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Allgemeine Chronik
Überblick
Das internationale politische Klima war 1986 durch eine zunehmende Entspannung zwischen den Supermächten gekennzeichnet; die regionalen Krisenherde belasteten aber den Weltfrieden weiterhin. Das Weltwirtschaftssystem litt unter der Schwäche der amerikanischen Währung und unter der enormen Auslandverschuldung von Staaten der Dritten Welt; beide Störungsfaktoren hatten auch ihre Rückwirkungen auf die Schweiz. Weit empfindlicher, ja schockartig wurde die schweizerische Bevölkerung jedoch von der Katastrophe im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl betroffen. Gewissermassen ein Gegenstück dazu bildete der Grossbrand eines Chemielagers der Sandoz in Schweizerhalle bei Basel, der katastrophale Umweltschäden bis nach Holland hinunter verursachte. Noch vor diesen beiden Ereignissen, welche die enge Verflechtung unseres Landes mit dem übrigen Europa demonstrierten, führten mangelndes Verständnis für die Bedeutung einer politischen Weltorganisation sowie ein weitverbreitetes Misstrauen gegenüber internationalen Entscheidungsinstanzen zu einem massiven Volksnein gegen einen UNO-Beitritt.
Die Atomkatastrophe von Tschernobyl und der Chemiebrand von Schweizerhalle hatten eine Bewusstseinsveränderung zur Folge, die sich auf das politische Leben auswirkte. Der bis dahin in Behörden und Volk dominierende Glaube an die Sicherheit grosstechnologischer Anlagen wurde erschüttert. Der Bau weiterer Kernkraftwerke erschien in weitesten Kreisen auf einmal nicht mehr erstrebenswert oder mindestens nicht opportun.
Die Wirtschaft erfreute sich wie in den meisten anderen Industriestaaten einer günstigen Konjunktur. Diese verminderte die Arbeitslosigkeit noch weiter und führte, durch das Zusammentreffen besonderer Umstände verstärkt, der Bundeskasse unerwartete Einnahmen zu.
Die innenpolitischen Kräfteverhältnisse entwickelten sich im Sinne der bisherigen Trends. Der Aufschwung der nationalistischen Rechten wurde aber infolge stark personalisierter innerer Divergenzen gedämpft, während die grünen Gruppen in den kantonalen und kommunalen Wahlen die grössten Gewinne erzielten. Auf die eidgenössischen Wahlen von 1987 hin interessierten sich deshalb alle Parteien vermehrt für Umweltanliegen. Im Freisinn wie in der Sozialdemokratie versuchte man jedoch auch der neuen technologischen Entwicklung Rechnung zu tragen.
In den eidgenössischen Volksabstimmungen ernteten sowohl die behördlichen Vorlagen wie die Initiativvorstösse wenig Erfolg. Nur eine Erweiterung des Mieterschutzes wurde — der geringen Verbreitung des Wohneigentums entsprechend — gutgeheissen. Ausser dem UNO-Beitritt blieb auch die Ausdehnung der Zuckeranbaufläche, die mit einer Verteuerung des Zuckers verbunden gewesen wäre, auf der Strecke, wodurch die offizielle Landwirtschaftspolitik — trotz Unterstützung durch die bürgerlichen Parteien — desavouiert wurde. Die Volksbegehren hatten keine Chance: Die Stimmbürger verwarfen sowohl eine etatistische Alternative zum traditionellen Berufsbildungssystem aus Kreisen der radikalen Linken wie eine Verschärfung der Schwerverkehrsabgabe auf Vorschlag von Umweltschützern, und die Verpflichtung des Bundes zur Kulturförderung scheiterte infolge der Aufspaltung der Befürworter auf Initiative und Gegenentwurf.
Die parlamentarische Tätigkeit zeitigte vor allem im Verkehrsbereich Ergebnisse. So verabschiedeten die eidgenössischen Räte neue Verfassungsartikel über Koordination und Finanzierung der Verkehrsträger, die auch deren Einwirkungen auf die Umwelt berücksichtigen. Sodann erhielt der Ausbau des Eisenbahnnetzes (Bahn 2000) eine gesetzliche Grundlage; zugleich wurden Finanzlage und Konkurrenzfähigkeit der SBB durch eine Revision ihres Leistungsauftrags sowie durch grosszügige Tarifreduktionen verbessert. Das geplante Nationalstrassennetz wurde jedoch nicht wesentlich reduziert. Die Verkehrsartikel unterliegen allerdings dem obligatorischen Referendum, und gegen das Projekt «Bahn 2000» wie auch gegen die umstrittenen Nationalstrassenstücke werden auf dem Wege des fakultativen Referendums bzw. der Volksinitiative plebiszitäre Entscheide angestrebt.
Im Sinne einer Ergänzung des Sozialstaates einigten sich die eidgenössischen Räte ferner auf eine Teilrevision der Invalidenversicherung. Dagegen scheiterte eine Reform im Kleinkreditwesen, indem der hiefür vorgesehene Gesetzesentwurf nach fortgesetzter Demontage in den Räten schliesslich überhaupt fallengelassen wurde. Zugunsten bedrängter Wirtschaftszweige — bodengebundene Landwirtschaft und Kleindetailhandel — kamen mit den Revisionen des Landwirtschaftsgesetzes und des Gesetzes über den unlauteren Wettbewerb nur minimale Verbesserungen der Schutzvorkehren zustande. Bedenkenloser stimmte das Parlament Staatsinterventionen zur Förderung der Informatik und der Ingenieurwissenschaften zu. Eine Verschärfung des Asylgesetzes trug den Wahlerfolgen der nationalistischen Parteien Rechnung. Mit einer verfassungsmässigen Neuregelung für Doppelabstimmungen über Volksbegehren und Gegenentwurf boten die Räte endlich Hand zu einer Verstärkung des Initiativrechts. Auch über diese beiden letzten Beschlüsse stand am Jahresende die Sanktion durch den Volksentscheid (fakultatives bzw. obligatorisches Referendum) noch aus.
Bemühungen des Bundesrates und seines Finanzministers Stich um eine dauerhafte Sanierung der Bundesfinanzen blieben erfolglos. Auch der Versuch, mit einer vorsorglich in Kraft gesetzten Heizölzollerhöhung zu den von Unternehmerschaft und Freisinn geforderten Steuererleichterungen eine Kompensation zu schaffen, wurde vom Parlament zurückgewiesen. Auf Jahresende erfuhr die Landesexekutive eine wesentliche personelle Veränderung, nachdem ihre beiden christlichdemokratischen Mitglieder, darunter die dominierende Gestalt Kurt Furglers, zurückgetreten waren. Für die Wahl einer zweiten Frau erwies sich die Konstellation als ungünstig; dem Anspruch des italienischen Sprachgebiets wurde der Vorrang gegeben. Auf kantonaler Ebene kam es erstmals seit den vierziger Jahren wieder zur Bildung einer Regierung mit nichtbürgerlicher Mehrheit, als die Wahlen im Kanton Bern — vor allem im Zusammenhang mit der dortigen Finanzaffäre — zu einer Veränderung der parteipolitischen Zusammensetzung führten.
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