Zuletzt aktualisiert: 16.07.2024, 14:10 Uhr

Dossier: Ungleichbehandlung von Witwen und Witwern Als PDF speichern

Ungleichbehandlung von Witwen und Witwern

Im Dezember 2020 forderte Yvonne Feri (sp, AG) in einem Postulat einen bundesrätlichen Bericht zu den Möglichkeiten zur Aufhebung der Ungleichbehandlung von Witwen und Witwern bei der AHV und der Unfallversicherung, wobei gleichzeitig «die angemessene Existenzsicherung für Hinterbliebene unabhängig von ihren Familienmodellen» garantiert werden soll. Die bisherige Regelung – wonach Männer nur bis zur Volljährigkeit ihres jüngsten Kindes eine Hinterbliebenenrente erhalten, Frauen mit Kindern oder Frauen, die nach 45 Jahren verwitweten, jedoch bis zum Erhalt der AHV – beruhe auf dem Bild eines berufstätigen Mannes und einer für den Haushalt und die Kinder verantwortlichen Frau. Nachdem der EGMR diese Sichtweise im Oktober 2020 verneint und dem Kläger Recht gegeben hatte, müsse diese Regelung nun geschlechtsneutral ausgestaltet werden. Dabei müssten jedoch Problematiken wie Eltern von erwachsenen Kindern mit Behinderungen, mit sehr kleinen Renten der beruflichen Vorsorge oder erschwertem Wiedereinstieg ins Erwerbsleben berücksichtigt werden, forderte Feri. Der Bundesrat beantragte das Postulat zur Annahme, der Nationalrat behandelte es in der Frühjahrssession 2021, nachdem es von Verena Herzog (svp, TG) bekämpft worden war. In der Nationalratsdebatte führte Yvonne Feri den Handlungsbedarf in diesem Bereich auf die veränderte gesellschaftliche Situation zurück, während Verena Herzog ebendies bestritt: Vielmehr führten die «juristischen und politischen Aktivitäten in diesem Bereich», wie eben auch das Postulat Feri, zu Unsicherheit. Dieses Thema sei zudem bereits in Bearbeitung durch den Bundesrat, durch ein Forschungsprojekt sowie durch eine parlamentarische Initiative 21.416. Schliesslich wehrte sie sich dagegen, die Ehe gleichzeitig für alle zu öffnen und durch diese Änderung zu schwächen. Mit 116 zu 48 Stimmen (bei 1 Enthaltung) nahm der Nationalrat das Postulat gegen den Willen der SVP-Fraktion an.

Pa.Iv. 21.511 und 21.512 zur Witwerrente

Sidney Kamerzin (mitte, VS) wollte mittels einer im Dezember 2021 eingereichten parlamentarischer Initiative (Pa.Iv. 21.511) das AHVG dahingehend ändern, dass Witwen und Witwer bezüglich des Rentenanspruchs bei Volljährigkeit des letzten Kindes gleichgestellt werden. Anders als bei Witwen erlösche bei Witwern der Rentenanspruch, wenn das letzte Kind die Volljährigkeit erreiche. Bei Witwen ende dieser Anspruch einzig bei einer erneuten Heirat oder im Todesfall. Diese gesetzliche Ungleichbehandlung sei heute nicht mehr zu rechtfertigen. Zudem habe der EGMR in der Vergangenheit in dieser Frage bereits «gegen die Schweiz entschieden», so der Initiant. Am gleichen Tag reichte Kamerzin eine zweite parlamentarische Initiative ein (Pa.Iv. 21.512), die ebenfalls auf die unterschiedliche Handhabung der Geschlechter beim Anspruch auf Witwen- und Witwerrente abzielte. Dort störte ihn den Umstand, dass ein kinderloser Witwer keinen Anspruch auf Hinterlassenenrente habe, eine kinderlose Witwe hingegen schon, sollte sie bei der Verwitwung über 45 Jahre alt gewesen sein und mindestens fünf Jahre verheiratet.
Anfang April 2022 gab die SGK-NR der Initiative 21.511 mit 14 zu 11 Stimmen Folge. Anderer Meinung war die SGK-SR, welche ihr im April 2023 mit 8 zu 3 Stimmen (1 Enthaltung) keine Folge gab, da sie zuerst die Reformbestrebungen des Bundesrats zur Thematik abwarten wollte. Die Vorlage des Bundesrats zur Reform der Witwen- und Witwerrente, deren Ziel es ist die vom EGMR festgestellte Ungleichbehandlung von Witwen und Witwern zu beheben, und der abweichende Entscheid ihrer Schwesterkommission veranlasste die Kommission des Nationalrats dazu, sich im April 2024 erneut mit der Initiative 21.511 auseinanderzusetzen. Dabei hielt sie an ihrem früheren Entscheid fest und beantrage, der Initiative mit 13 zu 12 Stimmen weiterhin Folge zu geben. Der zweiten Initiative 21.512 hatte die SGK-NR im April 2022 mit 11 zu 9 Stimmen (5 Enthaltungen) keine Folge geben, da sie die Vorstellung, einer kinderlosen Person Hinterlassenenrente auszuzahlen, als «überholt» empfand. Mit 98 zu 90 Stimmen (3 Enthaltungen) bestätigte der Nationalrat in der Sommersession 2022 daraufhin diesen Entscheid, womit diese Initiative erledigt war.

In der Sommersession 2024 befasste sich der Nationalrat mit der parlamentarischen Initiative von Sidney Kamerzin (mitte, VS), die Witwer und Witwen bezüglich des Rentenanspruches bei Volljährigkeit des letzten Kindes gleichstellen will. Der Initiant eröffnete seine Rede mit dem Verweis auf das Urteil des EGMR im Fall Beeler, wo das Gericht eine Ungleichbehandlung zwischen Witwen und Witwern in der Schweiz bestätigt habe. Das bestehende AHVG sei in dieser Frage vielleicht ehemals gerecht gewesen, als Frauen einen viel geringeren Zugang zu Bildung und Beruf gehabt hätten als Männer, es sei aber heute nicht mehr zeitgemäss und wirke sich dazu noch demotivierend auf den Willen aus, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Auch sei der Zeitpunkt des 18. Lebensjahres arbiträr, da Kinder häufig – gerade wenn sie studierten – auch danach noch auf Unterstützung durch den verbliebenen Elternteil angewiesen seien. Valérie Piller Carrard (sp, FR) und Melanie Mettler (glp, BE) stellten sich seitens der Kommissionsmehrheit hinter die Initiative: Die Kommissionsmehrheit erachte diese Ungleichbehandlung als unvertretbar und sehe diesbezüglich Handlungsbedarf, so dass in der Kommission nicht nur der Initiative Kamerzin Folge gegeben wurde, sondern auch der Initiative Gredig (glp, ZH; Pa.Iv. 21.416), wobei zusätzlich eine kommissionseigene Initiative (Pa.Iv. 22.426) zur Problematik lanciert worden sei. Zwar wolle man noch die Vorlage zur Teilrevision des AHVG abwarten, bevor konkrete gesetzgeberische Arbeiten vollzogen werden, dennoch erachte man es als wichtig, dass durch Folgegeben dieser Initiativen die Debatte weitergeführt werde. Eine Minderheit um Diana Gutjahr (svp, TG) forderte der Initiative keine Folge zu geben, da die Gesetzesänderung einen starken Leistungsausbau bedeute: Die SVP-Fraktion unterstütze grundsätzlich die Gleichstellung zwischen Witwen und Witwern, gerade weil dadurch die Finanzen entlastet würden. Diese Initiative wolle aber eine Rente auf Lebenszeit, was die Finanzen zusätzlich strapazieren werde. Die Abstimmung in der grossen Kammer fiel sehr knapp aus: Mit 98 zu 93 Stimmen (0 Enthaltungen) beschloss der Nationalrat, der Initiative Folge zu geben, wobei die geschlossen stimmenden Fraktionen der SVP und der FDP.Liberalen mit «Nein» votierten.