Allgemeine Chronik
Überblick
Obwohl die schweizerische Eidgenossenschaft im Berichtsjahr ihr 700jähriges Bestehen feierte, stand das politische Jahr keineswegs im Zeichen der Rückschau und der Konsolidierung. Die raschen Veränderungen im internationalen Staatengeftige mit der nach dem fehlgeschlagenen August-Putsch eingeleiteten Auflösung der Sowjetunion einerseits und der zunehmend dominierenden Rolle der EG im europäischen Integrationsprozess andererseits liessen jahrhundertealte Grundpfeiler schweizerischer Politik, wie sie Neutralität und Bündnisfreiheit darstellen, ins Wanken geraten. Aber auch innenpolitisch bröckelte am Bild der stabilen Schweiz Lack ab: während Arbeitslosigkeit und Inflation auf ungewohnte Höhen anstiegen, erlitten die Regierungsparteien bei den Nationalratswahlen zum Teil massive Verluste zugunsten populistischer Rechtsparteien.
In der Kampagne für die nationalen Wahlen vom 20. Oktober versuchten die beiden grossen bürgerlichen Regierungsparteien FDP und CVP eindeutige Stellungnahmen zu kontroversen Themen wie etwa Europapolitik oder Asylpolitik zu vermeiden. Trotz – oder infolge? – dieser Strategie bröckelte ihre Wählerbasis weiter ab und erreichte den tiefsten Stand seit der Einführung des Proporzwahlsystems. Auch die SP war wenig erfolgreich; sie vermochte aber immerhin ihren 1975 eingeleiteten Krebsgang zu stoppen. Nicht vom Erosionsprozess der bürgerlichen Regierungsparteien wurde hingegen die SVP erfasst: auch wenn sie keine Sitze gewinnen konnte, erreichte sie doch ihr bestes Resultat der letzten zwanzig Jahre. Allerdings gilt es hier zu differenzieren. Zulegen konnte sie nur dort, wo sie sich als stramm rechtsbürgerliche Partei profilierte; wo sie mit dem Habitus einer gemässigten Regierungspartei auftrat, blieb auch sie von Einbussen nicht verschont.
Nutzniesser dieser Entwicklung waren die linken und rechten Nichtregierungsparteien. Auf der Linken profitierte die Grüne Partei mehr noch als die SP vom Auflösungsprozess der kleinen Linksparteien und konnte ihre Stellung als stärkste Nichtbundesratspartei konsolidieren. Mehr Aufsehen erregten allerdings die Gewinne der deutlich rechts stehenden Parteien. Deren Polemik gegen die Beteiligung der Schweiz an der europäischen Integration und gegen die als zu lasch empfundene schweizerische Asyl- und Drogenpolitik sprach offenbar nicht nur Neuwähler an, sondern auch Personen, welche bisher den bürgerlichen Regierungsparteien ihre Stimme gegeben hatten.
Auch in der Europafrage geriet einiges in Bewegung. Im Oktober konnten die Europäische Gemeinschaft und die EFTA ihre fast dreijährigen Beratungen über einen gemeinsamen Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zum Abschluss bringen. Dieser EWR wird – nach der Ratifizierung durch die Unterzeichnerstaaten – das Binnenrnarktprogramm der EG mit dem freien Verkehr von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Personen sowie einen guten Teil der flankierenden Massnahmen auf die Staaten der EFTA ausweiten. Dabei müssen die Schweiz und die übrigen EFTA-Staaten nicht nur ihre Gesetze an bestehendes EG-Recht anpassen, sondern sich auch verpflichten, die zukünftige binnenmarktrelevante EG-Gesetzgebung zu übernehmen. Die Schweiz musste im Verlauf der Verhandlungen im materiellen Bereich – so etwa in der Ausländerpolitik und beim Umweltschutz – einige wichtige Zugeständnisse machen. Angesichts der Tatsache, dass der EWR-Vertrag die Gefahr einer Diskriminierung der schweizerischen Exportwirtschaft bannt und gleichzeitig die Landwirtschaftspolitik davon nicht tangiert ist, scheinen diese Konzessionen aber akzeptabel. Wesentlich schwieriger wird es jedoch sein, im Volk eine Mehrheit für die institutionelle Regelung der Fortentwicklung des im EWR geltenden Rechts zu finden. Die ursprünglich auch vom EG-Kommissionspräsidenten Delors genährte Hoffnung, dass den EFTA-Staaten dabei mehr als nur ein Anhörungsrecht zugestanden würde, erfüllte sich nicht.
Wohl nicht zuletzt aus dem Grund, weil im institutionellen Bereich die Verhandlungsresultate wenig befriedigend ausgefallen waren, ging der Bundesrat im Oktober in die Offensive. Unmittelbar vor der Vertragsunterzeichnung erklärte er den Vollbeitritt zur Europäischen Gemeinschaft zum Ziel schweizerischer Europapolitik. Dieser Kurswechsel des Bundesrates, welcher noch 1988 einen EG-Beitritt abgelehnt hatte, stiess nur gerade bei den Sozialdemokraten – die sich ihrerseits schon im Frühjahr für einen Beitritt ausgesprochen hatten – auf Zustimmung. Die in der Beitrittsfrage noch unentschlossenen Freisinnigen und Christlichdemokraten kritisierten das Vorprellen der Landesregierung als zumindest taktisch ungeschickt. Der. Juniorpartner in der Regierung, die SVP, hatte sich trotz seines europafreundlichen Bundesrats ohnehin bereits als Beitrittsgegner profiliert.
Von der Europapolitik bestimmt war auch die Verkehrspolitik. Die Schweiz stand dabei insofern unter Druck, als die EG den Abschluss eines Transitabkommens zur Vorbedingung für einen EWR-Vertrag machte. Trotz dieser Konstellation wurde das Verhandlungsergebnis von den schweizerischen Behörden äusserst positiv gewertet. Unter der Voraussetzung, dass die Schweiz genügend Transportkapazität auf der Schiene anbietet, wird sie ihre Restriktionen gegen den Strassenschwerverkehr weitgehend beibehalten dürfen. Diese Vorgabe wird die Schweiz freilich nur erfüllen können, wenn sie ihr Schienennetz ausbaut. Das Parlament zeigte sich dazu bereit und stimmte dem Bau von zwei neuen Eisenbahnbasistunnels durch den Gotthard resp. den Lötschberg zu. Nach einem Referendum der Grünen Partei hat in dieser Sache das Volk das letzte Wort.
Obwohl die Ersetzung der Warenumsatzsteuer durch eine EG-konforme Mehrwertsteuer im Zentrum der Bundesfinanzreform stand, hatte deren Ablehnung in der Volksabstimmung kaum europapolitische Gründe. Gemäss Meinungsumfragen gab vielmehr ein allgeméines Unbehagen über die Steuerbelastung den Ausschlag für das Scheitern dieses dritten Anlaufs innert 14 Jahren, eine definitive. Verfassungsgrundlage für die Bundessteuern zu schaffen.
Die Ablehnung der neuen Bundesfinanzordnung führte gewisse Schwächen der in der Schweiz gepflegten halbdirekten Demokratie vor Augen. Einmal mehr zeigte es sich, dass es schwierig ist, für komplexe, auf einer Vielzahl von Kompromissen beruhende Vorlagen im Volk eine Mehrheit zu finden. Sowohl die an der Aushandlung beteiligten Parlamentarier als auch die nationalen Parteispitzen sind sich des in solchen Fällen notwendigen Interessenausgleichs bewusst. Bereits bei der Parolenfassung der kantonalen Parteien rückt dieser Aspekt jedoch in den Hintergrund. Die daraus resultierenden widersprüchlichen Positionen der politischen Parteien öffnen die Bahn für die Verbände, welche – das ist ihre Aufgabe und ihnen deshalb auch nicht vorzuwerfen – Partikulärinteressen vertreten. Die Summe der dabei mobilisierten und oft gegensätzlich motivierten Nein-Stimmen reicht nicht selten aus, um an sich sinnvolle und ausgewogene Vorhaben zu Fall zu bringen. Nun, das Funktionieren der direktdemokratischen Rechte wird im Rahmen der schweizerischen Europapolitik – welche Richtung sie auch immer einschlagen mag – ohnehin zu überprüfen sein. Gleiches gilt aber auch für die anderen politischen Institutionen. Wenn sich die Schweiz in Zukunft nicht darauf beschränken will, die Beschlüsse Brüssels nachzuvollziehen, sondern bei der Neugestaltung Europas – und damit auch der Schweiz – eine aktive Rolle anstrebt, kann sie sich weder ein Parlament noch eine Regierung leisten, die unter Zeitmangel und ungenügenden Infrastrukturen leiden.