechen. Mit dem Schnellverfahren folgt die IKS entsprechenden Bestrebungen in der EU und in den USA
[21].
In der Differenzbereinigung beim
dringlichen Bundesbeschluss über die Kontrolle von Blut, Blutprodukten und Transplantaten schloss sich der Nationalrat diskussionslos der Ansicht des Ständerates an, wonach es im jetzigen Zeitpunkt nicht sinnvoll sei, die Entnahme von Organen zur Transplantation von der schriftlichen Zustimmung des Spenders abhängig zu machen. Diese Frage soll erst in einem eigentlichen Transplantationsgesetz angegangen werden. Damit konnte der auf zehn Jahre befristete Bundesbeschluss mit grossem Mehr verabschiedet werden. Er unterstellt bis zum Vorliegen eines eidgenössischen Heilmittelgesetzes die Kontrolle von Herstellung und Handel mit Blutprodukten und Transplantaten der alleinigen Kompetenz des BAG
[22].
Das EDI nahm den während der Beratungen des Bundesbeschlusses mehrfach geäusserten Wunsch nach einer raschen
Ausarbeitung eines Transplantationsgesetzes umgehend auf und gab Ende August als ersten Schritt einen entsprechenden Verfassungsartikel (Art. 24decies BV) in die Vernehmlassung. Dieser ermächtigt den Bund, über den Umgang mit menschlichen und tierischen Organen, Geweben und Zellen Vorschriften zu erlassen, wobei er für den Schutz der Menschenwürde, der Persönlichkeit und der Gesundheit sorgen muss. Er gewährleistet insbesondere eine gesamtschweizerische, unentgeltliche und gerechte Zuteilung von menschlichen Organen, Geweben und Zellen. Bis jetzt gelten in diesem sensiblen medizinisch-ethischen Bereich teilweise allgemeine Regeln und Grundsätze, teilweise kantonale Regelungen sowie private Richtlinien, beispielsweise jene der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMV)
[23].
Über die Notwendigkeit einer einheitlichen Regelung des Umgangs mit Organen, Geweben und Zellen waren sich die
Parteien, die Vereinigung der Schweizer Ärzte
FMH und die
SAMV einig und meinten, das unvollständige Regelwerk in 20 Kantonen sei nicht mehr zeitgemäss. In bezug auf den Umfang der künftigen Bundeskompetenz und in der Frage der
Xenotransplantation (Organübertragung vom Tier auf den Menschen) gab es allerdings Differenzen. Die CVP plädierte ohne weitere Einschränkungen dafür, die Xenotransplantation in die Regelungskompetenz einzubeziehen. Die SP hingegen hielt ein Moratorium zumindest für Organe jener Tiere für angebracht, die zum Zweck der Organspende genetisch verändert worden sind. Die FMH betonte, dass die Regelung der Zuteilung keinesfalls auf menschliche Organe beschränkt werden dürfe; falls nämlich Xenotransplantationen einmal erlaubt würden, sei nicht auszuschliessen, dass es auf dem freien Markt zu ethisch unhaltbaren Situationen komme. Die SAMW schlug vor, den Artikel über die Verwendung der Organe, Gewebe und Zellen explizit auf den humanmedizinischen Bereich zu beschränken. Alle Parteien befürworteten die Konzentration der Eingriffe auf einige wenige Zentren, wobei die SP dem Bundesrat eine Koordinationsbefugnis zur Schaffung von Transplantationszentren in den öffentlichen Spitälern erteilen möchte
[24].
Der
Basler Appell gegen Gentechnologie verlangte ein sofortiges Moratorium für Xenotransplantationen. Die Übertragung tierischer Organe in den Menschen berge unabsehbare Gefahren für die ganze Menschheit in sich. Bevor gentechnisch veränderte Organe von Tieren - namentlich von Schweinen und Pavianen - in Menschen eingepflanzt werden, müssten erst die Risiken sorgfältig abgeklärt und auch ethische Fragen diskutiert werden
[25]. Thematisiert wurde auch der problematische Umgang mit menschlicher Plazenta, welche seit Jahren ein begehrter Rohstoff der Kosmetik- und Heilmittelindustrie ist. Hier wurde insbesondere auf die Gefahr einer Ansteckung mit der dem Rinderwahnsinn (BSE) verwandten Creutzfeldt-Jakob-Krankheit hingewiesen
[26].
Im Juni leitete der Bundesrat dem Parlament den Entwurf für ein Fortpflanzungsmedizingesetz zu, das sich als indirekten Gegenvorschlag zur hängigen Volksinitiative "für menschenwürdige Fortpflanzung" versteht, welche die Zeugung ausserhalb des Körpers der Frau und via Keimzellen Dritter verbieten will. Der Bundesrat empfiehlt diese Initiative zur Ablehnung, da sie unverhältnismässig sei und einem Alleingang der Schweiz in Europa gleichkäme.
In der stark umstrittenen Frage der
Embryonenforschung schlägt der Bundesrat eine relativ harte Gangart an, indem pro Behandlungszyklus höchstens drei Embryonen entnommen und befruchtet werden dürfen; damit soll verhindert werden, dass überzählige Embryonen entstehen, welche der Forschung zugeführt werden könnten. Zudem wird die Konservierung von Embryonen untersagt. Dennoch will der Bundesrat die Embryonenforschung nicht gänzlich verbieten, da sie auch die Methode der
Befruchtung im Reagenzglas weiter könnte verbessern helfen. Diese überaus heikle ethische Frage soll nach Meinung der Landesregierung in der Gesetzgebung zur Forschung geregelt werden; bis dahin gelten die Empfehlungen der Akademie der medizinischen Wissenschaften, die von Forschung an Embryonen abrät
[27].
Definitiv nichts wissen will der Bundesrat von der Anwendung von Gentechnik bei Embryonen, weshalb auch die
Präimplantationsdiagnostik verboten werden soll, da sonst die Grenzziehung zwischen erlaubter Prävention und unerwünschter Selektion kaum mehr möglich wäre. Wie bereits im Vorentwurf werden Eispende und Leihmutterschaft untersagt und die Fortpflanzungshilfe, welche als Ultima ratio verstanden wird, allein in den Dienst einer "natürlichen" Schwangerschaft gestellt. So kommen nur
heterosexuelle Paare, die gemeinsam die Elternverantwortung übernehmen wollen, für diese medizinische Methode in Frage. Das Paar muss verheiratet sein, wenn es einen Samenspender beansprucht; bei künstlicher Befruchtung ohne Samenspende genügt das Konkubinat. Alleinstehende und lesbische Frauen sind von der Fortpflanzungshilfe ausgeschlossen, und das Alter der zu behandelnden Paare wird nach oben (Klimakterium) begrenzt
[28].
Angesichts mehrerer anstehender Volksbegehren zu diesem Bereich - so etwa der 1993 eingereichten Volksinitiative "Zum Schutz von Leben und Umwelt vor Genmanipulation" - meldete sich die 1991 gegründete
Stiftung "Gen Suisse" vermehrt in den Medien zu Wort. Sie verwies insbesondere darauf, dass die Gentechnologie heute aus dem medizinischen Alltag nicht mehr wegzudenken sei und äusserst vielversprechende Zukunftschancen bei der Herstellung von Impfstoffen und Medikamenten eröffne. Alt Nationalrätin Eva Segmüller (cvp, SG), betonte als Vizepräsidentin der Stiftung, ethisches Handeln heisse nicht nur, die Gentechnik nach ihren sozialen und sicherheitsrelevanten Kriterien zu hinterfragen; man müsse sich vielmehr auch die Frage stellen, ob denn ein bewusster Verzicht auf zukunftsweisende Behandlungsmöglichkeiten schwerer menschlicher Leiden nicht auch ethisch nicht zu vertreten wäre. Aus diesen Gründen lehnt "Gen Suisse" jedes Verbot der Gentechnik ab, widersetzt sich aber nicht gewisser gesetzlicher Leitplanken, die Missbräuche verhindern sollen
[29].
Über 40 Persönlichkeiten aus Naturwissenschaft, Medizin, Ethik, Landwirtschaft und Politik - unter ihnen die Ständerätinnen Beerli (fdp, BE) und Simmen (cvp, SO) sowie Ständerat Plattner (sp, BS) - schlossen sich zum
"forumGEN" zusammen. Das Forum will sich an der öffentlichen Diskussion über die Bio- und Gentechnologie beteiligen und wendet sich gegen ein entsprechendes Verbot in der Schweiz
[30].
Zur Gentechnologie im ausserhumanen Bereich siehe oben, Teil I, 4c (Produits alimentaires).
Nationalrat Günter (sp, BE) versuchte mit einer Motion zu erreichen, dass ein Gesetz ausgearbeitet wird, welches die Gentestung von Personen im Zusammenhang mit
Lebens- und Krankenversicherungen verbietet. Da der Bundesrat auf bereits laufende Arbeiten einer Expertenkommission verweisen konnte, wurde der Vorstoss im Einverständnis mit dem Motionär nur als Postulat angenommen
[31].
[2]
Lit. BAG. Eine Motion Vollmer (sp, BE), die einen stärkeren Einbezug der Ernährungsinformation in die allgemeine Prävention verlangte, wurde auf Antrag des BR in ein Postulat umgewandelt (
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1184 f.). Für eine Untersuchung des Gesundheitszustandes der Waadtländer Bevölkerung siehe
JdG, 5.11.96.2
[3] Kurzbericht
Daten für Taten, Bern (Nationalfonds) 1996. Für den ausführlichen Bericht siehe
Lit. Women's. Vgl. auch C. Meier, "Annäherungen an die Definition eines frauengerechten Gesundheitsbegriffs" und E. Zemp Stutz, "Eine Frauengesundheitspolitik für die Schweiz", in
F-Frauenfragen, 1996, Nr. 3, S. 3 ff. und 13 ff.3
[4]
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 362 ff. Die Umwandlung in ein Postulat erfolgte mit Zustimmung Ruffys.
TA, 22.4. und 11.11.96;
AT, 26.4.96.4
[6]
BBl, 1996, V, S. 132 ff.;
WoZ, 29.11.96.6
[7] Presse vom 23.4.97. Siehe auch M. Moser, "Managed Care im Vormarsch", in
CHSS, 1996, Nr. 3, S. 140 ff.7
[8]
NZZ, 19.3.96;
Bund, 22.11. und 23.11.96. Siehe dazu auch K. Müller, "Kostensenkendes Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen", in
NZZ, 16.3.96. 8
[10] Presse vom 25.10.96.10
[11] Presse vom 15.2., 16.2., 12.3. und 27.4.96. Siehe dazu auch die Ausführungen des BR in
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 186 f. und in
Amtl. Bull. StR, 1996, S. 389 f. Ein Postulat Keller (sd, BL) zur weiteren Übernahme der Vorsorgeuntersuchung von schulpflichtigen Kindern wurde angenommen (
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1200 f.).11
[12]
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 2394 f.12
[13]
TA, 25.3. und 16.12.96;
SGT, 20.4.96;
SoZ, 2.6.96;
NZZ, 30.8.96;
BZ, 6.12.96. Der NR überwies ein Postulat Schmid (cvp, VS), welches den BR bittet zu prüfen, ob nicht auf die Unterstellung der Spitex-Dienste unter die MWSt verzichtet werden könnte (
Amt. Bull. NR, 1996, S. 585).13
[14] Presse vom 25.1.96;
BAG-Bulletin, Nr. 24, S. 8 f. Siehe
SPJ 1994, S. 203 f.14
[15]
Lit.
Pharmamarkt;
CHSS, 1996, Nr. 5, S. 227; Presse vom 10.4. und 19.-21.9.96. Vgl.
SPJ 1995, S. 228. Die Hersteller oder Pharmaimporteure legten gegen die Senkung von 37 Medikamentenpreisen Rekurs beim EDI ein (Presse vom 27.8.96). Erstmals verweigerte das BSV die Sanktionierung eines vom Verband für geordnete und sichere Versorgung mit Arzneimitteln ("Reglementation") vorgesehenen Medikamentenpreises (
SoZ, 9.6.96). 15
[16]
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 2408 (Postulat) und S. 2455 (Antwort auf eine Interpellation Simon, cvp, VD); Presse vom 3.10., 29.10. und 30.10.96. Die Schweizerische Patienten-Organisation und das Konsumentinnenforum verlangten ebenfalls mehr Transparenz bei den Medikamentenpreisen (
NZZ, 26.9.96). Vgl. dazu auch die Ausführungen des BR in
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1903 f.16
[17] Presse vom 23.5., 28.10. und 1.11.96;
BZ, 25.9. und 29.10.96;
SHZ, 7.11.96. In Beantwortung einer Interpellation Simmen (cvp, SO) wies der BR auf die geringen Kompetenzen des Bundes in diesem Bereich hin (
Amtl. Bull. StR, 1996, S. 728 ff.).17
[18]
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1491 ff.;
NZZ, 20.8.96; Presse vom 24.9.96. Siehe
SPJ 1995, S. 228.18
[21]
NZZ, 26.11.96. Ein beschleunigtes Verfahren ist bereits im Berichtsjahr auf Druck einzelner Kantonsregierungen bei zwei vielversprechenden Aidsmedikamenten zum Zug gekommen. Mehrere Kantone gaben überdies weitere Aidsmedikamente, die zwar zugelassen, aber noch nicht in die Spezialitätenliste aufgenommen waren, den Patienten in ihrem Kanton gratis ab, worauf ein Sonderausschuss der Eidg. Arzneimittelkommission auch diese in einem Schnellverfahren in die Liste der kassenpflichtigen Medikamente integrierte (
SoZ, 17.3.96;
NQ, 20.5.96;
NZZ, 28.5.96;
CHSS, 1996, Nr. 4, S. 162). Vgl. dazu auch ein überwiesenes Postulat Suter (fdp, BE), welches kostspielige und langwierige Doppelspurigkeiten bei der Zulassung eines neuen Medikaments beheben möchte (
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 2406).21
[22]
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 174 f. und 634;
Amtl. Bull. StR, 1996, S. 280;
BBl, 1996, S. 1338 ff.;
BZ, 27.2.96;
SGT, 6.3.96. Vgl.
SPJ 1995, S. 228 f. Mitte Jahr setzte der BR die entsprechende Verordnung in Kraft. Dabei gelten strenge Regeln für die Sorgfaltspflicht: Blutspenden wie auch Transplantate müssen auf Krankheiten überprüft und die Spenderdaten registriert werden. Aus verfassungsrechtlichen Gründen wird den Homosexuellen die Blutspende nicht mehr ausdrücklich verwehrt; mit dem Hinweis auf eine noch in der Diskussion befindliche Empfehlung des Europarates, welche Personen mit "Risikoverhalten" zur Blutspende möglicherweise nicht mehr zulassen will, bleiben homosexuelle Männer beim SRK de facto aber weiter davon ausgeschlossen (Presse vom 9.4., 10.4., 17.6., 27.6. und 29.6.96). 22
[23]
BBl, 1996, III, S. 920; Presse vom 23.8.96. Zur Praxis in den Kantonen siehe
NQ, 1.3.96. Auch Genf gab sich - gegen den Widerstand der LP - ein neues Gesetz, welches auf die Widerspruchslösung setzt (
24 Heures, 29.3.96). Vgl.
SPJ 1994, S. 205.23
[25] Presse vom 17.4.96;
TW, 30.11.96. Eine Motion Goll (frap, ZH) übernahm die Forderung nach einem zehnjährigen Moratorium. Auf Antrag des BR wurde sie mit 109:58 Stimmen abgelehnt (
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1563 ff., 1591 ff. und 1605 ff.). Siehe auch die Ausführungen des BR zu einer Interpellation von Felten (sp, BS),
a.a.O., S. 1894 f.25
[26]
Bund, 9.4.96;
NQ, 29.4.96. Auch das Zentrallabor des Schweizerischen Roten Kreuzes traf Massnahmen, um CJ-Ansteckungen über Blutprodukte möglichst auszuschliessen; Personen, in deren familiärem Umfeld eine CJ-Erkrankung vorgekommen ist, werden von der Blutspende ausgeschlossen (
Bund, 8.5.96). Zum Rinderwahnsinn siehe oben, Teil I, 4c (Production animale).26
[27] BA für Justiz, "Gutachten des Bundesamtes für Justiz zum verfassungsrechtlichen Schutz von Embryonen", in
Verwaltungspraxis der Bundesbehörden, 1996, S. 575 ff.27
[28]
BBl, 1996, III, S. 205 ff.; Presse vom 27.6.96; R. Gerber, "Bundesgesetzentwurf über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung", in
Familienfragen, 1996, Nr. 2, S. 52 ff. Siehe
SPJ 1995, S. 230. Vgl. auch die Stellungnahme des BR zur kürzlich verabschiedeten Konvention des Europarates über Menschenrechte und Biomedizin in
Amt. Bull. NR, 1996, S. 1792 ff. sowie seine Ausführungen im Rahmen der Legislaturplanung 1995-1999 (
BBl, 1996, II, S. 319).28
[29] Presse vom 27.3.96;
WoZ, 12.4.96.29
[30] Presse vom 29.7.96.30
[31]
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1789 f. Siehe dazu auch die Ausführungen des BR
a.a.O., S. 1791. Die Privatversicherer willigten in ein Moratorium bis ins Jahr 2000 ein (
Bund, 26.4.96;
NZZ, 30.4. und 18.6.96).31
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