Massnahmen gegen Minderjährigenheiraten (BRG 23.057)

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Bei einer Evaluation der ZGB-Bestimmungen gegen Zwangsheiraten und Minderjährigenheiraten war der Bundesrat zum Schluss gekommen, dass für die Ungültigerklärung einer im Ausland mit einer minderjährigen Person geschlossenen Ehe oft mehr Zeit benötigt werde, als gesetzlich vorgesehen sei. Gemäss geltendem Recht kann eine solche Ehe nämlich nicht mehr für ungültig erklärt werden, wenn die minderjährig verheiratete Person volljährig geworden ist. Neu soll eine Ungültigkeitsklage bis zum 25. Geburtstag erfolgen können und die sogenannte «Heilung» der Ehe erst mit Vollendung des 25. Altersjahres – anstatt des 18. – stattfinden. Dies schlug der Bundesrat in einer Änderung des ZGB vor, die er im Sommer 2021 in die Vernehmlassung gab. Damit sollen minderjährig verheiratete Personen besser geschützt werden, schrieb die Regierung in der Medienmitteilung.

Im Dezember 2022 veröffentlichte das Bundesamt für Justiz die Vernehmlassungsergebnisse zu den vorgeschlagenen Änderungen beim Eheungültigkeitsgrund der Minderjährigkeit im ZGB. Im Zentrum der Vorlage stand die Verschiebung der sogenannten Heilung der Ehe bis zum 25. Geburtstag der minderjährig verheirateten Person. Gemäss geltendem Recht wird die Ehe bereits am 18. Geburtstag «geheilt», das heisst, sie kann dann nicht mehr für ungültig erklärt werden. An der bestehenden Interessenabwägung soll gemäss Vernehmlassungsvorlage weiterhin festgehalten werden: Die Ehe soll ausnahmsweise aufrechterhalten werden können, wenn dies dem überwiegenden Interesse der betroffenen, minderjährigen Person entspricht. Im Fall, dass die minderjährig verheiratete Person zum Zeitpunkt der gerichtlichen Beurteilung bereits volljährig – aber noch unter 25 Jahre alt – ist, soll die Ehe aufrechterhalten werden, wenn die betroffene Person aus freiem Willen erklärt, an der Ehe festhalten zu wollen. Grundsätzlich sollen Ehen mit Minderjährigen weiterhin ungültig sein; um dies zu verdeutlichen hatte der Bundesrat vorgeschlagen, die Eheungültigkeit neu in einer eigenen Bestimmung zu regeln. Die Massnahmen waren in der Vernehmlassung breit begrüsst worden. Von 56 Stellungnehmenden sprach sich nur die SVP integral gegen die Vorlage aus. Ihr ging der Vorschlag zu wenig weit; ihrer Ansicht nach sollten Minderjährigenehen aus Prinzip in keinem Fall anerkannt werden. Eine Mehrheit der Teilnehmenden regte hingegen an, weitere Massnahmen gegen Minderjährigenehen im internationalen Privatrecht vorzusehen. Kritisiert wurde von einigen Teilnehmenden, dass die Verlängerung der Klagefrist Mehrkosten und -aufwand verursache, insbesondere auch, weil bei volljährig gewordenen Betroffenen ein Gericht den freien Willen prüfen müsse.

Um die Rechte von minderjährig verheirateten Personen zu stärken, verabschiedete der Bundesrat im August 2023 eine Botschaft mit Massnahmen gegen Minderjährigenheiraten. Insbesondere wollte er mit Anpassungen im ZGB Betroffenen und Behörden mehr Zeit geben, eine Ehe, die mit einer minderjährigen Person geschlossen wurde, für ungültig zu erklären. Dies soll neu bis zum 25. Geburtstag der betroffenen Person möglich sein; bisher war das nur bis zum 18. Geburtstag möglich, danach galt die Ehe als «geheilt». Betroffene, die zum Zeitpunkt der gerichtlichen Beurteilung der Ehe bereits volljährig, aber noch unter 25 Jahre alt sind, sollen die Möglichkeit erhalten zu erklären, dass sie die Ehe fortführen wollen. Ein Gericht muss dann bestätigen, dass diese Entscheidung dem freien Willen der minderjährig verheirateten Person entspricht. Aufgrund in der Vernehmlassung vorgebrachter Anregungen, den Schutz vor Minderjährigenheiraten nicht nur im ZGB, sondern auch im internationalen Privatrecht zu stärken, nahm der Bundesrat zudem zwei Anpassungen am IPRG in den Entwurf auf: Zum einen sollen im Ausland geschlossene Ehen in der Schweiz auf keinen Fall anerkannt werden, wenn eine betroffene Person noch nicht 16 Jahre alt ist. Zum anderen sollen sogenannte Sommerferienheiraten in der Schweiz künftig wirkungslos sein, indem Minderjährigenheiraten, bei denen eine der verheirateten Personen zum Zeitpunkt der Eheschliessung ihren Wohnsitz in der Schweiz hatte, grundsätzlich nicht anerkannt werden.

Nachdem der Bundesrat im Sommer 2023 eine Botschaft mit Massnahmen gegen Minderjährigenheiraten verabschiedet hatte, begrüsste die zuständige RK-SR die Vorlage grossmehrheitlich und empfahl deren Annahme. Sie beantragte lediglich einige Präzisierungen: Wie Kommissionssprecher Daniel Jositsch (sp, ZH) im Ratsplenum ausführte, sollten Artikel 105a und 9a ZGB dahingehend präzisiert werden, dass sowohl Ehen als auch eingetragene Partnerschaften einer zwingend erforderlichen gerichtlichen Einzelfallprüfung mit Interessenabwägung der beiden inzwischen volljährigen Eheschliessenden unterliegen sollen, wenn eine der betroffenen Personen zum Zeitpunkt der Ungültigkeitsklage noch minderjährig war. Nur wenn das Gericht ein überwiegendes Interesse der noch minderjährigen Person feststellt, soll die bestehende Ehe weitergeführt werden können. So werde verhindert, dass eine vorgelagerte Behörde die Entscheidung vorwegnehmen könnte und es würden in spezifischen Einzelfällen Abweichungen von der Gesetzgebung ermöglicht, erläuterte Jositsch. Weiter beantragte die Kommission, in der Ehe-Definition von Artikel 181a StGB die religiöse Ehe explizit miteinzuschliessen, sodass diese äquivalent zur zivilen Ehe gehandhabt werde. Justizminister Beat Jans begrüsste namens des Bundesrates die vorgeschlagenen Änderungen, da diese bereits der Stossrichtung des bundesrätlichen Entwurfs entsprächen. In der Frühjahrssession 2024 unterstützte der Ständerat die Änderungsanträge seiner Kommission und nahm den so angepassten Entwurf in der Folge einstimmig an. Trotz Zustimmung in der Gesamtabstimmung hatte Marianne Binder-Keller (mitte, AG) vorgängig hingegen prinzipielle Bedenken zur richterlichen Abklärung des «freien Willens» von Ehegattinnen und Ehegatten geäussert, weil dieser bei Minderjährigenheiraten grundsätzlich nicht gegeben sei. Sie hoffte, dass ihre Bedenken von der RK-NR in deren Diskussion aufgenommen würden.

Nachdem der Ständerat im März 2024 die Massnahmen gegen Minderjährigenheiraten mit einigen kleinen Anpassungen gegenüber der Botschaft des Bundesrates angenommen hatte, behandelte in der Sommersession 2024 der Nationalrat die entsprechenden Änderungen im ZGB und IPRG. Die vorberatende RK-NR begrüsste die Vorlage mehrheitlich und empfahl deren Annahme. Der Nationalrat schuf lediglich eine Differenz zur Kantonskammer, indem er die vom Bundesrat vorgeschlagene und vom Ständerat präzisierte richterliche Interessenabwägung von noch minderjährigen Ehegatten oder Ehegattinnen auf Anraten seiner Kommissionsmehrheit aus dem Gesetz strich. Wie Mehrheitssprecherin Sibel Arslan (basta, BS) im Plenum ausführte, schwäche dieser Zusatz die geplanten Massnahmen gegen Minderjährigenheiraten. Er ermögliche Ausnahmen, die mitunter den Druck auf Minderjährige erhöhten, ein überwiegendes Interesse am Fortbestehen der Ehe auszuweisen, beispielsweise durch eine Schwangerschaft. Eine Kommissionsminderheit um Patricia von Falkenstein (ldp, BS) wollte den Zusatz beibehalten, um die Flexibilität – beispielsweise bei Eheschliessungen kurz vor dem 18. Lebensjahr – zu gewährleisten. Bundesrat Beat Jans sprach sich im Namen der Regierung ebenfalls für die Minderheit von Falkenstein aus, fand damit im Rat aber keine Mehrheit. Der Antrag auf Streichung der Interessenabwägung wurde von einer Allianz bestehend aus der SVP-Fraktion und Links-Grün mit 122 zu 65 Stimmen bei einer Enthaltung angenommen.
In der Gesamtabstimmung votierte der Nationalrat einstimmig für den Entwurf. Das Geschäft ging zur Differenzbereinigung zurück an den Ständerat.

In der Sommersession 2024 widmeten sich die beiden Räte der einzigen Differenz in der Vorlage über die Massnahmen gegen Minderjährigenheiraten. Zuerst war der Ständerat am Zug, der einstimmig an seiner Version mit richterlicher Interessenabwägung für eine allfällige Weiterführung von Ehen mit minderjährigen Personen zwischen 16 und 18 Jahren blieb. Wie RK-SR-Sprecher Jositsch (sp, ZH) erneut betonte, gehe es bei der vorliegenden Ausnahmemöglichkeit nicht um Zwangsehen – diese seien sowieso verboten –, sondern um freiwillige Eheschliessungen, die in diversen europäischen Staaten – wie beispielsweise Schottland – legal seien. Es mache keinen Sinn, hier faktisch eine Zwangsscheidung bei der Einwanderung von entsprechenden Ehepaaren in die Schweiz einzuführen. Namens des Bundesrates bekräftigte auch Justizminister Beat Jans erneut seine Zustimmung für diese Variante. Der Nationalrat blieb jedoch mit 125 zu 64 Stimmen – eine Allianz aus Links-Grün und der SVP-Fraktion überstimmte die bürgerlichen Mitteparteien – ebenfalls dabei, die vorgesehene Interessenabwägung aus dem ZGB zu streichen, um keine Ausnahmen fürs Fortbestehen von Minderjährigenheiraten zu ermöglichen.
In seiner dritten Behandlung der Vorlage ergänzte der Ständerat schliesslich eine Präzisierung des betroffenen Artikels, wonach der richterliche Entscheid zur Weiterführung der Ehe ausdrücklich als Ausnahme deklariert wird, und kam damit dem Nationalrat entgegen. Bundesrat Beat Jans zeigte sich mit dieser Präzisierung einverstanden und versprach, nach einer gewissen Zeit eine Auswertung der Auswirkungen dieser neuen Rechtslage zu veranlassen. Diese Lösung wurde folglich auch von der RK-NR mehrheitlich unterstützt, worauf der Nationalrat diesen Vorschlag einhellig guthiess. In den Schlussabstimmungen wurde das Geschäft von beiden Räten einstimmig verabschiedet.