Volksinitiative „Gleiche Rechte für Behinderte“ (BRG 00.094)

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Da die Behinderten mit dem Resultat der Verfassungsrevision klar nicht zufrieden waren und die Zukunft der parlamentarische Initiative Suter (die ja noch vom Ständerat angenommen werden muss) zumindest ungewiss ist, lancierten deren Organisationen unter dem Präsidium von Nationalrat Suter (fdp, BE) Anfang August unter dem Titel ”Gleiche Rechte für Behinderte” eine entsprechende Volksinitiative. Diese verlangt eine Revision von Art. 4 der bisherigen Bundesverfassung gemäss dem ersten Beschluss des Nationalrates zur revidierten Verfassung (Diskriminierungsverbot für körperliche, geistige und psychische Behinderung sowie Gleichstellungsgebot), ergänzt mit den Bestimmungen aus der parlamentarische Initiative Suter betreffend den Zugang zu Bauten und Einrichtungen. Das Initiativkomitee, in dem Parlamentarier aus allen vier Bundesratsparteien Einsitz nahmen, begründete sein Vorgehen damit, dass nur durch Verfassung und Gesetz geschützte Rechte den Invaliden die Möglichkeit geben würden, diese notfalls vor Gericht einzuklagen.

Dossier: Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen

Mitte Juni wurde die Volksinitiative „Gleiche Rechte für Behinderte“ mit 120 455 gültigen Unterschriften eingereicht. Zusätzlich zum neuen Verfassungsartikel, der Körper-, Geistig- und Psychisch-Behinderte erstmals erwähnt und vor Diskriminierung schützt, fordert das Begehren den freien Zugang zu allen Bauten, Anlagen und Dienstleistungen, die den Nichtbehinderten uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Mit ihrer Initiative wollen die Invaliden das Prinzip der „vollständigen Teilhabe“ verankern, zum Beispiel in den Bereichen Schule, Verkehr, Kommunikation und Arbeit.

Dossier: Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen

Der Bundesrat beschloss, der Volksinitiative „Gleiche Rechte für Behinderte“ sowie zwei parlamentarischen Vorstössen einen indirekten Gegenvorschlag entgegen zu stellen. Das neue Behindertengesetz, das Mitte Jahr in die Vernehmlassung ging, konkretisiert die von der revidierten Verfassung geforderte Beseitigung der Benachteiligungen im öffentlichen Leben. Da der einklagbare subjektive Anspruch auf Zugang zu den Rechten in den Bereichen öffentlicher Verkehr, Bauten, Fernsehen, Telefondienstleistungen, Bildung und Arbeit in einer ersten Konsultation von der Wirtschaft und den bürgerlichen Parteien wegen der unklaren Folgekosten abgelehnt worden war, stellte der Bundesrat je eine Variante mit und ohne diesen Rechtsanspruch zur Diskussion. Die Schaffung eines Gesetzes zur Gleichstellung von behinderten mit nicht behinderten Menschen wurde auf breiter Ebene begrüsst. Die SP und die Behindertenverbände erachteten allerdings die vorgeschlagenen Massnahmen als zu wenig weit gehend, da insbesondere die Bereiche Schule und Arbeit zu wenig konkret formuliert seien. Die bürgerlichen Parteien wiesen erneut auf finanziell unklaren Folgen für allfällige Um- oder Neubauten hin.

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Die Initianten zeigten sich nach den parlamentarischen Beratungen vom Gesetz enttäuscht. Ihrer Ansicht nach zeigte gerade die Verwässerung der Vorlage, dass das Diskriminierungsverbot in der Bundesverfassung durch ein eigentliches Gleichstellungsgebot ergänzt werden müsse, da das Gesetz für die zentralen Bereiche der beruflichen Tätigkeit, der Ausbildung, der Kultur und des Sports keine konkreten Schritte vorsieht. Um nicht den Kampf an zwei Fronten führen zu müssen, beschlossen sie, ihre Initiative aufrecht zu erhalten, auf ein Referendum gegen das Gesetz aber zu verzichten.

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Der Bundesrat und eine Mehrheit des Parlaments erachteten das BehiG als indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative „Gleiche Rechte für Behinderte“, die 1999 mit über 120 000 Unterschriften eingereicht worden war. Wegen der zwar nicht abschätzbaren, aber als zu hoch eingestuften Kosten, die sich aus der behindertengerechten Ausgestaltung aller für die Öffentlichkeit bestimmter Bauten und Anlagen ergeben würden, empfahl der Ständerat mit 36 zu 4 Stimmen die Initiative zur Ablehnung. Auch der Bündner SVP-Vertreter Brändli, Präsident der an der Lancierung der Initiative beteiligten „Pro Infirmis“ sprach sich, schon nur aus rechtlichen Überlegungen, wie er betonte, für den indirekten Gegenvorschlag und gegen die Initiative aus. Mit den gleichen Argumenten wurde die Initiative auch vom Nationalrat abgelehnt, allerdings nur relativ knapp mit 82 zu 75 Stimmen bei sieben Enthaltungen. Ziemlich überraschend hatte die vorberatende Kommission Zustimmung zur Initiative beantragt. Die Gegner rekrutierten sich aus der SVP, einer Mehrheit der FDP und Teilen der CVP.

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Weil ihnen das im Sinn eines indirekten Gegenvorschlags im Vorjahr verabschiedete Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen behinderter Menschen (BehiG) ungenügend erschien, beschlossen die Behindertenorganisationen, zwar nicht das Referendum zu ergreifen, um den Kampf nicht an zwei Fronten führen zu müssen, ihre Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» aber aufrecht zu erhalten. Die Initiative verlangte eine Gewährleistung des Zugangs zu Bauten und Anlagen sowie die Inanspruchnahme von Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, soweit dies wirtschaftlich zumutbar ist. Bundesrat und Parlament hatten die Initiative mit dem Argument der nicht abschätzbaren Kosten abgelehnt, die Stossrichtung des Begehrens im BehiG zwar berücksichtigt, aber doch deutlich abgeschwächt.

Dossier: Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen

In der Abstimmungskampagne betonten die Befürworter, ihr Anliegen – freier Zugang zu allen Gesellschaftsbereichen – sei eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Es würden keine überrissenen Forderungen gestellt, sondern nur der Grundsatz verankert, dass für die Probleme der Behinderten verhältnismässige Lösungen zu finden seien. Eine bessere Einbindung der Behinderten wäre auch ein Beitrag zur Entlastung der defizitären IV. Mit starker Unterstützung der Wirtschaftsverbände konterten die Gegner, die Initiative sei eben gerade nicht verhältnismässig. Das Fehlen von Übergangsfristen (im BehiG 20 Jahre für Bauten und Anlagen, 10 Jahre für Dienstleistungen im Kommunikationsbereich) werde innerhalb weniger Jahre zu einem Kostenschub von rund CHF vier Mrd. allein im öffentlichen Verkehr führen. Das generelle Klagerecht der Behinderten (im BehiG sehr eng definiert) werde eine Prozesslawine mit ungewissem Ausgang auslösen.

Dossier: Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen

In der Volksabstimmung vom 18. Mai blieb die Initiative chancenlos. Sie wurde von über 62 Prozent der Stimmenden und in 23 Kantonen abgelehnt. Am schlechtesten schnitt sie in Appenzell Innerrhoden ab (79.9% Nein), nur wenig besser in Ausserrhoden (75.2%). Weitere sieben Stände (LU, NW, OW, TG, SG, SZ, ZG) meldeten Nein-Mehrheiten von über 70 Prozent. Knapp abgelehnt wurde die Initiative in den Kantonen Freiburg (54.0% Nein), Neuenburg (55.2), Waadt (56.2), Wallis (57.2) und Basel-Stadt (57.8). Von den drei Kantonen, welche die Behinderteninitiative guthiessen, tat dies Genf mit 59.0 Prozent Ja am deutlichsten. Etwas schwächer fiel die Zustimmung im Jura (54.9) und im Tessin (54.0) aus. Die Vox-Analyse der Abstimmung zeigte, dass vor allem die politischen Merkmale für das Abstimmungsverhalten ausschlaggebend waren. Während eine grosse Mehrheit der SP-Anhängerschaft der Initiative zustimmte (70%), lehnten sie 86 Prozent der SVP-Sympathisanten ab. Klar wurde die Initiative auch von den Anhängerschaften der CVP und der FDP mit 74 resp. 77 Prozent verworfen.


Abstimmung vom 18. Mai 2003

Beteiligung: 49.7%
Ja: 870 249 (37.7%) / 3 Stände
Nein: 1 439 893 (62.3%) / 17 6/2 Stände

Parolen:
– Ja: SP, GP, CSP, PdA, JFDP; SGB, Travail.Suisse
– Nein: FDP (2*), CVP (4*), SVP (1*), LP (1*), SD, EDU, FP; economiesuisse, SGV, ZSA
– Stimmenthaltung: Lega
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen

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