Parteien, Verbände und Interessengruppen
Verbände und übrige Interessenorganisationen
Der Vorort lehnte die Bundesfinanzreform trotz der darin vorgesehenen Abschaffung der Taxe occulte ab. – Der Gewerbeverband bekämpfte die Bundesfinanzreform ebenfalls und kündigte die Lancierung einer Volksinitiative zur Abschaffung der Direkten Bundessteuer an. – Die Gewerkschaften forderten die rasche Einreichung eines EG-Beitrittsgesuchs. – Der VCS verzichtete auf die Unterstützung des Referendums der Grünen Partei gegen die NEAT.
Unternehmer
Einiges Aufsehen erregte die Nein-Parole des
Vororts des Schweizerischen Handels- und Industrie-Vereins zum Finanzpaket. Unternehmerverbände wichtiger exportorientierter Branchen wie die Maschinenindustrie hatten sich zuvor, wegen der vorgesehenen Abschaffung der steuerlichen Belastung auf Betriebsmitteln und Investitionen (Taxe occulte) für das Finanzpaket ausgesprochen. Der Vorort begründete seinen Entscheid damit, dass er einen Wechsel zum Mehrwertsteuersystem wohl begrüssen würde, dass er aber das Kompromisspaket nicht unterstützen könne, weil auf einen gleichzeitigen Abbau der Direkten Bundessteuer verzichtet worden sei
[1]. Der Arbeitgeberverband vertrat die gleiche Position wie der Vorort, während die Bankiervereinigung, welche primär an dem mit der Finanzreform gekoppelten Stempelsteuerabbau interessiert war, Zustimmung empfahl
[2].
In einer ersten Stellungnahme äusserte sich der Vorort grundsätzlich positiv zum EWR-Vertrag; einen
Beitritt zur EG bezeichnete er hingegen als nicht vordringlich. Unabhängig von den integrationspolitischen Entscheiden muss sich nach Ansicht des Vororts die Schweiz durch ein umfassendes marktwirtschaftliches Liberalisierungsprogramm erneuern. Nur so könne es der Wirtschaft gelingen, auch in Zukunft im härter gewordenen internationalen Wettbewerb zu bestehen
[3].
Der
Schweizerische Gewerbeverband (SGV), der schon 1977 und 1979 massgeblich zum Scheitern der Bundesfinanzreform beigetragen hatte,
bekämpfte auch das am 2. Juni dem Volk vorgelegte Finanzpaket. Grundsätzlich kritisierte er die unveränderte Beibehaltung der Direkten Bundessteuer. Besonders stark war die Opposition einzelner Branchenverbände (Coiffeure, Wirte), deren Leistungen der neuen Mehrwertsteuer unterstellt worden wären
[4]. An seinem Kongress in Bern vom 25. September kündigte der SGV an, dass er 1992 eine Volksinitiative zur Abschaffung der Direkten Bundessteuer bis zum Jahr 2002 lancieren werde
[5]. Von den Referenden, die gegen Parlamentsbeschlüsse der Herbstsession lanciert wurden, unterstützte der SGV offiziell dasjenige gegen das bäuerliche Bodenrecht. Allerdings verschickte er auch Unterschriftenbogen gegen die Parlamentsreform und den Beitritt zum IWF
[6].
Obwohl sich der scheidende Präsident Kündig am Kongress im September noch relativ positiv zum EWR-Vertrag geäussert hatte, beantragte im November der Vorstand des SGV der Gewerbekammer, welche für die definitive Stellungnahme zuständig ist, den EWR abzulehnen
[7].
Nach neunjähriger Amtszeit trat der Zuger CVP-Ständerat Kündig vom
Präsidium des SGV zurück. An seine Stelle wurde am Gewerbekongress vom 25. September in Bern der freisinnige Nationalrat und Präsident des Schweizerischen Drogistenverbandes,
Hans-Rudolf Früh (AR) gewählt
[8].
Landwirtschaft
Zum EWR — welcher auf eine Integration der Agrarmärkte verzichtet — äusserte sich der Schweizerische Bauernverband (SBV) grundsätzlich positiv. Allerdings warnte die Delegiertenversammlung des Zentralverbandes schweizerischer Milchproduzenten davor, den EWR als Vorstufe zu einem
EG-Beitritt zu sehen. Da ein Beitritt von den Spitzen der Bauernverbände als Existenzbedrohung der schweizerischen Landwirtschaft beurteilt wird, müsste ihrer Ansicht nach auch ein als Vorbereitungsphase für eine EG-Vollmitgliedschaft konzipierter EWR-Vertrag bekämpft werden
[9].
Der Schweizerische Bauernverband unterstützte die vom Volk am 2. Juni abgelehnte Bundesfinanzreform. Zu den anderen zur Abstimmung gelangenden Vorlagen nahm er nicht Stellung.
Die Vereinigung kleiner und mittlerer Bauern (VKMB) konnte in den eidgenössischen Wahlen vom Herbst einen Erfolg erzielen, indem ihr Co-Präsident Ruedi Baumann im Kanton Bern als Kandidat der Freien Liste (GPS) in den Nationalrat gewählt wurde. Der Direktor des SBV, Melchior Ehrler, welcher im Aargau für die CVP kandidiert hatte, verpasste hingegen den Einzug ins Bundeshaus knapp.
Arbeitnehmer
Der
vom SGB initiierte gesamtschweizerische Frauenstreik vom 14. Juni wurde zu einer eindrücklichen Kundgebung für die Gleichstellung der Frau in der Gesellschaft und in der Arbeitswelt. Nach Angaben der Organisatorinnen beteiligten sich rund 500 000 Frauen in der einen oder anderen Form an diesem Anlass
[10].
Die Klage von 22 Gewerkschafterinnen gegen ihre eigene Gewerkschaft Druck und Papier wegen des Abschlusses eines Gesamtarbeitsvertrags, welcher für ungelernte Frauen tiefere Löhne als für Männer vorsah, war erfolgreich. Der Appellationshof des bernischen Obergerichtes erklärte die gewerkschaftliche Urabstimmung über den Gesamtarbeitsvertrag für ungültig, weil dieser gegen das in Artikel 4 BV festgelegte Lohngleichheitsprinzip verstösst
[11].
Von den vier der Volksabstimmung unterbreiteten Vorlagen erhielten das Stimmrechtsalter 18, die LdU-Initiative für den öffentlichen Verkehr und die Finanzreform die Unterstützung sowohl des SGB als auch des CNG und der Vereinigung schweizerischer Angestelltenverbände (VSA). Der SGB lehnte hingegen die Entkriminalisierung der Dienstverweigerung als zuwenig weit gehend ab; die VSA sprach sich dafür aus und der CNG verzichtete auf eine Parole
[12]. Der SGB reichte die 1990 gemeinsam mit der SP lancierte Volksinitiative für einen Ausbau der AHV ein. Ebenfalls gemeinsam mit der SP ergriff er im Herbst das Referendum gegen die Revision des Stempelsteuergesetzes
[13].
Nachdem sich die Delegierten des SGB bereits im Vorjahr
positiv zu einem EG-Beitritt geäussert hatten, forderte der SGB im August den Bundesrat zur raschen Einreichung eines Beitrittgesuchs auf. Er drohte, dass er Ohne ein solches Gesuch den EWR-Vertrag nicht unterstützen werde. Auch die grösste Gewerkschaft des CNG, der Christliche Bau- und Holzarbeiterverband (CHB) forderte an seinem Kongress vom 7. September in Zürich die Einreichung eines Beitrittgesuchs
[14].
Die
Restrukturierungs- und Konzentrationsbestrebungen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung wurden auch im Berichtsjahr fortgesetzt. In der
graphischen Branche beschlossen die Gewerkschaft Druck und Papier (GDP) und der Schweizerische Lithographenbund, mit der Bildung einer gemeinsamen Dachorganisation ihrer bisher losen Zusammenarbeit einen verbindlichen Rahmen zu geben
[15]. Die Gewerkschaft Bau und Holz (GBH), mit mehr als 120 000 Mitgliedern grösste Einzelgewerkschaft im SGB, reagierte positiv auf die Fusionswünsche der Gewerkschaft Textil, Chemie, Papier (GTCP). Sie gab an ihrem Kongress im Oktober in Genf bekannt, dass sie sich spätestens 1993 mit der rund zehnmal kleineren GTCP zu einer neuen Gewerkschaft vereinigen wolle. Zum neuen Präsidenten wählte die GBH anstelle des altershalber zurücktretenden Roland Roost den Tessiner Vasco Pedrina
[16].
Der konjunkturelle Einbruch hat den Gewerkschaften 1991 noch keinen Mitgliederzuwachs gebracht. Der
Bestand des SGB reduzierte sich um 0,4% auf 442 314. Die im privaten Sektor tätigen Gewerkschaften des SGB mussten einen Rückgang um 4868 Mitglieder (-1,6%) in Kauf nehmen; betroffen davon war auch die in den letzten Jahren stetig expandierende GBH, welche aber mit 123 518 (-0,8%) Organisierten stärkste Einzelgewerkschaft blieb. Die Gewerkschaften des öffentlichen Sektors konnten hingegen eine Zunahme um 3297 (+2,3%) verzeichnen; mehr als die Hälfte davon ging auf das Konto des Eisenbahner-Verbandes (+3,2%). Der VPOD, der sich im Herbst in mehreren Kantonen mit Kampf- und Protestaktionen für die Gewährung des vollen Teuerungsausgleichs engagiert hatte, wuchs bis Ende 1991 um 559 Mitglieder (+1,3%)
[17].
Der
Christlichnationale Gewerkschaftsbund (CNG) konnte sein starkes Wachstum des Vorjahres nicht wiederholen. Obwohl der Christliche Bau- und Holzarbeiterverband seine Mitgliederzahl um 386 auf 48 450 steigern konnte, ging der Gesamtbestand um 2218 (-1,9%) auf 114 264 zurück
[18].
Andere Interessenorganisationen
Die Delegiertenversammlung des
Mieterverbandes der Deutschschweiz wählte am 22. Juni in Thun anstelle des in die Zürcher Regierung gewählten Moritz Leuenberger (sp) den Berner Rudolf Strahm zu ihrem neuen Präsidenten. Strahm, früher während sieben Jahren SP-Zentralsekretär und zur Zeit seiner Wahl Präsident des bernischen Mieterverbandes und Zentralsekretär der Naturfreunde Schweiz, schaffte im Herbst auf der SP-Liste auch den Sprung in den Nationalrat. Nachfolger Leuenbergers als Präsident des gesamtschweizerischen Mieterverbandes wurde der Tessiner Nationalrat Carobbio (sp)
[19].
Das Projekt einer Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) war beim
Verkehrs-Club der Schweiz (VCS) bereits 1988 anlässlich der Vernehmlassung umstritten gewesen. Der VCS hatte damals seine Unterstützung für die NEAT von begleitenden dirigistischen Eingriffen zur Umlagerung des Transitverkehrs von der Strasse auf die Schiene abhängig gemacht. Obwohl sich diese Forderung in den parlamentarischen Beratungen nicht durchsetzen konnte, verzichteten die Delegierten des VCS mit 52:28 Stimmen auf die Unterstützung des von der Grünen Partei lancierten Referendums
[20].
Ein jahrelanger Rechtsstreit zwischen dem VCS und dem Nutzfahrzeugverband ASTAG fand im Dezember vor dem Bundesgericht seinen Abschluss. Dieses entschied, dass
der VCS seinen französischen Namen AST (Association suisse des transports) wegen Verwechslungsgefahr nicht mehr tragen darf. Die welschen und italienischsprachigen Sektionen beschlossen daraufhin die Umbenennung in ATE (Association transports et environnement / Associazione traffico e ambiente)
[21].
Weiterführende Literatur
R. Epple, "Neue Formen politischer Mobilisierung", in SJPW, 31/1991, 151 ff.
M. Giugni, "Les impacts de la démocratie directe sur les nouveaux mouvements sociaux", in SJPW, 31/1991, S. 173 ff.
H. Kleinewefers, "Verbände und Demokratie", in Schweizer Monatshefte, 71/1991, S. 459 ff.
R. Fluder e.a., Gewerkschaften,und Angestelltenverbände in der schweizerischen Privatwirtschaft. Entstehung, Mitgliedschaft, Organisation und Politik seit 1940, Zürich 1991.
[1] SHIV Info, April/Mai, 1991. Vgl. auch Ww, 11.4. und 23.5.91. Die LdU-Initiative für den öffentlichen Verkehr empfahl der Vorort zur Ablehnung.
[2] AT, 24.5.91 (Arbeitgeber); TA, 8.4.91 (Banken).
[3] NZZ, 7.12.91; Presse vom 13.12.91. Vgl. auch Schweiz. Handels- und Industrie-Verein, Für eine wettbewerbsfähige Schweiz von morgen. Ein wirtschaftspolitisches Leitbild, Zürich 1991 sowie oben, Teil I, 4a (Einleitung). Vgl. zum Vorort auch Politik und Wirtschaft, 1991, Nr. 7, S. 31 ff.
[4] Bund, 8.2.91. Vgl. auch BZ, 20.4.91 (Triponez). Die LdU-Initiative für den öffentlichen Verkehr empfahl der SGV zur Ablehnung (NZZ, 12.1.91).
[6] TA, 16.11.91; SGZ, 46, 14.11.91.
[7] NZZ, 19.11.91. Vgl. zum SGV auch Politik und Wirtschaft, 1991, Nr. 9, S. 27 ff.
[8] Bund, 8.2.91; Presse vom 26.9.91. Zu Früh siehe auch AT, 21.9.91; TA und SGT, 26.9.91; SHZ, 17.10.91.
[10] Presse vom 13.6.-15.6.91. Siehe dazu oben, Teil I, 7d (Stellung der Frau). Vgl. auch SPJ 1990, S. 342.
[11] TA, 27.2.91. Vgl. auch oben, Teil I, 7d (Stellung der Frau/Arbeitswelt) sowie SPJ 1990, S. 342.
[12] NZZ, 22.1. (VSA), 26.1. (SGB) und 8.2.91 (CNG); JdG, 9.4.91 (SGB); NZZ, 29.5.91 (Parolenspiegel).
[13] Siehe dazu oben, Teil I, 7c (Alters- und Hinterbliebenenversicherung) resp. 4b (Banken).
[14] SGB: NZZ, 28.8.91; siehe auch SPJ 1990, S. 342. CHB: TA, 9.9.91.
[16] NZZ, 25.10., 26.10. und 28.10.91; Presse vom 26.10.91. Zu den Fusionswünschen der GCTP siehe SPJ 1990, S. 342. Zu Pedrina siehe TA, 25.10.91 und VO, 7.11.91.
[17] LNN, 23.3.92; SGB Pressedienst, 12, 2.4.92.
[19] Strahm: NZZ, 9.4.91; BZ, 24.6.91. Carobbio: NZZ, 24.9.91. Vgl. zu Strahm auch SHZ, 8.8.91.
[20] VCS-Zeitung, 1991, Nr. 8, S. 5 und Nr. 10, S. 4 ff. Siehe auch oben, Teil I, 6b (Chemins de fer) und SPJ 1988, S. 335.
[21] VCS-Zeitung, 1992, Nr. 1/2, S. 27.