Volksinitiative „Gesundheit muss bezahlbar bleiben"

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Im Juni reichte die SP nach einem fulminanten Schlussspurt ihre Volksinitiative „Gesundheit muss bezahlbar bleiben“ mit 108 081 gültigen Unterschriften ein. Die sogenannte „Gesundheitsinitiative“, die gemäss SP „endlich europäische Krankenkassenprämien“ verspricht, verlangt, die obligatorische Krankenversicherung sei hälftig aus Mehrwertsteuereinnahmen und Beiträgen der Versicherten zu finanzieren; letztere sollen nicht mehr als Kopfprämien, sondern abgestuft nach Einkommen und Vermögen erhoben werden. Der genaue Mehrwertsteuerersatz würde nach einer allfälligen Annahme der Initiative den dannzumaligen Kosten entsprechend festgelegt. Ausgehend von den heutigen Gesundheitskosten wäre eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3,5 Prozentpunkte nötig. Nach Berechnungen der SP würden 80% der Prämienzahlenden entlastet.

Anfangs Oktober, bei der Präsentation der Prämienentwicklung für 2000 (+3,5% im Durchschnitt), erklärte Bundespräsidentin Dreifuss vor den Medien, das System der Kopfprämien sei an seine Limiten gestossen, und es müsse nun ernsthaft über einen Übergang zu einkommensabhängigen Beiträgen diskutiert werden. Mit diesem Vorschlag stiess sie im Bundesrat aber auf wenig Gegenliebe. Dieser beschloss im November, die SP-Initiative abzulehnen und auf die Ausarbeitung eines Gegenvorschlags zu verzichten, obgleich er anerkannte, dass die Finanzierung der obligatorischen Krankenversicherung noch Probleme aufwirft und nicht zufriedenstellend gelöst ist. Er beauftragte deshalb das EDI, verschiedene Modelle für eine Reform des Finanzierungssystems zu prüfen. Dabei soll am heutigen System der Kopfprämien grundsätzlich festgehalten werden. Bundesrat Couchepin ging sogar noch weiter und sprach sich für eine – durch das neue KVG abgeschaffte – Abstufung der Prämien in der Grundversicherung nach Alter aus. Er begründete dies nicht nur mit den höheren Kosten der älteren Generation, sondern (eigentlich ganz im Sinn von Dreifuss) auch mit deren besseren finanziellen Situation.

Obschon sich die Spirale der Gesundheitskosten wegen der nichteinkommensabhängigen Prämien vor allem für die weniger bemittelten Versicherten weiter dreht, will der Bundesrat das heutige Krankenversicherungssystem nicht umkrempeln. Seine bereits im Vorjahr angekündigten Absage an die Volksinitiative der SP „Gesundheit muss bezahlbar bleiben“ („Gesundheitsinitiative“) begründete er in seiner diesbezüglichen Botschaft ans Parlament. Die Initiative, möchte von den starren Kopfprämien, die einzigartig in Europa sind, abkommen und verlangt eine Mischfinanzierung über Mehrwertsteuerprozente sowie über einkommens- und vermögensabhängige Prämien. Zur besseren Kostenkontrolle schlägt sie weiter die Verschiebung von Kompetenzen von den Kantonen auf den Bund vor, so etwa bei der Spitalplanung, der Festsetzung von Preisen und Tarifen sowie bei der Zulassung von Leistungserbringern. Aus Sicht des Bundesrates ist die Initiative jedoch mit einer ganzen Reihe von Mängeln behaftet. Die neue Finanzierung bereite nicht nur enorme Schwierigkeiten bei der Umsetzung, sie setze auch falsche Anreize. Durch den Wegfall von Franchise und Selbstbeteiligung würde das Kostenbewusstsein der Patienten vermindert. Ein Wettbewerb unter den Krankenkassen über die Prämien wäre nicht mehr möglich. Der soziale Ausgleich sei zudem über den Ausbau der bedarfsgerechten individuellen Prämienverbilligungen besser zu erreichen.

In dieser Botschaft präsentierte der Bundesrat erstmals eine Gesamtschau der sozialen Krankenversicherung und zog eine Bilanz zu den drei Hauptzielen des neuen KVG (Verstärkung der Solidarität, Eindämmung der Kosten und Sicherstellung einer qualitativ hochstehenden Versorgung). Er kam dabei zum Schluss, dass das KVG einen vorzüglichen und umfassenden Versicherungsschutz bei gesamthaft betrachtet tragbaren Prämien garantiert. Dass gewisse Ziele noch nicht optimal erfüllt werden konnten, sei nicht dem geltenden System, sondern vor allem den Kantonen anzulasten. Mängel ortete er namentlich bei der je nach Kanton unterschiedlichen Ausrichtung der Prämienverbilligungen an Personen in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen. Verbesserungen können nach Auffassung des Bundesrates mit Teilrevisionen des KVG sowie mit dem Neuen Finanzausgleich zwischen dem Bund und den Kantonen erreicht werden.

Erwartungsgemäss fand die SP-Initiative bei der bürgerlichen Mehrheit im Nationalrat keine Unterstützung. SP-Fraktionschef Cavalli (TI) legte einleitend dar, dass es eine Illusion sei zu glauben, ein vom Angebot bestimmter Markt könne die Kosten nach wettbewerbspolitischen Grundsätzen regeln. Die Abkehr von den Kopfprämien würde zur grössten finanziellen Entlastung führen, die man in der Schweiz je für Familien mit mittleren Einkommen vorgeschlagen habe. Die Sprecher von FDP, CVP, SVP und LP widersprachen dem und rechneten vor, dass eine Verlagerung auf die Mehrwertsteuer keineswegs sozial sei. Im Gegenteil: Eine – gemäss Initiativtext nach oben offene – Erhöhung dieser Konsumsteuer treffe am härtesten junge Familien. Man gaukle einen Sinkflug der Prämien vor, tatsächlich aber würde der Bevölkerung das Geld via indirekte Steuern aus der Tasche gezogen, warnte der Aargauer CVP-Vertreter Zäch. Ins gleiche Horn stiess der Zürcher Freisinnige Gutzwiller. Nicht zentralistische Planwirtschaft führe zur Genesung des Krankenversicherungssystems, sondern die konsequente Umsetzung wettbewerblicher Anreize. Als prioritär erachtete er die umfassende Reform der Spitalfinanzierung, die Aufhebung des Vertragszwangs zwischen Kassen und Leistungsanbietern und eine wirkungsorientierte Überprüfung der Grundversicherungsleistungen. Die Initiative wurde mit 91 gegen 55 Stimmen deutlich abgelehnt. Ein Antrag des Tessiner CVP-Vertreters Robbiani, die Vorlage zwecks Ausarbeitung eines indirekten Gegenvorschlags an die Kommission zurückzuweisen, der die Unterstützung von Bundesrätin Dreifuss fand, wurde ebenfalls – wenn auch bedeutend knapper – mit 79 zu 62 Stimmen verworfen.

Gleich wie Bundesrat und Nationalrat (und mit den gleichen Argumenten) empfahl auch der Ständerat mit 35 zu 5 Stimmen die Volksinitiative der SP „Gesundheit muss bezahlbar bleiben“ (Gesundheits-Initiative) zur Ablehnung, wollte die Frist zur Abstimmung jedoch verlängern, da er die 2. KVG-Revision mit ihrem ausformulierten Sozialziel als einen valablen Gegenvorschlag zur Initiative erachtete. Noch vor der Behandlung der KVG-Revision wies der Nationalrat mit 84 zu 60 Stimmen dieses Ansinnen zurück, da das Bundesgesetz über die politischen Rechte eine Fristverlängerung nur in ganz seltenen Ausnahmen gestattet und nur, wenn der Inhalt einer laufenden Gesetzesberatung den Schluss nahe liegen lässt, dass im Ergebnis ein echter Gegenvorschlag vorliegen wird. Da es genügt, wenn eine Kammer einer Fristverlängerung nicht zustimmt, wird die Volksinitiative 2003 termingerecht zur Abstimmung gebracht.

Am 18. Mai gelangte die Volksinitiative der SP „Gesundheit muss bezahlbar bleiben“ („Gesundheitsinitiative“) zur Abstimmung. Neben Massnahmen zur Kostendämpfung (insbesondere verstärkte Kompetenzen des Bundes bei Planung, Steuerung und Festlegung von Preisen) zielte sie vor allem auf eine grundlegend andere Finanzierung des Gesundheitswesens ab: Die obligatorische Krankenversicherung sollte einerseits maximal zur Hälfte durch Mehrwertsteuerprozente, andererseits durch einkommens- und vermögensabhängige Prämien finanziert werden. Nach dem Scheitern der 2. KVG-Revision Ende 2002, welche von den bürgerlichen Parteien wegen des Ausbaus der Prämienverbilligung stets als indirekter Gegenvorschlag zur Initiative bezeichnet worden war, wurden der Initiative anfänglich gute Chancen eingeräumt. In einer zu Beginn des Jahres durchgeführten repräsentativen Umfrage gaben 75% der Befragten an, mit einkommensabhängigen Prämien „sehr“ oder „eher“ einverstanden zu sein.

Gleich nach der Volksabstimmung zur Neuregelung der Spitalfinanzierung eröffneten sowohl die Befürworter wie die Gegner die Abstimmungskampagne, welche bald in einen heissen Zahlenstreit mündete, konnte doch weder die eine noch die andere Seite schlüssig darlegen, wer bei einer Annahme der Initiative gewinnen und wer allenfalls verlieren würde. Die SP machte geltend, ein Ja zur Initiative bedeute tiefere Prämien für 80% der Versicherten und führe zur Entlastung einer Durchschnittsfamilie um rund CHF 6'000 pro Jahr. Die Gegner – der Bundesrat und die bürgerlichen Parteien – konterten, wegen der Erhöhung der Mehrwertsteuer erfolge lediglich eine Umverteilung; für Leute mit geringem Einkommen, welche heute dank der Prämienverbilligungen praktisch nichts an die Grundversicherung bezahlen, würde dies sogar zu einer Schlechterstellung führen. Über diesem Zahlenhickhack gerieten jene Elemente, welche eine Kostendämpfung anstrebten, etwas in den Hintergrund. Die Unklarheiten der Finanzierung – insbesondere wurde auch darüber gestritten, ob eine Annahme der Initiative zu einer Mehrwertsteuererhöhung um 3,5% (Bürgerliche) führen würde, oder ob 1,5% (SP) ausreichen würden – sorgten für grosse Verunsicherung in der Bevölkerung und erwiesen sich für das Begehren schliesslich als fatal, was auch in den Meinungsumfragen zum Ausdruck kam, in denen die Zustimmung kontinuierlich zurückging. Um der Initiative etwas Konstruktives entgegen zu setzen, arbeiteten Bundesrat und vorberatende Kommission der kleinen Kammer zudem fieberhaft an einer Neuauflage der 2. KVG-Revision, welche das Element einer zusätzlichen Prämienentlastung für Familien wieder aufnahm, und die bereits in der Frühjahrssession im Ständerat behandelt wurde.

Santésuisse setzte rund CHF 1,5 Mio. zur Bekämpfung der Initiative ein, was für recht viel Wirbel sorgte, da nicht klar war, aus welchen Quellen diese Summe stammte.

Trotz bröckelnder Unterstützung rechnete niemand mit dem Ausmass der Ablehnung an der Urne. Die Initiative wurde mit knapp 73% der Stimmen und in allen Kantonen verworfen. Wie allgemein voraus gesagt worden war, schnitt sie in den „Prämienhöllen“ der Westschweiz besser ab als in der Deutschschweiz, aber auch da blieb die Zustimmung weit unter den Erwartungen. In Genf, wo die Prämien doppelt so hoch sind wie in der Ostschweiz, reichte es gerade mal zu 38% Ja-Stimmen. So etwas wie einen Achtungserfolg errang das Begehren lediglich im Kanton Jura, wo 44% zustimmten. In der Deutschschweiz kam die Initiative nirgends über 40%: in Basel-Stadt, ebenfalls einem Kanton mit hohen Prämien, wurde mit 36,6% die höchste Zustimmung erreicht. In der „prämiengünstigen“ Ostschweiz und in der Innerschweiz lag die Ablehnung meist über 80%; besonders massiv war das Nein in Nidwalden und Appenzell-Ausserrhoden (rund 87%).


Abstimmung vom 18. Mai 2003

Beteiligung: 49,7%
Ja: 652'073 (27,1% / 0 Stände)
Nein: 1'682'694 (72,9% / 20 6/2 Stände)

Parolen:
– Ja: SP, GP (1*), EVP (2*), CSP, PdA; SGB, Travail.Suisse
– Nein: FDP, CVP, SVP, LP, SD, EDU, FP; Economiesuisse, SBV; Santésuisse
– Stimmenthaltung: Lega
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen

Die Vox-Analyse dieser Abstimmung zeigte, dass die Parteiparolen mehrheitlich befolgt wurden, am deutlichsten von den Anhängerschaften der CVP und SVP mit Neinstimmen-Anteilen von 95 resp. 93%. Dass die Initiative aber auch unter den SP-Sympathisanten nicht unbestritten war, zeigt der beträchtliche Neinstimmen-Anteil von 41%. Bereits bei der Lancierung der Initiative war die SP gespalten gewesen; eine bedeutende Minderheit in der Partei hätte einen alternativen, abgeschwächten Initiativtext bevorzugt. Personen in sehr guten wirtschaftlichen Verhältnissen lehnten die Initiative erwartungsgemäss überdurchschnittlich ab (84%). Aber auch die Haushalte mit den tiefsten Einkommen stimmten etwas häufiger Nein (74%) als das Mittel. Die Autoren der Studie erklärten dieses Stimmverhalten mit der Furcht vor (ungewissen) Veränderungen; offenbar bevorzugten diese Personen den Status quo, bei dem sie am meisten von Prämienverbilligungen profitieren. Auch sprachregionale Differenzen beeinflussten den Stimmentscheid, aber nur in geringem Ausmass.