<<>>
Allgemeine Chronik
Überblick
Die Frage nach der Rolle, welche die Schweiz im Rahmen der europäischen Integration spielen soll, dominierte während des ganzen Jahres die politische Diskussion. Am 2. Mai unterzeichnete der Bundesrat zusammen mit den Regierungen der anderen EFTA- und der EG-Staaten den Vertrag über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Nur kurz danach reichte er in Brüssel ein formelles Gesuch um die Aufnahme von Verhandlungen über den EG-Beitritt ein. Sein Hauptargument für diesen Kurswechsel – noch 1988 hatte er einen solchen Schritt abgelehnt – war, dass die Schweiz nicht abseits stehen könne, wenn sich die EG durch die Aufnahme neuer Mitglieder zu einer gesamteuropäischen Organisation entwickle. Zudem sei es auch wichtig, die Beitrittsverhandlungen parallel zu denjenigen der anderen' Staaten der EFTA zu führen, um bei der Definition der Rolle der Neutralen innerhalb der EG mitreden zu können.
Im Vordergrund der politischen Debatte stand aber nicht der EG-Beitritt, sondern die Auseinandersetzungen über die Unterzeichnung des EWR-Vertrags. Dieser Vertrag passierte die beiden Parlamentskammern relativ problemlos; der Nationalrat stimmte ihm mit 128 :58 Stimmen und der Ständerat gar mit 38:2 Stimmen zu. Für den EWR-Vertrag sprachen sich die drei grossen Regierungsparteien, die LdU/EVP-Fraktion und die Liberalen aus. Dagegen waren die SVP, die GP und die nationalistische Rechte. Die Anpassung der schweizerischen Gesetzgebung an die vom "acquis commuautaire" der EG vorgegebenen Bestimmungen stellte ebenfalls keine unüberwindbaren Hürden. Die materiell bedeutsamen Änderungen beschränkten sich im wesentlichen auf den freien Personenverkehr und auf den Grundstückerwerb durch Ausländer. Sonst zeigte sich aber, dass das für den europäischen Binnenmarkt relevante schweizerische Recht weitgehend mit demjenigen der EG kompatibel ist.
Die Schwierigkeiten kamen erst jetzt, denn neben Liechtenstein war die Schweiz das einzige Land, in dem über den EWR-Vertrag eine Volksabstimmung durchgeführt werden musste. Nicht erst die Abstimmungen in Dänemark und Frankreich über den Maastricht-Vertrag hatten gezeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger der Übertragung von nationalen Souveränitätsrechten auf eine supranationale Organisation wesentlich skeptischer gegenüberstehen als die Politiker. Dass dies in der Schweiz, wo das Volk noch 1986 den Vollbeitritt zur UNO deutlich verworfen hatte, anders sein würde, war nicht zu erwarten.
In der langen und ausserordentlich engagiert geführten Kampagne zur Volksabstimmung kristallisierten sich folgende Argumente heraus: Für die Befürworter, zu denen neben den erwähnten Parteien auch die Unternehmerverbände, die Banken und die Gewerkschaften gehörten, war eine Beteiligung am EWR unabdingbar, um zu vermeiden, dass sich die Schweiz im immer stärker integrierten Europa isoliert und ihre Exportwirtschaft, aber auch ihre Bürgerinnen und Bürger diskriminiert werden. Für die unter sich sehr heterogenen Gegner waren drei Aspekte wichtig. Die rechten Parteien kritisierten vor allem das Recht auf freie Niederlassung für Ausländer aus den EWR-Staaten. Die Grünen beanstandeten am EWR im allgemeinen das dahinterliegende Konzept des Wirtschaftswachstums und im speziellen die Politik der EG, Umweltschutzvorschriften, welche über ihre eigenen Vorschriften hinausgehen, als nicht erlaubte Handelshemmnisse zu betrachten. Alle Gegner waren sich zudem in ihrer Ablehnung des Verfahrens für die Entwicklung des zukünftigen EWR-Binnenmarktrechts einig, welches für die EFTA-Staaten ein Konsultations-, aber kein Mitbestimmungsrecht vorsieht.
Die Beteiligung an der EWR-Abstimmung vom 6. Dezember war mit 78,7% so hoch wie seit 1947 nicht mehr. Das Ergebnis fiel mit einem Nein-Überschuss von lediglich 26 000 Stimmen äusserst knapp aus, das ebenfalls erforderliche Ständemehr wurde allerdings deutlich verfehlt. Nicht in diesem Ausmass erwartet worden war die klare Spaltung zwischen dem französischsprachigen Landesteil, welcher dem EWR mit rund 75% zustimmte, und dem Rest der Schweiz, welcher ihn mit einem Nein-Stimmenanteil von etwa 55% ablehnte. Dass die Meinungen zu einer für die Zukunft der Schweiz derart wichtigen Frage so gegensätzlich sind, wurde auf beiden Seiten der Sprachgrenze als erschreckend und gefährlich empfunden. Etwas gemildert wurde dieser Schock dadurch, dass die Linie zwischen Ja und Nein nicht entlang der Sprachgrenze verlief, denn auch die Grossstädte der deutschsprachigen Schweiz und ihre Agglomerationen hatten dem EWR zugestimmt.
Die Vox-Analyse nach dem Urnengang zeigte, dass für das Auseinanderklaffen zwischen der Romandie und der übrigen Schweiz zu einem guten Teil das Verhalten der politisch wenig Interessierten ausschlaggebend gewesen war. In der Westschweiz schlossen sich diese weitgehend der vorbehaltlos EWR-freundlichen Haltung der Politiker und der Medien an. In der Deutschschweiz und auch im Tessin, wo einige sehr populäre Politiker für ein Nein warben, lehnten diese normalerweise politisch wenig engagierten Personen den EWR-Vertrag hingegen deutlich ab. Die Analyse zeigte aber auch auf, dass für die meisten Bürgerinnen und Bürger der Entscheid im Endeffekt nicht das Resultat eines kühlen Abwägens zwischen Vor- und Nachteilen gewesen war, sondern eher Ausdruck ihrer Vorstellungen über das Wesen der Schweiz und damit auch über einen wichtigen Teil ihrer eigenen Identität.
Die knappen Mehrheitsverhältnisse bei der EWR-Abstimmung, aber auch Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass eine isolationistische Politik ebensowenig mehrheitsfähig wäre, wie eine forcierte Integration in die EG. Die Stimmbürger haben im Berichtsjahr immerhin dem Beitritt zum Internationalen Währungsfonds und zur Weltbank zugestimmt, und am 27. September hiessen sie den vom Parlament im Vorjahr beschlossenen Bau von zwei neuen Eisenbahntunnels durch die Alpen gut. Dieses auf rund 15 Mia Fr. budgetierte Bauwerk wird in erster Linie dazu dienen, den Transitverkehr zwischen den nördlichen EG-Staaten und Italien von der Strasse auf die Schiene zu verlagern.
Das zweitwichtigste politische Thema neben der europäischen Integration war die sich erneut verschlechternde wirtschaftliche Lage. Die Zahl der Arbeitslosen stieg bis Jahresende von 60 000 auf 130 000. Damit erreichte die Arbeitslosenquote eine seit der Wirtschaftskrise der dreissiger Jahre nicht mehr gesehene Höhe von 3,7%. Die anhaltend restriktive Geldmengenpolitik der Nationalbank verzeichnete hingegen bei der Teuerungsbekämpfung Erfolge, sank doch die Inflationsrate von 5,9% auf 3,4%. Während die Gewerkschaften und die SP erfolglos die Verabschiedung von Konjunkturstützungsprogrammen verlangten, nahmen die bürgerlichen Parteien die Krise – aber auch die Ablehnung des EWR-Vertrags – zum Anlass, unter dem Stichwort Deregulierung eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu fordern.
Nur drei Jahre nach der Abstimmung über die Abschaffung der Schweizer Armee zeichnete sich eine neue grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen Armeegegnern und -befürwortern ab. Anlass dazu bot der vom Parlament bewilligte Kauf von 34. Kampfflugzeugen des Typs F/A-118. Die "Gruppe für eine Schweiz ohne Armee" lancierte dagegen eine Volksinitiative, welche verlangt, dass die Armee bis zum Jahr 2000 überhaupt keine neuen Flugzeuge kaufen darf. Angesichts der grossen Kosten des F/A-18 war es für die Initianten kein Problem, in kurzer Zeit weit mehr als die nötigen 100 000 Unterschriften zu sammeln.
Die vielen Referenden, die im Vorjahr gegen Parlamentsbeschlüsse ergriffen worden waren, zeitigten nur geringe Auswirkungen. Bei den insgesamt zehn Volksabstimmungen, welche aufgrund dieser Referenden im Berichtsjahr durchgeführt worden sind, wurde das Parlament nur gerade zweimal von den Bürgern desavouiert; bezeichnenderweise geschah dies beim Versuch, die eigene Arbeitssituation und die Entschädigung zu verbessern.
top