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Sozialpolitik
Bevölkerung und Arbeit
Zwischen 1980 und 1990 stieg die Wohnbevölkerung der Schweiz deutlich stärker als jene der anderen europäischen Länder. – Die Arbeitslosenquote erreichte den höchsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg. Ende Jahr waren fast 2% der aktiven Bevölkerung ohne Arbeit. – Nach einem leichten Rückgang im Vorjahr erhöhten sich die Reallöhne wieder um 0,9%, doch wurde für 1992 die Teuerung nur sehr unterschiedlich ausgeglichen.
Bevölkerungsentwicklung
Ein Jahr nach der Volkszählung präsentierte das Bundesamt für Statistik (BfS) die ersten provisorischen Resultate. Am Stichtag, dem 4. Dezember 1990, betrug die Wohnbevölkerung der Schweiz 6 873 687 Personen, 8% mehr als 1980. Damit ist die Einwohnerzahl der Schweiz in diesem Zeitraum deutlich stärker angestiegen als jene der anderen europäischen Länder. Im Dezennium 1970-1980 hatte die Zunahme lediglich 1,5 % betragen. Entgegen früheren Erhebungen geht der Bevölkerungszuwachs nur zu einem Drittel auf den Geburtenüberschuss zurück, zu zwei Dritteln wurde er durch Zuwanderung aus dem Ausland verursacht.
Zwischen den Kantonen zeigten sich deutliche Unterschiede. Während beispielsweise Aargau, Freiburg, Waadt, Wallis und Zug über 10% Zunahme verzeichneten, konnten Uri, Bern, Zürich und Jura nur geringfügig zulegen. Aufgrund der Bevölkerungsverschiebungen verlieren Bern und Zürich je einen Sitz im Nationalrat zugunsten der Kantone Aargau und Zug. Diese Änderungen gelten, unter Vorbehalt der definitiven Resultate, jedoch erst für die Nationalratswahlen von 1995.
Der Bevölkerungszuwachs der letzten zehn Jahre führte zu einer starken Ausdehnung von kleinstädtischen Pendlerregionen rund um die Grossstädte, weshalb die Verantwortlichen des BfS denn auch von einer "Verkleinstädterung" der Schweiz sprachen: Gab es 1980 noch 94 Städte mit über 10 000 Einwohnern, kamen bis 1990 gleich 14 neue dazu. Verluste hinnehmen mussten vor allem Klein- und Kleinstgemeinden mit weniger als 500 Einwohnern sowie grosse und mittlere Städte. Das BfS machte Massenmotorisierung, hohe Bodenpreise und fehlende Familienwohnungen in den Städten für diese deutlichen Veränderungen in der Siedlungsstruktur verantwortlich. Aber auch die gesellschaftlichen Umwälzungen hinterliessen ihre Spuren: Noch stärker als die Bevölkerung erhöhte sich die Zahl der Privathaushalte, nämlich um 17% auf 2,87 Mio Einheiten; die durchschnittliche Haushaltgrösse reduzierte sich von 2,6 auf 2,4 Personen [1].
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Arbeitswelt
Eine Untersuchung anhand von Daten der PTT-Angestellten ergab, dass die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer wegen Unfall oder Krankheit zwei bis dreimal weniger am Arbeitsplatz fehlen als ihre Landsleute aus der Romandie. Während im Kanton St. Gallen nur gerade 1,5% der Arbeitsplätze unbesetzt blieben, betrug diese Ziffer in Genf 4,5% (Gesamtdurchschnitt 3,5%). Die Zahl der Arbeitsversäumnisse lag in den Städten und den Gebieten nahe der Landesgrenze höher als in den ländlichen Regionen und im Landesinneren. Altere Menschen und Frauen verzeichnen einen höheren Absentismus als der Durchschnitt, wobei sich die Differenzen bei den Frauen über 45 Jahren verringern und ab 60 Jahren sogar ins Gegenteil verkehren [2].
Langsam gewinnt der Gedanke Platz, durch Telearbeit, d.h. die Dezentralisierung von Arbeitsplätzen mittels Telekommunikation, könnten wirtschaftlich schwache Randregionen gestärkt werden. Vor allem private Dienstleistungsbetriebe zeigten bisher Interesse an dieser neuen Arbeitsform. Aber auch beim Bund sind derartige Bestrebungen im Gang: das EMD will im Rahmen des Projekts "Koberio" Telearbeit in Randregionen auslagern und die PTT erwägen eine Dezentralisierung ihres Auskunftsdienstes. Die Gewerkschaften, vorab der VPOD, unterstützen zwar die Idee, warnten aber auch vor den Gefahren dieser neuen Form der Heimarbeit, die durch ungeregeltes, sozial isoliertes Arbeiten gekennzeichnet ist. Sie plädierten deshalb für die Einrichtung von eigentlichen Satellitenbüros mit mehreren Beschäftigten, wobei darauf zu achten wäre, dass diese neuen Arbeitseinheiten dem Arbeitsgesetz und nicht etwa dem Heimarbeitsgesetz unterstellt wären [3].
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Arbeitsmarkt
Die verschlechterte wirtschaftliche Lage zeigte rasch Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Während im ersten Quartal die Beschäftigung im Vergleich zum Vorjahr noch leicht anstieg und im zweiten Quartal stagnierte, setzte in der zweiten Jahreshälfte ein Rückgang ein, welcher im vierten Quartal -0,9% erreichte. Im Jahresmittel zählte man 0,3% weniger Beschäftigte als im Vorjahr. Damit ging eine siebenjährige Wachstumsperiode zu Ende, während der rund 300 000 neue Arbeitsplätze geschaffen worden waren. Der Dienstleistungsbereich konnte zwar noch einen leichten Zuwachs der Beschäftigung verzeichnen, im 2. Sektor kam es jedoch zu einem Abbau von 1,9%. Am stärksten war dabei das Baugewerbe (-2,3%) betroffen, aber auch in der verarbeitenden Produktion (-1,7%) kam es zu einem spürbaren Rückgang der Beschäftigung [4].
Die anhaltende Konjunkturschwäche führte dazu, dass im Oktober die Arbeitslosenquote mit 45 692 Personen oder 1,5% der aktiven Bevölkerung den höchsten Wert seit dem Zweiten Weltkrieg erreichte. Ende Jahr betrugen die Zahlen gemäss Biga 58 580 Frauen und Männer oder 1,9%, was gegenüber dem Vorjahr (25 141 Personen oder 0,8%) einer Zunahme um 133% entspricht. Frauen und Ausländer waren überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen. Praktisch sämtliche Kantone registrierten eine Erhöhung der Arbeitslosenzahlen. Allerdings verzeichneten jene Kantone in der West- und Südschweiz (Genf, Neuenburg, Tessin) einen besonders ausgeprägten Anstieg, die bereits früher überdurchschnittlich hohe Arbeitslosenquoten kannten. Unter dem Durchschnitt lag die Arbeitslosigkeit.weiterhin in der Inner- und Ostschweiz, aber auch Bern und Zürich wiesen noch relativ günstige Werte aus [5].
Die effektive Arbeitslosigkeit ist noch um einiges höher als vom Biga angegeben. Ende Februar 1992 veröffentlichte das Bundesamt für Statistik (BfS) erstmals eine eigene Erhebung über die Erwerbslosigkeit in der Schweiz. Nach dieser Studie, die sich auf eine repräsentative Umfrage abstützt, dürfte die Zahl der Stellensuchenden Ende Jahr bei rund 3% gelegen haben. Das BIS wandte eine von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) empfohlene, erweiterte Definition der Arbeitslosigkeit an, begnügte sich also nicht damit, wie dies das Biga seit 1936 tut, die Bezüger von Arbeitslosengeldern sowie die bei den Arbeitsämtern gemeldeten Stellensuchenden zu registrieren, sondern zählte auch all jene mit, welche arbeitswillig sind (z.B. ausgesteuerte Arbeitslose, Frühpensionierte, Hausfrauen mit Wiedereinstiegswunsch oder Jugendliche nach Abschluss ihrer Lehrzeit), die aber den beruflichen Anschluss nicht finden. Zieht man diese "stille Reserve" mit in Betracht, befand sich die Schweiz 1991 zwar immer noch unter den Industrienationen mit der geringsten Arbeitslosigkeit, näherte sich aber doch schon dem Mittelfeld [6].
1991 fielen im Jahresmittel 853 331 Stunden monatlich wegen Kurzarbeit aus. 20 269 Personen in 646 Betrieben waren davon betroffen. Diese Zahlen liegen weit über den Werten von 1989 (35 057) und 1990 (43 796), aber immer noch klar unter dem Jahresergebnis von 1983 mit rund 1,8 Mio Ausfallstunden [7].
Keine Partei verlangte im Berichtsjahr konkrete Beschäftigungsprogramme. Im Parlament auf deren eventuelle Opportunität angesprochen, zeigte sich der Bundesrat betont optimistisch. Er gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass die momentane Arbeitslosigkeit – seiner Meinung nach in erster Linie eine Folge der längst nötigen Strukturbereinigungen – im Frühjahr 1992 ihren Kulminationspunkt erreichen und weitgehend durch Kurzarbeit aufgefangen werde, zu deren sozialer Bewältigung das 1990 revidierte Gesetz über die Arbeitslosenversicherung beste Voraussetzungen biete [8].
Per 1. November machte der Bundesrat von seiner Kompetenz Gebrauch und erhöhte für die Kantone Genf, Neuenburg und Tessin die Bezugsdauer der ungekürzten Arbeitslosentaggelder von 85 auf 170 Tage. Mit über 3% lag die Arbeitslosigkeit in diesen Kantonen Ende September deutlich über dem gesamtschweizerischen Durchschnitt. Durch die Verlängerung der Bezugsdauer wird der Versicherungsschutz verbessert. Gleichzeitig erhalten die Behörden mehr Zeit, um geeignete Weiterbildungs- und Umschulungsmöglichkeiten bereitzustellen [9].
Am 1. Juli trat das 1989 beschlossene neue Arbeitsvermittlungsgesetz in Kraft, dessen zentrales Anliegen die Erfassung des Personalverleihs ist. Temporärbeschäftigte sollen damit besser geschützt werden. Diese Form der privaten Arbeitsvermittlung wird künftig einer kantonalen Bewilligung unterstehen [10].
Mit Genugtuung nahm der Bundesrat zur Kenntnis, dass die Schweiz für ihre erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahrzehnte den deutschen Carl-Bertelsmann-Preis 1991 erhielt. Er verdoppelte die Preissumme von 100 000 Mark (rund 85 000 Fr.) aus Bundesmitteln, um damit zwei Schweizer Projekte in der Tschechoslowakei zu unterstützen [11].
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Arbeitszeit
1991 verringerte sich die betriebsübliche Arbeitszeit um 0,1 Stunden und betrug im Mittel 42,1 Stunden. In den sechs Jahren von 1985 bis 1991 sank sie gesamthaft um 1,3 Stunden. Dabei wiesen die verarbeitende Produktion, der Transport- und Kommunikationsbereich sowie die öffentliche Verwaltung mit 1,5 Stunden den höchsten Rückgang auf. Im Gegensatz dazu verzeichnete der Bereich Banken, Versicherungen, Immobilien und Beratung mit 0,9 Stunden die geringste Abnahme [12].
Der Bundesrat beschloss, ab 1992 Pilotversuche mit flexiblen Arbeitszeitmodellen durchzuführen. Bundesbedienstete können demzufolge ihre Wochenarbeitszeit versuchsweise zwischen 40 und 44 Stunden frei wählen. Wer sich für eine Wochenarbeitszeit von über 42 Stunden entscheidet, kann pro Stunde Mehrarbeit jährlich fünf (aber höchstens zehn) Ausgleichstage beziehen. Wer wöchentlich weniger als 42 Stunden arbeiten will, muss mit einer entsprechenden Besoldungskürzung rechnen [13].
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Eine breite, geschlossene Front, bestehend aus gewerkschaftlichen, kirchlichen und frauenpolitischen Organisationen sagte weiterhin klar nein zum Revisionsentwurf des Arbeitsgesetzes, zur Kündigung des Übereinkommens 89 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) (Verbot der Nachtarbeit für Frauen in der Industrie) und zum Ausbau jeglicher Nacht- und Sonntagsarbeit. Sie argumentierten damit, dass es nicht angehe, die Frauen, die ohnehin die Doppelbelastung von Beruf und Familie zu tragen hätten, zu benachteiligen, nur um die Gleichstellung der Geschlechter durchzusetzen. Eher, so ihre Auffassung, müsse die erwiesenermassen physisch und psychisch schädliche Nachtarbeit auch für Männer verboten werden [14].
Dass diese Interessengruppen aber bereits auf recht verlorenem Posten standen, ging aus Äusserungen von Biga-Direktor Hug hervor, der eine Kündigung des Abkommens 89 nicht mehr ausschliessen mochte, sowie aus dem Umstand, dass die Arbeitgeberverbände immer vehementer die Aufhebung des Nachtarbeitsverbots für Frauen in industriellen Betrieben verlangten mit der Begründung, der Wirtschaftsstandort Schweiz werde sonst gefährdet. Auch der Bundesrat liess mehrfach durchblicken, dass für ihn eine Weiterführung des Abkommens ohne breite Ratifizierung des Zusatzprotokolls von 1990, welches weitreichende Ausnahmeregelungen erlaubt, kaum noch denkbar sei. Im Zeichen der Ausrichtung auf Europa wollte er zudem seine Haltung von einem Entscheid des EG-Gerichtshofes abhängig machen. Dieser erfolgte im Laufe des Sommers und bezeichnete ein französisches Gesetz, das ein Nachtarbeitsverbot für Frauen vorsah, als unvereinbar mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter. In seiner Antwort auf die Interpellationen von zwei Mitgliedern der SP-Fraktion versprach Bundesrat Delamuraz aber, vor einer eventuellen Kündigung des Abkommens noch eine weitere Konsultationsrunde unter Einbezug von interessierten Frauenorganisationen durchzuführen [15].
Dabei anerkannte der Bundesrat selber die gesundheitliche Mehrbelastung bei Nachtarbeit. In einer Revision des Arbeitszeitgesetzes beantragte er deshalb dem Parlament, allen Bediensteten im öffentlichen Verkehr die gleichen Zeitzuschläge für Nachtarbeit zuzugestehen wie sie 1990 bereits den PTT- und SBB-Angestellten gewährt worden waren. Die vorberatende Kommission des Ständerates beschloss mit klarem Mehr, die Vorlage an den Bundesrat zurückzuweisen mit dem Auftrag, die verschiedenen Revisionspunkte noch einmal mit den Personalverbänden auszuhandeln. Insbesondere soll der Bundesrat die Auswirkungen der bei den Regiebetrieben seit 1990 gültigen Regelungen abklären [16].
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Löhne
In letzter Zeit hat sich der Trend verstärkt, wonach sich immer mehr Arbeitgeber weigern, den automatischen Teuerungsausgleich zu gewähren. Stattdessen sollen individuelle Lohnerhöhungen ausgehandelt werden, die von der Leistung des einzelnen Arbeitnehmers abhängig gemacht werden. Als Schrittmacher bei dieser neuen Lohnpolitik erwiesen sich die Banken sowie die Migros, der grösste private Arbeitgeber der Schweiz. Aber auch vor den öffentlichen Verwaltungen machte diese Entwicklung nicht Halt; so wurde für die Reallohnerhöhung des Bundespersonais erstmals eine Leistungskomponente eingeführt [17].
Nominal erhöhten sich die Löhne im Berichtsjahr um einen Mittelwert von 6,9%, wodurch der Reallohnverlust des Vorjahres (–0,5%) kompensiert wurde. Unter Einbezug der durchschnittlichen Teuerung von 5,9% ergab sich damit allerdings nur ein reales Lohnplus von 0,9%. Mit 7,4% stiegen die Frauenlöhne stärker an als jene der Männer (+6,7%) [18].
Da sich gegen Ende Sommer die Fortsetzung der anhaltend hohen Teuerung verbunden mit einer Konjunkturflaute abzeichnete, waren harte Lohnverhandlungen für 1992 angesagt. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) ging als erster in die Offensive und verlangte zumindest den vollen Teuerungsausgleich. Die Arbeitgeber konterten, dies würde viele Firmen in Schwierigkeiten bringen und somit die Arbeitslosigkeit fördern. Schliesslich wurde die Teuerung sehr unterschiedlich ausgeglichen. Trotz Kampfdrohungen der Gewerkschaften und Protesten der Betroffenen (siehe unten) gewährten einige Branchen und öffentliche Verwaltungen (so etwa in den Kantonen Bern, Genf und Schaffhausen) den Teuerungsausgleich nicht vollständig. Die gesamthaft positive Entwicklung der Reallöhne kam in erster Linie durch jene Branchen zustande, in denen laufende Gesamtarbeitsverträge (GAV) die Lohnindexierung sowie jährliche Erhöhungen der Reallöhne vorschreiben bzw. durch Senkung der wöchentlichen Arbeitszeit kompensieren. Auch wurden überdurchschnittlich oft die in den GAV vorgesehenen Schlichtungsstellen angerufen. Ende Jahr zeigten sich aber sowohl Arbeitnehmer- wie Arbeitgeberverbände relativ zufrieden [19].
Eine breitangelegte Lohnerhebung des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeitnehmerverbandes (SMUV) ergab, dass in der schweizerischen Maschinen- und Uhrenindustrie fast die Hälfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weniger als 3500 Fr. im Monat verdienen. Zudem klaffen die Löhne von Frauen und Männern nach wie vor weit auseinander: Während der Monatslohn 1990 bei 88% der Frauen unter dem Durchschnitt lag, galt dies nur für 27% der Männer. Besonders betroffen von tiefen Löhne erwiesen sich Frauen mit mangelnder beruflicher Bildung. Eine Umfrage des Schweizerischen Kaufmännischen Verbandes (SKV) führte zu ähnlichen Ergebnissen: Frauen verdienen im kaufmännischen Bereich bis zu 30%, im Verkauf bis zu 36% weniger als ihre männlichen Kollegen – ungelernte Verkäuferinnen müssen sich vielerorts mit 2700 Fr. pro Monat begnügen [20].
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Gesamtarbeitsverträge
Die seit einigen Jahren beobachtete Tendenz von Unternehmern, aus ihren Organisationen auszutreten, um die Gesamtarbeitsverträge durch den Abschluss von Einzelarbeitsverträgen zu unterlaufen, setzte sich – im Berichtsjahr namentlich im Pressewesen – fort. In vielen Bereichen (Hotellerie- und Gastgewerbe, Kioskverkauf, Lithographen, Presse- und Verlagsbereich, Reinigungsgewerbe, Spinnereien, Swissair) verhärteten sich die Fronten zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen zusehends oder wurde die Sozialpartnerschaft von Arbeitgeberseite zumindest vorübergehend aufgekündigt, wenn nicht gar grundsätzlich in Frage gestellt [21].
Kein neuer GAV kam zwischen dem Verein der Buchbindereien der Schweiz und der Gewerkschaft Druck und Papier (GDP) zustande. Ein bereits verabschiedeter GAV war — da er unterschiedliche Mindestlöhne für Frauen und Männer vorsah — von Gewerkschafterinnen der GDP vor Gericht erfolgreich als Verstoss gegen den Gleichstellungsartikel in der Bundesverfassung angefochten worden (siehe unten, Teil I, 7c, Frauen/Arbeitswelt).
In Kraft treten konnten hingegen im Laufe des Jahres unter anderem neue GAV für das Maler- und Gipsergewerbe, das Schreinergewerbe, die Bäcker- und Konditorenbranche sowie das Coiffeurgewerbe und die Papierindustrie. In allen diesen neuen GAV wurden Lohnerhöhungen und/oder Verkürzungen der wöchentlichen Arbeitszeit festgeschrieben [22].
Die Arbeitgeber der Uhren- und Mikroelektronikindustrie stimmten nach zweijährigen Verhandlungen einem neuen GAV zu. Der Vertrag, der rückwirkend auf den 1. Oktober in Kraft trat, sieht unter anderem eine zusätzliche halbe Ferienwoche, einen verlängerten Mutterschaftsurlaub sowie stärkere Beteiligung der Arbeitgeber an den Krankenversicherungsprämien vor. Die Gewerkschaften hatten den neuen Vertrag bereits zuvor gutgeheissen [23].
Der Arbeitgeberverband der Schweizerischen Maschinenindustrie (AMS) und der SMUV kamen sich wieder näher. Gemeinsam veröffentlichten sie sechs Innovationsthesen, mit welchen der Mensch vermehrt in den Mittelpunkt der Arbeitswelt gerückt und die Autonomie am Arbeitsplatz gefördert werden soll. Da die Thesen vom AMS mitunterzeichnet worden sind, betrachtet der SMUV sie als wichtige Verhandlungsbasis für den nächsten GAV, in dem Mitbestimmung und Information sowie Aus- und Weiterbildung der Arbeitnehmer verpflichtend festgesetzt werden sollen [24].
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Wie eine jährlich durchgeführte repräsentative Umfrage zeigte, kennen rund 90% der Schweizerinnen und Schweizer das über 50jährige Friedensabkommen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften der Metall- und Maschinenindustrie. Interessant an der Umfrage war vor allem, dass sich erstmals die Gesamtbevölkerung positiver zum Arbeitsfrieden äusserte als die Gewerkschaftsmitglieder: während 1990 noch 75% der Gewerkschafter für den absoluten Arbeitsfrieden eintraten (Gesamtbevölkerung: 68%), waren es im Berichtsjahr nur noch 61% (65%) [25].
Das Biga registrierte im Berichtsjahr einen einzigen Arbeitskonflikt, der zu einer Arbeitsniederlegung von mindestens einem Tag führte. Daran waren 51 Arbeitnehmer beteiligt; 51 Arbeitstage gingen dabei verloren [26].
Da aufgrund der allgemeinen Finanzknappheit in zahlreichen Kantonen der automatische Teuerungsausgleich für das Staatspersonal in Frage gestellt wurde, gingen die Staatsangestellten im Berichtsjahr mehrmals auf die Strasse. Während sie sich in den Kantonen Bern, Genf und Zürich mit Demonstrationen begnügten, kam es in den Kantonen Freiburg und Waadt zu beschränkten Arbeitsniederlegungen [27].
Für den nationalen Frauenstreik vom 14. Juni siehe unten, Teil I, 7c (Stellung der Frau/Grundsatzfragen).
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Schutz der Arbeitnehmer
Einstimmig ermächtigte der Nationalrat den Bundesrat, drei Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zu ratifizieren, nämlich die Übereinkommen Nr. 119 (Maschinenschutz), 132 (Mindestdauer bezahlter Ferien) und 162 (Sicherheit bei der Verwendung von Asbest). Mit einem Postulat der vorberatenden Kommission beauftragte er zudem die Regierung, die Gesetzesänderungen zu prüfen, die notwendig sind, um die Hindernisse zur Ratifikation der Übereinkommen 170 (Sicherheit bei der Verwendung chemischer Stoffe bei der Arbeit) und 171 (Nachtarbeit) zu beseitigen. Der Bundesrat hatte dem Parlament beantragt, die Ratifizierung dieser beiden Abkommen auf unbestimmte Zeit zu vertagen, da selbst der Entwurf für ein revidiertes Arbeitsgesetz nicht in allen Punkten mit diesen beiden Übereinkommen kompatibel sei. Die kritischen Punkte betreffen den Kündigungsschutz, die Mitbestimmung der Arbeitnehmer, die Nachtarbeit sowohl für Männer wie für Frauen sowie den Mutterschaftsschutz [28].
Ein Thurgauer Bezirksgericht fällte eines der ersten Urteile, bei dem der vor zwei Jahren in Kraft getretene revidierte Kündigungsschutz zum Tragen kam. Ein Romanshorner Haushaltsapparate-Unternehmen hatte im März 1990 einer türkischen Arbeitnehmerin gekündigt, weil sich diese aus religiösen Gründen geweigert hatte, bei ihrer Arbeit auf das Tragen eines Kopftuches zu verzichten. Das Bezirksgericht Arbon entschied ein Jahr später, dass diese Kündigung missbräuchlich gewesen sei, weil niemand wegen der Ausübung eines verfassungsmässigen Rechts – hier der Religions- und Glaubensfreiheit – entlassen werden kann. Die Firma wurde nicht dazu verurteilt, die Betroffene wieder einzustellen, musste ihr jedoch eine Entschädigung ausrichten [29].
Der Christlichnationale Gewerkschaftsbund (CNG) kündigte an, eine Volksinitiative starten zu wollen, mit der er ein Recht auf Weiterbildung verlangen will. Mindestens fünf Arbeitstage pro Jahr sollen bei vollem Lohn zur beruflichen oder allgemeinen Weiterbildung genutzt werden dürfen [30].
Die Gewerkschaft Textil, Chemie, Papier (GTCP) forderte rechtsverbindliche Richtlinien zur Regelung der Arbeitssicherheit bei der Forschung und Produktion von bio- und gentechnologischen Erzeugnissen. Die Anwendung der heutigen, von der Schweizerischen Kommission für biologische Sicherheit (SKBS) empfohlenen Richtlinien erachtet die Gewerkschaft als ungenügend, da sie auf Freiwilligkeit beruhen [31].
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Neue Technologien und personelle Engpässe fördern tendenziell die individuelle Mitbestimmung der gut qualifizierten Arbeitskräfte. Schwächere Arbeitnehmer laufen aber Gefahr, wegen dieser Individualisierung noch mehr als bisher von der Mitbestimmung ausgeschlossen zu werden. Dies ist das Fazit einer Untersuchung, die der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) veranlasst hatte. Nach Feststellung der Gewerkschaften ist die Mitbestimmung bei den Schweizer Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen kein vordringliches Thema mehr. Die momentan zur Diskussion stehenden Mitbestimmungsvorschläge der EG-Kommission würden, falls sie rechtskräftig werden sollten, die Situation in der Schweiz zudem kaum berühren, da die meisten Betriebe den Mindestanforderungen bereits genügen [32].
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Weiterführende Literatur
O. Blanc / P. Gilliand (Hg.), Suisse 2000. Enjeux démographiques, Lausanne 1991.
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R. A. Müller, Die einvernehmliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses, Bern 1991.
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J.-J. Elmiger, "Das Nachtarbeitsverbot für Frauen gemäss den Normen der Internationalen Arbeitsorganisation", in Die Volkswirtschaft, 64/1991, Nr. 6, S. 20 ff.
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T. Bauer / B. Baumann, "Die Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz im Jahre 1991", in Die Volkswirtschaft, 65/1992, Nr. 5, S. 54 ff.
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G. Aubert (et al.), Protection de la santé et de la sécurité du travailleur: la Suisse face au droit de la Communauté européenne, Zurich 1991.
E. Janutin, Gesundheit im Arbeitsrecht, Zürich (Diss.) 1991.
P. Wüthrich, Arbeitssicherheit in der Schweiz - heute und morgen: ein Bericht aus der Sicht der SUVA, Luzern 1991.
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A. Jans, "Die Mitbestimmung in der Schweiz und die europäische Herausforderung", in Gewerkschaftliche Rundschau, 83/1991, S. 58 ff.
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[1] Presse vom 18.12.91 und 1.7.92.
[2] SGT, 9.11.91.
[3] BZ, 12.9.91.
[4] Die Volkswirtschaft, 65/1992, Nr. 5, S. 8*; siehe auch oben, Teil I, 4a (Konjunkturlage).
[5] Presse vom 15.11.91 und 10.1.92. Zu Beginn des Jahres hatten weder Biga-Direktor Hug noch die Sozialpartner mit einer wesentlichen Zunahme der Arbeitslosigkeit gerechnet (Presse vom 4.1. und 9.1.91). Für die Gründe der besonders hohen Arbeitslosigkeit in der Romandie siehe BZ, 12.8.91; Bund, 13.12.91; NQ, 14.12.91; Presse vom 10.1.92.
[6] Presse vom 26.2.92. Vgl. dazu auch C. Cornioley, "Zwei unterschiedliche Statistiken für die Messung der Arbeitslosigkeit in der Schweiz", in Die Volkswirtschaft, 65/1992, Nr.6, S. 28 ff.
[7] Presse vom 4.2.92.
[8] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1861 ff. Zum strukturell bedingten Anstieg der Arbeitslosigkeit siehe SGT, 13.7.91; Bund, 27.12.91. Vgl. dazu auch oben, Teil I, 4a (Konjunkturlage).
[9] JdG und TW, 24.10.91.
[10] NZZ, 1.7.91. Siehe auch SPJ 1989, S. 185.
[11] Presse vom 5.9.91.
[12] F. Revaz, "Anstieg der Reallöhne – Rückgang der betriebsüblichen Arbeitszeit 1991", in Die Volkswirtschaft, 65/1992, Nr. 5, S. 45 ff.; J.-C. Dubey, "Betriebsübliche Arbeitszeit in den Unternehmen nach Kantonen", in Die Volkswirtschaft, 65/1992, Nr. 6, S. 34 ff.
[13] NZZ, 28.6.91. Für die allgemeinen Arbeitsbedingungen der Bundesbeamten siehe oben, Teil I, 1c (Verwaltung).
[14] JdG, 16.4.91; TW, 30.4.91; TA, 17.5.91. Eine Petition gegen die Aufhebung des Nachtarbeitsverbots wurde anfangs Dezember mit nahezu 18 000 Unterschriften an den BR eingereicht (NZZ, 2.12.91).
[15] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1399 f. und 1650 ff.; siehe dazu auch Amtl. Bull. StR, 1991, S. 622 ff. (Interpellation Jaggi, sp, VD); Bund, 2.2.91; BaZ, 8.4.91; BZ, 16.4.91; Vat., 19.4. und 4.6.91; Presse vom 8.8.91 (EG-Gerichtsurteil); CdT, 16.10.91; VO, 14.11.91; NZZ, 2.12.91. Siehe auch SPJ 1990, S. 199 f.
[16] BBl, 1991, III, S. 1285 ff.; NZZ, 15.8. und 13.11.91.
[17] TW, 9.8.91; Suisse, 14.8.91; Presse vom 7.11.91; Ww, 21.11.91; NQ, 1.12.91; CdT, 3.12.91; AT, 9.12.91. Die Migros gewährte nur 3,7%Teuerungsausgleich und stellte weitere 2% für individuelle Lohnerhöhungen zur Verfügung; Coop dagegen glich die Teuerung mit 5,7% praktisch vollständig aus und sah für individuelle Lohnanpassungen nur 0,3% vor (Bund, 14.11.91; SGT, 19.11.91; TW, 25.11.91). Für das Bundespersonal siehe auch oben, Teil I, 1c (Verwaltung).
[18] Presse vom 9.1. und 8.6.91; TA, 15.6.91; Presse vom 13.7.91; Presse vom 10.1. und 25.3.92; F. Revaz, "Anstieg der Reallöhne – Rückgang der betriebsüblichen Arbeitszeit 1991", in Die Volkswirtschaft, 65/1991, Nr. 5, S. 45 ff.
[19] Presse vom 30.8., 5.9., 9.9., 10.9., 21.9., 13.11., 3.12., 24.12. und 28.12.91.
[20] SMUV: Presse vom 29.5.91; VO, 13.6.91. KVS: Presse vom 4.7.91. Auf das Gleichstellungsgesetz, mit welchem die Lohndiskriminierung der Frauen verringert werden soll, wird in Teil I, 7d (Frauen/Arbeitswelt) detaillierter eingegangen.
[21] Hotellerie und Gastgewerbe: Presse vom 5.3. und 11.4.91. Kioskverkauf: TA, 19.9.91. Lithographen: NZZ, 22.5.91. Presse- und Verlagsbereich: Presse vom 21.6.91; NZZ, 1.7.und 12.7.91; TA, 7.9., 10.9. und 24.9.91; BZ, 7.1 1.91. Reinigungsgewerbe: BaZ, 2.11.91. Spinnereien: NZZ, 2.2.91; TW, 11.3.91. Swissair: Presse vom 11.2.91 (Kabinenpersonal); NQ, 22.10.91 (Bodenpersonal).
[22] NZZ, 23.2., 21.3., 2.11. und 11.12.91; Bund, 20.12.91.
[23] Presse vom 29.11.91. Von den Gewerkschaften wurde vor allem der auf 14 Wochen ausgedehnte Mutterschaftsschutz als grosser Erfolg gewertet (Presse vom 6.2.92).
[24] BZ und TW, 20.6.91. Für frühere Spannungen zwischen AMS und SMUV siehe SPJ 1990, S. 201 f.
[25] SAZ, 1991, Nr. 18/19; TW, 30.4.91.
[26] Telephonische Auskunft aus dem Biga.
[27] Bern: Presse vom 1.11.91. Genf: JdG, 20.12.91. Zürich: NZZ und TA, 12.12.91. Freiburg: Lib., 15.11., 22.11., 27.11., 29.11. und 6.12.91. Waadt: 24 Heures, 26.9. und 28.11.91; JdG, 28.11.91.
[28] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1648 f.; TW, 4.6.91.
[29] WoZ, 28.3.91; SAZ, 1991, S. 362 ff.
[30] Presse vom 12.11.91.
[31] NZZ, 19.4.91.
[32] Lit. Jans; Presse vom 2.8.91.
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