Gesetz zur Gleichstellung Behinderter (BRG 95.418)

Am letzten Tag seiner Sommersession gab der Nationalrat einstimmig einer parlamentarischen Initiative Suter (fdp, BE) Folge, die eine verfassungsmässige Verankerung der Gleichstellung der Behinderten verlangt. Der Initiant erhofft sich von einem entsprechenden Verfassungszusatz einen Bewusstseinswandel und damit eine grundlegende qualitative Verbesserung der Situation der Behinderten. Der Anspruch auf Gleichstellung und Gleichbehandlung soll einerseits vor Diskriminierung schützen und andererseits als Auftrag an die Behörden aller Stufen verstanden werden, vorhandene Benachteiligungen abzubauen und die Integration zu fördern.

Der Nationalrat hatte 1996 einstimmig einer parlamentarischen Initiative Suter (fdp, BE) Folge gegeben, welche verlangte, dass im Gleichstellungsartikel der Bundesverfassung (Art. 4) neben den Frauen auch die Behinderten in einem separaten Abschnitt explizit erwähnt werden. Im Berichtsjahr befasste sich die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit SGK mit der konkreten Umsetzung des Anliegens. Eine Mehrheit der Kommission wollte dabei nur gerade den Grundsatz aufnehmen, nicht aber die Präzisierungen, die Suter vorschwebten (Gleichheit in Schule, Ausbildung und Beruf sowie im Bereich der öffentlichen Transporte, der Kommunikation und der öffentlichen und privaten Bauten). Eine Minderheit der Kommission wollte die Spezifizierungen zwar aufnehmen, sie aber mit dem Zusatz abschwächen, dass dies nur im Rahmen des Möglichen zu gelten habe. Mitte August demonstrierten rund 80 Behinderte vor dem Bundeshaus gegen diese Verwässerung ihres Anliegens. Die Kommission des Nationalrats zur Totalrevision der Bundesverfassung übernahm den Vorschlag der SGK. Sie schlug im Rahmen der Verfassungsnachführung eine neue Bestimmung vor (Art. 7.4), welche für die Gleichstellung der Behinderten ein spezielles Gesetz mit entsprechenden Massnahmen verlangt.

Gleichentags behandelte die grosse Kammer auch die Umsetzung einer 1996 angenommenen parlamentarischen Initiative Suter (fdp, BE) zur Gleichstellung der Behinderten. Eine rechtsbürgerliche Kommissionsminderheit versuchte noch einmal vergeblich, das Gleichheitsgebot dahingehend abzuschwächen, dass nur von der Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen gesprochen werden sollte bzw. das Gesetz nur im Rahmen der verfügbaren Mittel für die Gleichstellung zu sorgen hätte, unterlag aber mit 81 zu 64 resp. 83 zu 56 Stimmen. Andererseits scheiterte auch ein Antrag aus dem linken Lager, der den Passus, wonach der Gesetzgeber nur in Ergänzung zu privater Initiative und Verantwortung tätig wird, wieder streichen wollte. Am meisten entzündeten sich aber die Diskussionen am Antrag der Kommissionsmehrheit, entgegen den Beschlüssen bei der Verfassungsrevision noch einen dritten Satz in den vorgeschlagenen neuen Verfassungsartikel aufzunehmen, wonach den Behinderten der Zugang zu Bauten und Anlagen oder die Inanspruchnahme von Einrichtungen und Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, soweit zumutbar zu gewährleisten sei. Die FDP, unterstützt von Bundesrat Koller, beantragte hier Streichung, weil diese Forderung nur schwer einklagbar wäre und zu nicht abzuschätzenden finanziellen Folgen für Öffentlichkeit und Private führen würde. Koller verwies auch darauf, dass mit dieser Doppelspurigkeit des Vorgehens (laufende Verfassungsrevision und gleichzeitiger Antrag auf Abänderung der geltenden Verfassung) eine, wie er sagte, ”verfahrene Verfahrenssituation” entstehen würde. Mit 78 zu 66 Stimmen setzte sich der Antrag der Kommissionsmehrheit dennoch durch. Die Gesamtvorlage wurde mit 82 zu 64 Stimmen angenommen. Dafür votierte das geschlossene rot-grüne Lager mit Unterstützung von einzelnen Abgeordneten aus der CVP und der FDP

Der Ständerat lehnte eine 1996 vom Nationalrat genehmigte parlamentarische Initiative Suter (fdp, BE) ab, die den entsprechenden Artikel in der Bundesverfassung (Art. 8 Abs.2) griffiger formulieren und insbesondere einen direkt einklagbaren Anspruch einführen wollte. Hingegen überwies er eine Motion Gross (sp, TG), die den Bundesrat auffordert, den Verfassungsartikel zügig in einem Gesetz umzusetzen.

Im Dezember verabschiedete der Bundesrat seine Botschaft zum Gesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen behinderter Menschen. Es trägt den in der Vernehmlassung ausgedrückten Bedenken insofern Rechnung, als die Invaliden ein Beschwerde- und Klagerecht erhalten. Die Behindertenverbände reagierten verhalten auf die bundesrätlichen Vorschläge. Das Gesetz gehe zwar in die richtige Richtung, aber es genüge noch nicht. Insbesondere die Bereiche Arbeit (lediglich Förderung der Anstellung von Behinderten in der Bundesverwaltung) und Schule (nur Aufforderung an die Kantone, behinderten Kindern und Jugendlichen eine den Bedürfnissen angepasste Grundschulung zu gewährleisten) seien praktisch ganz ausgeklammert geblieben. Als besonders störend empfanden die Behinderten, dass das Gesetz für die Anpassungen in den öffentlichen Bauten und im öffentlichen Verkehr eine Übergangsfrist von 20 Jahren vorsieht, und dass der Abbau von Hürden nur zwingend vorgeschrieben wird, wenn der wirtschaftliche Aufwand vertretbar ist. Wegen dieser Mängel wollen die Verbände an ihrer Initiative festhalten.

In der Herbstsession behandelte der Ständerat das Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen behinderter Menschen (Behindertengesetz, BehiG). Es herrschte Einigkeit darüber, dass die Situation der körperlich, geistig und psychisch behinderten Menschen verbessert werden muss. In der Detailberatung folgte die kleine Kammer im wesentlichen dem Vorschlag des Bundesrates. In einzelnen Punkten kam sie jedoch den Vorschlägen der Dachorganisation der privaten Invalidenhilfe (DOK) entgegen. So soll das Beschwerderecht nicht nur gesamtschweizerischen, sondern auch Behindertenorganisationen von gesamtschweizerischer Bedeutung zugestanden werden. Nicht durchsetzen – und zwar mit 32 resp. 31 zu 6 Stimmen – konnten sich Anträge der beiden SP-Abgeordneten Studer (NE) und Brunner (GE), den Geltungsbereich des Gesetzes auf das Erwerbsleben und die Ausbildung auszudehnen, wie dies auch die DOK in der Vernehmlassung gefordert hatte. Abgelehnt wurde auch der Antrag der Kommission, die Beschränkung der Entschädigung bei Diskriminierung (maximal 5000 Fr. nach bundesrätlichem Vorschlag) zu streichen und diese Frage den Richtern zu überlassen. Mit Unterstützung von Bundesrätin Metzler machte Merz (fdp, AR) demgegenüber geltend, diese Aufhebung wecke die Ängste des Gewerbes und wäre nicht konsensfähig. Das Gesetz, das einstimmig verabschiedet wurde, wird als indirekter Gegenvorschlag zur Volksinitiative „Gleiche Rechte für Behinderte“ zur Abstimmung kommen, sofern diese nicht zurückgezogen wird. Ebenfalls einstimmig gutgeheissen wurde eine Anschubhilfe von 300 Mio Fr. für behindertengerechte Massnahmen im öffentlichen Verkehr sowie die dafür notwendige Überwindung der Ausgabenbremse.

Anders als der Ständerat im Vorjahr, der beim Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen behinderter Menschen (BehiG) in den grossen Linien dem Entwurf des Bundesrates gefolgt war, nahm die vorberatende Kommission des Nationalrates mit grosser Mehrheit eine deutliche Anreicherung der Vorlage vor. Unter Wahrung des Grundsatzes der wirtschaftlichen Tragbarkeit und der Verhältnismässigkeit orientierte sie sich dabei im wesentlichen am Gleichstellungsgesetz für Frau und Mann mit einklagbaren Rechten für Einzelpersonen und Organisationen. Öffentlich zugängliche Altbauten sowie private Neubauten mit mehr als sechs Wohneinheiten (anstatt acht gemäss Bundesrat und Ständerat) sollten zwingend behindertengerecht ausgestaltet werden. Die wesentlichste Ausdehnung fand im Bereich der Arbeit statt. Der Geltungsbereich wurde auf alle Arbeitsverhältnisse nach Obligationenrecht und öffentlichem Recht erweitert. Die Kantone wurden verpflichtet, die Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in die Regelschule zu fördern. Nach dem Muster des Eidg. Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann wurde die Schaffung eines Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen beschlossen, das über die Grundlagen des Gesetzes informieren, Kampagnen durchführen und die Tätigkeiten öffentlicher und privater Einrichtungen auf diesem Gebiet koordinieren soll.

Ohne grosse Diskussionen übernahm der Ständerat in der ersten Runde des Differenzbereinigungsverfahrens jene Beschlüsse des Nationalrates, die keine oder kaum Auswirkungen auf die Wirtschaft haben (Förderung der schulischen Integration der Kinder und Jugendlichen, Gleichstellungsbüro), verwässerte die Vorlage aber erneut in der für die Behinderten zentralen Frage des Zugangs zu Bauten und Anlagen, die der Öffentlichkeit dienen; Behinderte sollten nur während des Baubewilligungsverfahrens gegen einen nicht behindertengerechten Aus- oder Umbau klagen können. Ein Beschwerderecht wollte der Ständerat nur Behindertenorganisationen zugestehen, die seit mindestens zehn Jahren schweizweit aktiv sind; dem Nationalrat hätten hier zwei Jahre gereicht. Nichts wissen wollte er von einer Anpassung der Ausbildungsdauer an die Bedürfnisse behinderter Menschen sowie von der Kompetenzerteilung an den Bundesrat, Pilotprojekte zur Eingliederung Behinderter ins Erwerbsleben zu finanzieren. Gegen Anträge aus dem rechtsbürgerlichen Lager hielt der Nationalrat jedoch an seinen ersten Beschlüssen fest. Nach kleineren Rückzugsgeplänkeln, welche die Einberufung der Einigungskonferenz nötig machten, gab der Ständerat nach, so dass die Vorlage noch vor Jahresende definitiv verabschiedet werden konnte. In den Schlussabstimmungen passierte sie im Ständerat einstimmig und im Nationalrat mit 175 zu 1 Stimmen.

Diese Ausdehnung stiess im Plenum des Nationalrates auf Widerstand. Loepfe (AI) im Namen der CVP sowie Föhn (SZ) für die SVP verlangten Rückweisung an die Kommission, da die finanziellen Auswirkungen, die personalrechtlichen Konsequenzen und die Kompetenzfragen zwischen Bund und Kantonen noch nicht genügend geklärt seien. Der Antrag wurde mit 83 zu 77 Stimmen knapp abgelehnt, nachdem Bundesrätin Metzler erklärt hatte, es wäre politisch nicht klug, die Volksinitiative „Gleiche Rechte für Behinderte“ ohne Gegenvorschlag zur Abstimmung zu bringen. In der Detailberatung krebste die bürgerliche Nationalratsmehrheit im Bereich der öffentlichen Bauten und der Mietshäuser wieder weitgehend auf die Linie von Bundesrat und Ständerat zurück (Verpflichtung der behindertengerechten Ausgestaltung von Altbauten nur bei umfassenden Sanierungsarbeiten), ebenso bei den Behindertenrechten am Arbeitsplatz. Gegen die Unterstellung der privaten Arbeitsverhältnisse unter das Gesetz wehrten sich insbesondere mit Erfolg die beiden Freisinnigen Heberlein (ZH) und Triponez (BE) mit dem Argument, eine Regulierung würde tendenziell zu einer Ausgrenzung der Behinderten aus dem Arbeitsprozess führen. Die Kommission unterlag auch mit ihrem Antrag, im Bereich der Dienstleistungen den Behinderten ein Klagerecht auf Beseitigung oder Unterlassung von Diskriminierungen einzuräumen; das Plenum blieb bei einer blossen Entschädigung von maximal 5000 Fr. Einzig im Bereich der Aus- und Weiterbildung war der Nationalrat zu gewissen Konzessionen bereit. Behinderte Kinder und Jugendliche sollen von den Kantonen bei der Integration in die Regelschule gefördert werden, behinderte Menschen generell ein Recht auf eine ihren Möglichkeiten angemessene Ausbildungsdauer und auf entsprechende Prüfungen haben sowie spezifische Hilfsmittel verwenden dürfen. Gegen einen Minderheitsantrag aus den Reihen der SVP, der die Unterstützung von Widrig (cvp, SG) und Triponez (fdp, BE) fand, stimmte der Nationalrat der Schaffung eines Gleichstellungsbüros zu.

Auf den 1. Januar trat das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) in Kraft. Das neue Gesetz bringt für die Behinderten in der Schweiz unter anderem einen erleichterten Zugang zum öffentlichen Verkehr und zu öffentlichen Bauten. Den Bedürfnissen der Menschen mit Behinderungen tragen ferner verschiedene Gesetzesrevisionen (Fernmeldewesen, Bundesstatistik, Berufsbildung, Strassenverkehrsrecht) Rechnung, die ebenfalls auf diesen Zeitpunkt rechtskräftig wurden. Beim Bund entstand zudem ein Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung.

Fünf Jahre nach Inkraftsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes zogen das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, die Dachorganisationenkonferenz der privaten Behindertenhilfe und der Gleichstellungsrat Egalité Handicap im Berichtsjahr Bilanz bezüglich der Umsetzung des Erlasses. Sie waren sich einig, dass bei der Gleichstellung von behinderten Menschen noch viel getan werden müsse und sie nicht nur Sache von Gesetzen und Regeln, sondern auch des Willens der einzelnen Entscheidungsträger sei. Laut einem veröffentlichten Bericht fehlt es daran besonders auf dem Arbeitsmarkt. Die Fachstellen forderten daher ein Benachteiligungsverbot für öffentliche und private Arbeitsverhältnisse. Bundesrat Burkhalter nahm das Ansinnen zur Kenntnis, sprach sich aber gegen ein zu harsches Vorgehen aus. Er zieht es vor, das Bewusstsein der Arbeitgeber zu schärfen.

Volksinitiative „Gleiche Rechte für Behinderte“ (BRG 00.094)

Da die Behinderten mit dem Resultat der Verfassungsrevision klar nicht zufrieden waren und die Zukunft der parlamentarische Initiative Suter (die ja noch vom Ständerat angenommen werden muss) zumindest ungewiss ist, lancierten deren Organisationen unter dem Präsidium von Nationalrat Suter (fdp, BE) Anfang August unter dem Titel ”Gleiche Rechte für Behinderte” eine entsprechende Volksinitiative. Diese verlangt eine Revision von Art. 4 der bisherigen Bundesverfassung gemäss dem ersten Beschluss des Nationalrates zur revidierten Verfassung (Diskriminierungsverbot für körperliche, geistige und psychische Behinderung sowie Gleichstellungsgebot), ergänzt mit den Bestimmungen aus der parlamentarische Initiative Suter betreffend den Zugang zu Bauten und Einrichtungen. Das Initiativkomitee, in dem Parlamentarier aus allen vier Bundesratsparteien Einsitz nahmen, begründete sein Vorgehen damit, dass nur durch Verfassung und Gesetz geschützte Rechte den Invaliden die Möglichkeit geben würden, diese notfalls vor Gericht einzuklagen.

Mitte Juni wurde die Volksinitiative „Gleiche Rechte für Behinderte“ mit 120 455 gültigen Unterschriften eingereicht. Zusätzlich zum neuen Verfassungsartikel, der Körper-, Geistig- und Psychisch-Behinderte erstmals erwähnt und vor Diskriminierung schützt, fordert das Begehren den freien Zugang zu allen Bauten, Anlagen und Dienstleistungen, die den Nichtbehinderten uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Mit ihrer Initiative wollen die Invaliden das Prinzip der „vollständigen Teilhabe“ verankern, zum Beispiel in den Bereichen Schule, Verkehr, Kommunikation und Arbeit.

Der Bundesrat beschloss, der Volksinitiative „Gleiche Rechte für Behinderte“ sowie zwei parlamentarischen Vorstössen einen indirekten Gegenvorschlag entgegen zu stellen. Das neue Behindertengesetz, das Mitte Jahr in die Vernehmlassung ging, konkretisiert die von der revidierten Verfassung geforderte Beseitigung der Benachteiligungen im öffentlichen Leben. Da der einklagbare subjektive Anspruch auf Zugang zu den Rechten in den Bereichen öffentlicher Verkehr, Bauten, Fernsehen, Telefondienstleistungen, Bildung und Arbeit in einer ersten Konsultation von der Wirtschaft und den bürgerlichen Parteien wegen der unklaren Folgekosten abgelehnt worden war, stellte der Bundesrat je eine Variante mit und ohne diesen Rechtsanspruch zur Diskussion. Die Schaffung eines Gesetzes zur Gleichstellung von behinderten mit nicht behinderten Menschen wurde auf breiter Ebene begrüsst. Die SP und die Behindertenverbände erachteten allerdings die vorgeschlagenen Massnahmen als zu wenig weit gehend, da insbesondere die Bereiche Schule und Arbeit zu wenig konkret formuliert seien. Die bürgerlichen Parteien wiesen erneut auf finanziell unklaren Folgen für allfällige Um- oder Neubauten hin.

Die Initianten zeigten sich nach den parlamentarischen Beratungen vom Gesetz enttäuscht. Ihrer Ansicht nach zeigte gerade die Verwässerung der Vorlage, dass das Diskriminierungsverbot in der Bundesverfassung durch ein eigentliches Gleichstellungsgebot ergänzt werden müsse, da das Gesetz für die zentralen Bereiche der beruflichen Tätigkeit, der Ausbildung, der Kultur und des Sports keine konkreten Schritte vorsieht. Um nicht den Kampf an zwei Fronten führen zu müssen, beschlossen sie, ihre Initiative aufrecht zu erhalten, auf ein Referendum gegen das Gesetz aber zu verzichten.

Der Bundesrat und eine Mehrheit des Parlaments erachteten das BehiG als indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative „Gleiche Rechte für Behinderte“, die 1999 mit über 120 000 Unterschriften eingereicht worden war. Wegen der zwar nicht abschätzbaren, aber als zu hoch eingestuften Kosten, die sich aus der behindertengerechten Ausgestaltung aller für die Öffentlichkeit bestimmter Bauten und Anlagen ergeben würden, empfahl der Ständerat mit 36 zu 4 Stimmen die Initiative zur Ablehnung. Auch der Bündner SVP-Vertreter Brändli, Präsident der an der Lancierung der Initiative beteiligten „Pro Infirmis“ sprach sich, schon nur aus rechtlichen Überlegungen, wie er betonte, für den indirekten Gegenvorschlag und gegen die Initiative aus. Mit den gleichen Argumenten wurde die Initiative auch vom Nationalrat abgelehnt, allerdings nur relativ knapp mit 82 zu 75 Stimmen bei sieben Enthaltungen. Ziemlich überraschend hatte die vorberatende Kommission Zustimmung zur Initiative beantragt. Die Gegner rekrutierten sich aus der SVP, einer Mehrheit der FDP und Teilen der CVP.

Weil ihnen das im Sinn eines indirekten Gegenvorschlags im Vorjahr verabschiedete Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen behinderter Menschen (BehiG) ungenügend erschien, beschlossen die Behindertenorganisationen, zwar nicht das Referendum zu ergreifen, um den Kampf nicht an zwei Fronten führen zu müssen, ihre Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» aber aufrecht zu erhalten. Die Initiative verlangte eine Gewährleistung des Zugangs zu Bauten und Anlagen sowie die Inanspruchnahme von Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, soweit dies wirtschaftlich zumutbar ist. Bundesrat und Parlament hatten die Initiative mit dem Argument der nicht abschätzbaren Kosten abgelehnt, die Stossrichtung des Begehrens im BehiG zwar berücksichtigt, aber doch deutlich abgeschwächt.

In der Abstimmungskampagne betonten die Befürworter, ihr Anliegen – freier Zugang zu allen Gesellschaftsbereichen – sei eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Es würden keine überrissenen Forderungen gestellt, sondern nur der Grundsatz verankert, dass für die Probleme der Behinderten verhältnismässige Lösungen zu finden seien. Eine bessere Einbindung der Behinderten wäre auch ein Beitrag zur Entlastung der defizitären IV. Mit starker Unterstützung der Wirtschaftsverbände konterten die Gegner, die Initiative sei eben gerade nicht verhältnismässig. Das Fehlen von Übergangsfristen (im BehiG 20 Jahre für Bauten und Anlagen, 10 Jahre für Dienstleistungen im Kommunikationsbereich) werde innerhalb weniger Jahre zu einem Kostenschub von rund CHF vier Mrd. allein im öffentlichen Verkehr führen. Das generelle Klagerecht der Behinderten (im BehiG sehr eng definiert) werde eine Prozesslawine mit ungewissem Ausgang auslösen.

In der Volksabstimmung vom 18. Mai blieb die Initiative chancenlos. Sie wurde von über 62 Prozent der Stimmenden und in 23 Kantonen abgelehnt. Am schlechtesten schnitt sie in Appenzell Innerrhoden ab (79.9% Nein), nur wenig besser in Ausserrhoden (75.2%). Weitere sieben Stände (LU, NW, OW, TG, SG, SZ, ZG) meldeten Nein-Mehrheiten von über 70 Prozent. Knapp abgelehnt wurde die Initiative in den Kantonen Freiburg (54.0% Nein), Neuenburg (55.2), Waadt (56.2), Wallis (57.2) und Basel-Stadt (57.8). Von den drei Kantonen, welche die Behinderteninitiative guthiessen, tat dies Genf mit 59.0 Prozent Ja am deutlichsten. Etwas schwächer fiel die Zustimmung im Jura (54.9) und im Tessin (54.0) aus. Die Vox-Analyse der Abstimmung zeigte, dass vor allem die politischen Merkmale für das Abstimmungsverhalten ausschlaggebend waren. Während eine grosse Mehrheit der SP-Anhängerschaft der Initiative zustimmte (70%), lehnten sie 86 Prozent der SVP-Sympathisanten ab. Klar wurde die Initiative auch von den Anhängerschaften der CVP und der FDP mit 74 resp. 77 Prozent verworfen.


Abstimmung vom 18. Mai 2003

Beteiligung: 49.7%
Ja: 870 249 (37.7%) / 3 Stände
Nein: 1 439 893 (62.3%) / 17 6/2 Stände

Parolen:
– Ja: SP, GP, CSP, PdA, JFDP; SGB, Travail.Suisse
– Nein: FDP (2*), CVP (4*), SVP (1*), LP (1*), SD, EDU, FP; economiesuisse, SGV, ZSA
– Stimmenthaltung: Lega
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen

Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen der Behinderten in der Verfassungsrevision (BRG 96.091)

Dossier: Totalrevision der Bundesverfassung 2/2: BRG 96.091 (1996 bis 2000)

Im Rahmen der Verfassungsrevision lehnte der Ständerat im Gleichstellungsartikel (Art. 8) mit 20 zu 11 Stimmen einen Antrag von Pro-Infirmis-Präsident Brändli (svp, GR) für einen neuen Abs. 4 ab, der den Gesetzgeber verpflichten wollte, für die Gleichstellung der Behinderten zu sorgen und Massnahmen zum Ausgleich oder zur Beseitigung bestehender Benachteiligungen vorzusehen. Mit gleichem Wortlaut wurde dieser Absatz im Nationalrat bereits von der Kommission vorgeschlagen und gegen einen rechtsbürgerlichen Streichungsantrag mit 97 zu 58 Stimmen auch angenommen. Die SP wollte dem noch hinzufügen, der Zugang zu Bauten und Anlagen oder die Inanspruchnahme von Einrichtungen und Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, sei soweit zumutbar zu gewährleisten, unterlag aber mit 78 zu 77 Stimmen ganz knapp. Angesichts der klaren Stellungnahme der grossen Kammer kam der Ständerat auf seinen Beschluss zurück und stimmte einem – allerdings abgeschwächten – Text zu. Danach ist der Gesetzgeber nur gehalten, Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen der Behinderten vorzusehen. Die kleine Kammer befand, ihre Formulierung sei verhältnismässiger als jene des Nationalrates, da gar nicht definiert werden könne, was unter der Gleichstellung von Behinderten zu verstehen sei. Dieser Auffassung schloss sich auch eine Mehrheit des Nationalrates an, obgleich Pro Mente Sana-Präsident Gross (sp, TG) monierte, damit könnte der Eindruck entstehen, dass es sich bei den Behinderten um einen Gesetzgebungsauftrag minderer Qualität handle als etwa bei der Gleichstellung der Geschlechter. Mit 96 zu 68 Stimmen übernahm der Nationalrat die Version des Ständerates.

Alternativer Gesetzesentwurf der Verbände (2000)

Die 15 wichtigsten Organisationen der privaten Behindertenhilfe, zusammengeschlossen in der Dachorganisatoren-Konferenz DOK, legten Anfangs September einen eigenen Gesetzesentwurf zur Gleichstellung der Invaliden vor. Ständerat Brändli (svp, GR) erklärte als Präsident der Pro Infirmis Schweiz, der Gesetzesentwurf des Bundesrates werde dem umfassenden Anspruch auf Gleichstellung in allen Lebensbereichen nicht gerecht. So seien die Bestimmungen, die den Zugang zu öffentlichen Gebäuden regelten, zum Teil weniger verbindlich gefasst als in kantonalen Baugesetzen. Auch seien keine Anreize und Lenkungsabgaben für die Eingliederung der Behinderten in die Privatwirtschaft vorgesehen. Die DOK verlangte, dass innert zehn Jahren alle von der Allgemeinheit genutzten Bauten und Anlagen, wie Verwaltungsgebäude, Spitäler, Kirchen, Kinos oder Restaurants, behindertengerecht ausgestattet und somit für alle zugänglich sind. Die DOK beharrte auf dem Prinzip eines subjektiven Rechtsanspruchs. Sie forderte zudem ein Verbandsbeschwerderecht und einen eidgenössischen Beauftragten für die Behindertengleichstellung.

Wahrung des Stimmgeheimnisses für Menschen mit Sehbehinderung (Mo. 22.3371)

Dossier: Revision politische Rechte – Abstimmungen im Krisenfall

Mit ihrer Forderung nach Wahrung des Stimmgeheimnisses für Menschen mit Sehbehinderung stiess die SPK-NR auf offene Ohren. Konkret forderte die Kommission einstimmig, dass Abstimmungsschablonen eingeführt sowie eine Standardisierung der Stimmzettel durchgesetzt werden, mit denen sehbehinderte Menschen selbständig abstimmen können. Aktuell sind Menschen mit Sehbehinderung auf die Unterstützung einer nicht sehbehinderten Person angewiesen. Sie müssen der helfenden Person nicht nur vertrauen können, auch das Wahl- und Stimmgeheimnis ist damit für sehbehinderte Personen nicht gewahrt. Die geforderte technische Lösung müsste laut SPK-NR etwa 80'000 bis 100'000 Betroffenen von den Gemeinden zur Verfügung gestellt werden, wobei mit einem Anschaffungspreis von CHF 35 bis CHF 50 zu rechnen sei.
In der Ratsdebatte wiesen die Kommissionssprecherin Delphine Klopfenstein Broggini (gp, GE) und der Kommissionssprecher Andri Silberschmidt (fdp, ZH) darauf hin, dass es noch eine Reihe von offenen Fragen gebe. So biete eine Abstimmungsschablone bei Wahlen keine Lösung, zudem sei nicht klar, wer die Kosten zu tragen habe. Um das Stimmgeheimnis auch Menschen mit Behinderungen zu gewähren, müsse man aber Lösungen finden. Bundeskanzler Walter Thurnherr sicherte die Unterstützung des Bundesrats zu, der die Motion zur Annahme empfahl. Man werde mit den Kantonen Lösungen suchen. Er wies zudem darauf hin, dass sich auch dank E-Voting Lösungen ergeben könnten. Der Nationalrat nahm die Motion in der Folge stillschweigend an.

In der Herbstsession 2022 nahm auch der Ständerat die Motion der SPK-NR zur Wahrung des Stimmgeheimnisses für Menschen mit Sehbehinderung an. Die SPK-SR befürworte das Anliegen einstimmig, berichtete Kommissionssprecher Daniel Fässler (mitte, AI) der kleinen Kammer. Viele Kommissionsmitglieder seien sich nicht bewusst gewesen, dass Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung bei der Wahrnehmung ihres Stimmrechts eingeschränkt seien. Über 250'000 Stimmberechtigte müssten deswegen Hilfe von Dritten annehmen. Die Kommission unterstütze die Forderung nach Abstimmungsschablonen, weil damit das Stimmgeheimnis für Menschen mit Sehbehinderung gewahrt werden könne. Diese einfache und pragmatische Lösung sei ein Beitrag zum Abbau der Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, wie dies vom Behindertengleichstellungsgesetz und vom internationalen Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verlangt werde. Bundeskanzler Walter Thurnherr bekräftigte, dass auch der Bundesrat den Vorstoss unterstützte, und erinnerte daran, dass grundsätzlich die Kantone dafür verantwortlich seien, dass politische Rechte von allen Stimmberechtigten wahrgenommen werden können. Die kleine Kammer überwies die Motion in der Folge ohne Diskussion.

Pour une armée, un service civil et une protection civile plus inclusifs (Mo. 22.4347)

Dossier: Alimentierung der Armee

Une motion traitant du service au pays a été déposée au Conseil national par Rocco Cattaneo (plr, TI). La motion demande la modification de la loi fédérale sur la protection de la population et sur la protection civile (LPPCi) afin de créer de nouvelles opportunités pour les personnes souhaitant servir le pays. Ainsi, il serait question d'assouplir les assignations des personnes déclarées inaptes en leur laissant la possibilité de s'engager non seulement pour l'armée – ce qui est possible depuis 2013 déjà – mais aussi pour la protection civile ou le service civil si elles en font la demande. Avec cet objet, le député Cattaneo veut en particulier permettre aux personnes en situation de handicap d'effectuer un service au sein du service civil ou de la protection civil. Ces dernières sont souvent considérées d'office comme inaptes, alors même qu'elles ont l'envie de s'engager, affirme le parlementaire tessinois
Le Conseil fédéral s'est opposé à une telle mesure. D'une part, il avance que la CIVI – autorité de la Confédération responsable de toutes les questions relatives au service civil – n'est pas capable d'effectuer les examens nécessaires, afin de juger l'état psychique et physique des candidats au service civil, pour garantir la sécurité de toutes les personnes impliquées durant l'engagement. D'autre part, en raison de la structure de la protection civile, une telle modification ne serait pas possible avec la législation actuelle. En effet, chaque personne engagée dans la protection civile doit être capable d'effectuer toutes les tâches. Pour changer ceci, il faudrait introduire une sélection différenciée au niveau cantonal. Le Conseil national a, malgré la position du Conseil fédéral, accepté la motion par 118 voix contre 71. Les oppositions provenaient de l'UDC et d'une petite majorité du groupe du Centre.

Le Conseil des Etats a rejeté la motion Cattaneo (plr, TI), qui visait une plus grande inclusion des personnes handicapées dans le cadre d'un service au pays. Pour être précis, la motion demandait que les personnes déclarées inaptes pour l'armée, puissent être attribuées de manière différenciée pour servir, à leur demande, dans la protection civile et le service civil.
La chambre des cantons s'est alignée sur sa commission (CPS-CE) pour rejeter la motion. Parmi les arguments entendus en plénum, il a principalement été question de la mise en œuvre difficile d'une telle mesure. Il aurait fallu un suivi des dossiers plus étendu, demandant du temps supplémentaire. De plus, une telle motion nécessiterait un changement de la Constitution, sans lequel les mesures ne seraient pas légales. En effet, la définition du service civil ne concerne actuellement que les personnes ne voulant pas servir dans l'armée et non celles qui veulent mais ne peuvent pas servir. Lors des débats, les défenseurs de la motion ont montré de la frustration. Daniel Jositsch (ps, ZH) s'est exprimé ainsi face à l'argumentaire de la majorité : «Die Gründe dafür scheinen mir ehrlich gesagt wenig überzeugend zu sein: Wie ausgeführt, ist das aus gesetzlichen Gründen nicht möglich, weil die Verfassung das nicht vorsieht. Ich bin der letzte, der kein Verständnis für juristische Argumente hat, und ausserhalb dieses Hauses würde ich Ihnen absolut recht geben.» Il a aussi rappelé que l'armée a actuellement de la peine à motiver les jeunes à servir leur pays et que le refus de cette motion refoulerait des volontaires qui ne sont pas obligés de servir, de par leur condition, mais souhaitent tout de même s'engager. De plus, Charles Juillard (JU, centre) a rappelé que l'initiative pour un service citoyen était toujours sur le tapis et que les débats n'étaient pas terminés.
Ceci n'a cependant pas convaincu les 22 sénateur.trice.s (contre 13 et 3 abstentions) qui se sont opposés à la motion.