Die Kontroverse um HIV-verseuchte Blutpräparate flackerte 1992 erneut auf. Ein AIDS-infizierter Hämophiler reichte Strafklage gegen Unbekannt ein – wobei aber klar war, dass er das BAG, die IKS und den Blutspendedienst des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) meinte –, da er durch eine Bluttransfusion mit dem HI-Virus kontaminiert worden war. Er erhielt indirekte Unterstützung vom ehemaligen Leiter des Zentrallaboratoriums des SRK, der öffentlich erklärte, Opfer wären zu vermeiden gewesen, wenn die verantwortlichen Behörden rechtzeitig gehandelt hätten. Diese Anschuldigungen führten Ende 1992 zu einer konkreten Reaktion des SRK: Es entschloss sich, unter Mithilfe des BAG, welches dies schon mehrfach angeregt hatte, ein «Look back» durchzuführen, d.h. die Blutspendenempfänger, welche zwischen 1982 und 1985 womöglich ohne ihr Wissen mit kontaminiertem Blut angesteckt wurden, durch Zurückverfolgung der kritischen Blutkonserven ausfindig zu machen. Bisher hatte das SRK dies stets mit dem Hinweis auf die grosse psychische Belastung abgelehnt, welcher nicht infizierte Blutempfänger während des Abklärungsverfahrens ausgesetzt wären, sowie mit dem Fehlen wirksamer Medikamente gegen die Infektion.

Dossier: HIV-verseuchte Blutkonserven

Erste Resultate der Ende des Vorjahres vom SRK angekündigten «Look-back»-Studie zur Ermittlung jener Personen, die vor 1985 durch eine verseuchte Blutkonserve mit dem HI-Virus kontaminiert wurden, zeigten, dass von den zwei Millionen Bluttransfusionseinheiten, die den Schweizer Spitälern zwischen 1982 und 1985 ausgeliefert wurden, 303 eventuell HIV-verseucht waren, wobei vorerst unklar blieb, wie viele von ihnen an Patienten abgegeben wurden. Zudem hatte das SRK im gleichen Zeitraum über 80 möglicherweise HIV-infizierte Blutkonserven nach New York, Griechenland und Saudiarabien exportiert. Im Spätsommer 1993 gestand das SRK erstmals ein, noch während zehn Monaten nach der Einführung eines zuverlässigen AIDS-Tests unkontrollierte Blutpräparate abgegeben zu haben. Das SRK schloss nicht aus, dass von den zwischen Juli 1985 und April 1986 ausgelieferten 5800 Fläschchen mit Gerinnungspräparaten unter Umständen rund tausend mit dem HI-Virus kontaminiert gewesen seien. Es begründete sein damaliges Vorgehen mit einem drohenden Versorgungsengpass bei den für Hämophile lebenswichtigen Produkten.

Dossier: HIV-verseuchte Blutkonserven

Ende März 1994 wurden die Ergebnisse der «Look-back»-Studie zur HIV-Infektion publiziert. Demnach haben sich zu Beginn der 1980er Jahre schätzungsweise zwischen 80 und 90 Personen über Bluttransfusionen mit dem AIDS-Virus angesteckt. 52 davon wurden vom «Look-back» erfasst, wobei in 49 Fällen die HIV-Infektion bereits vor der Durchführung der Untersuchung bekannt war. BAG und SRK mussten sich in der Folge den Vorwurf gefallen lassen, die Eruierung erst viel zu spät durchgeführt und so die Weiterverbreitung von AIDS nicht genügend konsequent bekämpft zu haben. Die Studie zeigte bedenkliche Lücken in der Dokumentation von Blutkonserven. Bei 59 von insgesamt 396 potentiell kontaminierten Chargen war der Blutspendedienst des SRK ausserstande zu sagen, an welches Spital sie geliefert worden waren. In einem Fünftel der schliesslich gut 300 in die Studie aufgenommenen Fälle konnte wegen unvollständiger, unauffindbarer oder vernichteter Dokumentation nicht mehr ausgemacht werden, ob und wem das fragliche Plasma transfundiert wurde.
Gestützt auf mehrere Anzeigen von Personen, die sich durch Blutprodukten des SRK mit dem HI-Virus angesteckt haben, eröffnete ein Genfer Untersuchungsrichter das Strafverfahren gegen den ehemaligen Leiter des SRK-Zentrallabors.

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