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Grundlagen der Staatsordnung
Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
Die Schweiz geriet wegen ihrer Beziehungen zum nationalsozialistischen Deutschen Reich besonders in den USA und in Grossbritannien heftig in die Kritik. - Das Parlament verabschiedete den Bundesbeschluss über die Landesausstellung 2001. - Der Bundesrat legte seine Botschaft zur Totalrevision der Bundesverfassung vor.
Grundsatzfragen
Am 19. September feierten die Schweiz und besonders die Stadt Zürich den 50. Jahrestag des Besuchs des damaligen britischen Premiers, Winston Churchill. Churchill hatte an diesem Tag seine später berühmt gewordene Zürcher Rede gehalten, in der er zu einer engen Kooperation unter den europäischen Staaten aufgerufen hatte. Der Anlass wurde in Zürich mit einer Reihe von Gedenkveranstaltungen und im Beisein zahlreicher politischer Prominenz begangen.
Gerade die britische Presse nahm die Gedenkveranstaltung, an welcher auch der britische Aussenminister Rifkind teilnahm, zum Anlass, die dunkleren Seiten der schweizerischen Geschichte während des Zweiten Weltkriegs aufzuzeigen. In einer oft polemischen antischweizerischen Kampagne wies sie auf die Kooperation der Schweizer Behörden und Unternehmen mit den nationalsozialistischen Herrschern in Deutschland hin. Ins gleiche Horn stiess der Vorsitzende des Bankenausschusses des amerikanischen Senats, Alfonse D'Amato, welcher sich als eifrigster Kritiker der Schweiz profilierte.
Der Bundesrat begegnete dem massiven aussenpolitischen Druck, indem er eine unter der Leitung des Diplomaten Thomas Borer stehende Arbeitsgruppe (task force) einsetzte. Im Parlament gab eine von Grendelmeier (ldu, ZH) im März 1995 eingereichte parlamentarische Initiative den Anstoss zur Aufarbeitung der Vergangenheit. Der daraus hervorgegangene Bundesbeschluss über die umfassende Aufklärung der Rolle des schweizerischen Finanzplatzes vor, während und unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg wurde von beiden Räten für dringlich erklärt und einstimmig angenommen. Die mit dieser Untersuchung beauftragte und von François Bergier präsidierte internationale Historikerkommission wurde vom Bundesrat noch vor Jahresende eingesetzt.
Die in Gang gekommene Debatte diente einerseits zur Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit, wobei Linke und Grüne vornehmlich dazu aufforderten, die Diskussion dazu zu benutzen, lang gehegte historische Mythen hinsichtlich der Rolle der Schweiz im nationalsozialistischen Herrschaftssystem endlich zu überwinden, während die Rechte auf die damalige politische, militärische und wirtschaftliche Bedrohung durch das III. Reich verwies. Andererseits wurde - nicht nur von Sozialdemokraten - gefordert, aus der Vergangenheit Lehren für die Zukunft zu ziehen, sei es bei der Verwaltung von Geldern ausländischer Potentaten, wie der ehemaligen Präsidenten Mobutu oder Marcos, sei es durch eine stärkere Einbindung der Schweiz in europäische oder internationale Organisationen.
Für eine ausführliche Darstellung der Ereignisse und der bisher getroffenen politischen Massnahmen sowie zur Suche nach auf Schweizer Banken vermuteten Geldern von Opfern des Nazi-Regimes siehe unten, Teil I, 4b (Banken) [2].
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Zwei Meinungsforschungsinstitute - das GfS-Forschungsinstitut und Démoscope - massen 1996 das Vertrauen der stimmberechtigten Bevölkerung in die Behörden. Dabei kamen die beiden Institute - freilich mit unterschiedlichen Frageformulierungen - zu recht verschiedenen Werten: für den Bundesrat wurde bei der GfS ein Vertrauenswert von 39%, bei Démoscope ein solcher von 71% gemessen. Beide Stellen nahmen jedoch, nach einem dramatischen Prestigeverlust zu Beginn der 80er-Jahre, 1996 einen leichten Aufschwung des Ansehens der Behörden wahr. Nicht betroffen von dem langfristigen Vertrauensverlust ist die Wirtschaft. Gemäss der Studie der GfS orientieren sich weite Teile der Bevölkerung zunehmend an wirtschaftlichen, denn an politischen Zusammenhängen [3].
Die politische Partizipation der Bevölkerung war Gegenstand einer weiteren wissenschaftlichen Untersuchung. Darin wurden die Anonymität des politischen Geschehens und die mangelnde Glaubwürdigkeit der in der Politik Tätigen als Hauptursachen der Stimmabstinenz festgestellt. Während für die Stimmenden in der Deutschschweiz die politische Mitbestimmung ein wichtiges Motiv für die Teilnahme an Abstimmungen ist, gehen die Menschen in der Romandie und im Tessin mehr aus Gewohnheit zur Urne. Personen aus der Mitte des Parteienspektrums zeigten sich überdurchschnittlich politikverdrossen [4].
Infolge der Affären im EMD musste die Armee 1996 einen deutlichen Imageverlust hinnehmen. Ihre Akzeptanz fiel, gemäss einer Studie der ETH Zürich, von 78% auf 63% zurück und erreichte damit annähernd den bisher tiefsten Wert von 1991. Die Zustimmung zur Milizarmee sank ebenso wie das allgemeine Sicherheitsempfinden der Schweizer Bevölkerung. Dagegen nahm die Zustimmung zu einem Beitritt zu Internationalen Organisationen zu. Erstmals seit 1993 sprach sich eine schwache Mehrheit der Befragten für einen vorbehaltlosen Beitritt zu EU und UNO aus [5].
Als bedenklich erwies sich gemäss einer Umfrage der Zeitschrift "das Beste" das staatsbürgerliche Wissen der Schweizer Bevölkerung. Nur eine Minderheit der Befragten konnte drei häufig bei Einbürgerungen gestellte staatspolitische Fragen richtig beantworten. Dabei zeigte sich die junge Generation wesentlich sattelfester in Staatskunde als die Älteren [6].
Die vom GfS-Forschungsinstitut gemessenen Ängste der Bevölkerung erreichten 1996 einen Höchststand. An der Spitze stand die Besorgnis über den Egoismus der Mitmenschen sowie die ökologische Entwicklung. Nur im Mittelfeld der geäusserten Ängste erschien die Sorge um den eigenen Arbeitsplatz und das materielle Wohlergehen. Insgesamt ging jedoch die Angst vor der Zerstörung der Umwelt zurück, während die Furcht vor der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung zunahm [7].
Nichts Neues ist die Angst der Romandie vor einer Deutschschweizer Dominanz. Sie trat dieses Jahr insbesondere aufgrund der Entscheidung der Swissair, die Langstreckenflüge weitgehend auf den Flughafen Zürich-Kloten zu konzentrieren, in Erscheinung. Die Zukunft des Flughafens Genf-Cointrin war auch ein Thema in den eidgenössischen Räten. Nicht weniger als eine Interpellation, drei dringliche Einfache Anfragen und elf Fragen wurden zu diesem Thema eingereicht [8]. Neu dagegen war, dass auch die Ostschweiz öffentlich ihre Vernachlässigung gegenüber den anderen Regionen beklagte. Bei einem Treffen mit dem Bundesrat listeten die Vertreter der sieben Ostschweizer Kantone eine Reihe von Benachteiligungen ihres Landesteils durch die Bundesbehörden auf. Im Vordergrund standen dabei die Projekte der NEAT sowie die Verbilligung der Krankenkassenprämien [9].
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Mitte Februar präsentierte die vom Neuenburger Staatsrat Francis Matthey (sp) geleitete Arbeitsgruppe die Machbarkeitsstudie zur Landesausstellung im Jahr 2001. Dem Bundesrat war die Studie bereits Ende Dezember 1995 zugegangen. Für die unter dem Titel "die Zeit, oder die Schweiz in Bewegung" stehende Expo im Bereich der drei Westschweizer Binnenseen wird ein Gesamtbudget von 496 Mio Fr. veranschlagt. Davon sollten 170 Mio durch einen Kredit der Eidgenossenschaft gedeckt werden [10].
In der öffentlichen Meinung erhielt das Projekt nicht nur Beifall. Insbesondere wurde bemängelt, dass die Organisation zu stark von Politikern beherrscht werde, die sich am Machbaren anstatt an Visionen orientierten. Diese Meinung vertrat namentlich die Berner Regierungsrätin Elisabeth Zölch (svp), selbst Mitglied des strategischen Komitees des Vereins Landesausstellung [11]. Dieses trug der Kritik Rechnung, indem es die Organisationsstrukturen dezentralisierte und mehrere Persönlichkeiten aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens zur Mitarbeit an der Ausgestaltung der Ausstellungsinhalte aufrief [12].
Nachdem er bereits im März - unter gewissen Vorbehalten gegenüber dem Ausstellungskonzept - seine grundsätzliche Zustimmung gegeben hatte, präsentierte der Bundesrat am 22. Mai seine Botschaft zur Landesausstellung. Darin spricht er den Organisatoren einen Bundesbeitrag von 130 Mio Fr. zu, wovon 20 Mio in Form einer Defizitgarantie. 80 Mio Fr. sollen zur Deckung der Infrastruktur- und Finanzierungskosten, die restlichen 50 Mio als Beiträge an Kultur- und Ausstellungsprogramme verwendet werden. Damit liegt die finanzielle Leistung des Bundes unter den Vorstellungen der Veranstalter. Die Gewährung des Beitrags ist an zwei Bedingungen geknüpft: Die finanzielle Beteiligung der die Landesausstellung tragenden Kantone und die Beachtung der vom Bundesrat aufgrund der Machbarkeitsstudie formulierten Anforderungen im Bereich des Umweltschutzes, der Raumplanung, der Verkehrsinfrastruktur sowie der Organisationsform [13].
Die erste Bedingung wurde im Berichtsjahr von je drei der beteiligten Kantone und Städte erfüllt; die Entscheidungen der Kantone Bern und Jura sowie der Stadt Yverdon stehen noch aus. Mit Spannung erwartet wurde die diesbezügliche Volksabstimmung in der Stadt Biel, die einzige Volksbefragung zum Projekt der Expo 2001. Am 1. Dezember sprachen sich dort rund 60% der Stimmenden für den Acht-Millionen-Kredit aus [14].
Auf die Organisationsform, an welcher in der Öffentlichkeit besonders grosse Kritik lautgeworden war, und auf die umweltrelevanten Aspekte der Landesausstellung ging der Bundesrat in einem Ergänzungsbericht vom 6. September besonders ein. Hinsichtlich der Organisation wird darin an der bereits in der Machbarkeitsstudie vorgesehenen Aufteilung in eine strategische und eine operationelle Ebene festgehalten. Zur Erhöhung ihrer Effizienz wird erstere aus einer einzigen Körperschaft, dem "Verein Expo 2001", gebildet und einem Präsidium unterstellt. Neben diesem werden im "Verein Expo 2001" ein von drei unabhängigen Persönlichkeiten geführtes Büro, die Schweizerische Eidgenossenschaft, die Gruppe der neun beteiligten Kantone und Städte sowie die übrigen Kantone - durch eine Delegation der Konferenz der Kantonsregierungen oder der CH-Stiftung für die eidgenössische Zusammenarbeit - vertreten sein [15].
Der Ständerat trat in der Herbstsession ohne Gegenantrag auf die Vorlage ein. Ein von Onken (sp, TG), Frick (cvp, SZ), Gentil (sp, JU) und Iten (fdp, ZG) eingebrachter Minderheitsantrag für die ausnahmslose verbindliche Festschreibung der vom Bundesrat beantragten umweltpolitischen Rahmenbedingungen scheiterte. Der Bundesbeschluss selbst wurde einstimmig verabschiedet [16].
Einen schwereren Stand hatte die Vorlage im Nationalrat. Dort standen ihr zwei Rückweisungsanträge seitens der Fraktion der Grünen und von Schlüer (svp, ZH) entgegen, die beide die mangelnde Konzeptführung beinhalteten. Schlüer liess sich vom Plenum, vor dem Berichterstatter in allen vier Landessprachen auftraten, überzeugen, seinen Antrag zurückzuziehen; derjenige der Grünen wurde mit grosser Mehrheit verworfen. In der Debatte wurden nicht weniger als sieben Änderungsanträge gestellt. Davon betrafen allein fünf den Bereich des Umweltschutzes. Trotz teilweise hoher Zustimmung drang nur ein Begehren durch. Darin wird auf den vom Nationalrat eingeforderten Ergänzungsbericht vom 5. November 1996 Bezug genommen und die dort umschriebenen Anforderungen hinsichtlich des Umweltschutzes in den Bundesbeschluss aufgenommen. Der von der Nationalratskommission neu eingeführte Passus hinsichtlich einer umweltverträglichen Planung und Durchführung der Landesausstellung wurde vom Plenum ebenfalls gutgeheissen. Der Ständerat übernahm diese Änderungen in seiner Sitzung vom 10. Dezember [17].
Mitte Dezember stellten die Arbeitsgruppen "Inhalte" und "Szenographie" ihre Berichte über die Gestaltung der Landesausstellung vor. Die Einzelausstellungen beziehen sich auf zehn Grundfragen hinsichtlich der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung der Schweiz im 21. Jahrhundert. Diese Fragen werden an den einzelnen Ausstellungsorten unter jeweils verschiedenen Gesichtspunkten und begleitet von fünf Symbolfiguren dargestellt [18].
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Die unabhängige Fachgruppe für die Auswahl der Projekte zum Jubiläum des Bundesstaats im Jahr 1998 entschied sich im März für die Unterstützung von 35 der eingegangenen 86 Vorschläge. Für die Verwirklichung der hauptsächlich im historischen und kulturellen Bereich liegenden Projekte stellt der Bund 9 Mio Fr. zur Verfügung [19].
Am 12. September, dem Jahrestag der Annahme der Bundesverfassung von 1848 durch das Volk, orientierte Bundesrätin Dreifuss über den Stand der Vorbereitungsarbeiten zum Bundesjubiläum. Als Höhepunkt des Jubiläumsjahres ist ein Fest der Jugend in Bern geplant, das als nationale Klammer der zahlreichen kantonalen Gedenkveranstaltungen wirken soll. Mit zwei Grossausstellungen im Bundeshaus und im Landesmuseum sowie der Eröffnung der Zweigstelle des Landesmuseums in Prangins (VD) organisiert der Bund drei weitere Gedenkanlässe [20].
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Totalrevision der Bundesverfassung
Die Volksdiskussion zum Entwurf der neuen Bundesverfassung wurde Ende Februar abgeschlossen. In einer ersten Bilanz, Ende Mai, zeigte sich Bundesrat Koller sehr befriedigt von dem öffentlichen Interesse (11 500 Anregungen waren eingereicht worden) und der mehrheitlichen Annahme des Entwurfs. Als dessen umstrittenste Bereiche hatten sich die Sozial- und Wirtschaftsordnung sowie die Revision der Volksrechte herausgestellt. Wenig kritisiert wurde dagegen die Nachführung des bestehenden Verfassungsrechts und die Justizreform [21].
Dies zeigte sich auch in den Reaktionen der Bundesratsparteien auf den Verfassungsentwurf. Am schärfsten wandte sich die SP gegen die Erschwerung der Volksrechte durch die Erhöhung der Unterschriftenzahlen für Volksinitiativen und fakultative Referenden. Sie verwies dagegen auf ihre Vorschläge für ein konstruktives Referendum, zu dessen Einführung sie im Herbst 1995 eine Volksinitiative lanciert hatte, und die sogenannte Euro-Volksmotion, die den Stimmberechtigten mehr Einfluss auf die Gestaltung der Aussenpolitik gewähren soll [22].
Die FDP sprach sich für eine gestaffelte Erhöhung der Unterschriften für Volksinitiativen aus, je nachdem ob es sich um die Totalrevision der Verfassung, ausformulierte Initiativen oder allgemeine Anregungen handelt. Das vorgesehene Finanz- und das von der SP vorgeschlagene konstruktive Referendum lehnte sie ab. Grundsätzlich sprach sie sich dafür aus, die weniger bestrittenen Teile der Verfassungsrevision von der Gesamtvorlage abzukoppeln und prioritär zu behandeln [23].
Die CVP begrüsste die geplanten Änderungen im Bereich der Volksrechte, sprach sich bei den Volksinitiativen jedoch für die Beibehaltung einer Limite von 100 000 Unterschriften aus. Die neu definierten Sozialziele sollten durch die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips, das die Eigenverantwortung betont, ergänzt, der Bistumsartikel, die Garantie des Streikrechts und des Redaktionsgeheimnisses gestrichen werden [24].
Die SVP setzte sich insbesondere für die Streichung der vorgeschlagenen Sozialziele, des Rechts auf Existenzsicherung und des Streikrechts ein. Hinsichtlich der Volksrechte erklärte sich die Partei für die Beibehaltung der gegenwärtigen Unterschriftenzahlen [25].
Vorwiegend ablehnend äusserten sich dagegen die Wirtschaftsverbände. Gutes vermochten Vorort und Arbeitgeberverband gerade noch der Reform von Justiz und Volksrechten abgewinnen, während der Gewerbeverband auch letztere verwarf. Hingegen bezeichnete der Vorort die Verankerung von Sozialzielen in der Verfassung als eigentliche Kriegserklärung, welche den Anlass liefere, die gesamte Reform zu bekämpfen. Ebensowenig sei das Recht auf Existenzsicherung und das Streikrecht in der Verfassung festzuschreiben. Der Begriff der Wirtschaftsfreiheit solle nicht durch denjenigen des freien Wettbewerbs ersetzt werden [26].
Nurmehr wenig Widerstand kam dieses Jahr von den Kantonen. Zwar verlangten sie einen Ausbau des Föderalismus und eine stärkere Stellung in der Aussenpolitik. Doch stellten sich ihre Vertreter an der Konferenz der Kantonsregierungen, mit einer Ausnahme, deutlich hinter das Reformwerk [27].
Nachdem er im August bereits einige Teilaspekte bekanntgegeben hatte, stellte der Bundesrat Ende November seine Botschaft zur Totalrevision der Bundesverfassung vor. Den Räten wird die Vorlage in drei Bundesbeschlüssen unterbreitet: der Nachführung des bestehenden Verfassungstextes und den Reformen von Volksrechten und Justiz. Bei ersterer handelt es sich um Anpassungen veralteter Verfassungsbestimmungen an die heutige Verfassungswirklichkeit, die Übernahme grundlegender Bestimmungen auf Gesetzesebene und von ungeschriebenem Verfassungsrecht in die Bundesverfassung sowie die Schliessung von Lücken. Dazu gehören etwa internationale Konventionen zum Schutz der Menschenrechte, oder vom Bundesgericht anerkannte ungeschriebene Grundrechte wie das Recht auf Existenzsicherung. Auch die anderen der neu in die Verfassung aufgenommenen Sozialziele enthalten nichts grundlegend Neues. Ausserdem schreibt die neue Verfassung den Vorrang der privaten Verantwortung bei der Sicherung der materiellen Existenz fest.
Im Vordergrund der Justizreform steht die Entlastung und Stärkung des Bundesgerichts. Einerseits soll der Gang nach Lausanne eingeschränkt werden, wobei erst das Ausführungsgesetz konkrete Regeln setzen wird. Andererseits wird durch die Einführung der obligatorischen Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Kantonen, der erstinstanzlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene und der Bildung eines Bundesstrafgerichts in den jeweiligen Bereichen eine gerichtliche Vorinstanz eingerichtet. Der Rechtsschutz wird durch die Einführung der Rechtsweggarantie, des unbeschränkten Anspruchs auf Zugang zu einem Gericht, ausgebaut. Durch die Kompetenz des Bundesrats zu einer Vereinheitlichung des Zivil- und Strafprozessrechts sollen schliesslich die kantonalen Divergenzen bei der Gerichtsorganisation und den Verfahren aufgehoben werden.
Für den umstrittensten Teil der neuen Verfassung, die Ausgestaltung der Volksrechte, sieht der Bundesrat sowohl Restriktionen wie auch einen Ausbau vor. Die für Volksinitiativen notwendige Unterschriftenzahl soll auf 150 000 (anstelle der ursprünglich vorgeschlagenen 200 000) erhöht werden. Für das fakultative Gesetzesreferendum sollen neu 100 000 Unterschriften nötig sein.
Als Ausgleich ist die Einführung neuer Volksrechte geplant: Durch die allgemeine Volksinitiative erhalten mindestens 100 000 Stimmberechtigte oder acht Kantone das Recht, in der Form einer allgemeinen Anregung die Annahme oder Aufhebung von Verfassungs- oder Gesetzesbestimmungen zu verlangen. Mindestens acht Kantone können neu eine Initiative für eine Total- oder Teilrevision der Bundesverfassung einreichen. Die Bundesversammlung kann für Verfassungs- oder Gesetzesvorlagen Alternativtexte ausarbeiten und sie gemeinsam mit den entsprechenden Volksinitiativen der Volksabstimmung vorlegen. Auch der Entscheid über die Gültigkeit von Volksinitiativen soll neu geregelt werden. Im Konfliktfall wird nicht mehr die Bundesversammlung, sondern das Bundesgericht dafür letztinstanzlich zuständig sein.
Bei den Referenden ist die Einführung des fakultativen Verwaltungs- und Finanzreferendums geplant. Das fakultative Staatsvertragsreferendum wird auf nicht direkt anwendbare Verträge ausgedehnt, falls diese landesrechtliche Gesetzesanpassungen auf Bundesebene erfordern, welche die Rechtsposition der schweizerischen Bevölkerung betreffen [28].
Am 5. Dezember stellten die Büros beider Räte die vorbereitenden Verfassungskommissionen zusammen. Sie werden von Ständerat Rhinow (fdp, BL) und Nationalrat Deiss (cvp, FR) präsidiert. Eine Woche später nahmen die Kommissionen ihre Arbeit auf. Die Beratungen sollen bis Ende 1997 abgeschlossen sein, damit die Ratsplena die Vorlage im Jubiläumsjahr 1998 abschliessend behandeln können [29].
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Kantonale Verfassungsrevisionen
Der Nationalrat bewilligte im Frühjahr die vom Ständerat bereits 1995 angenommenen Verfassungsänderungen in den Kantonen Zürich, Luzern, Nidwalden, Zug, Solothurn und Basel-Stadt [30].
In der Sommersession genehmigte der Ständerat sowohl die Totalrevision der Ausserrhoder Verfassung wie die Verfassungsänderungen in den Kantonen Zürich, Luzern, Glarus, Schaffhausen, Appenzell Innerrhoden, Aargau, Genf und Jura. Der Nationalrat folgte ihm darin im Herbst [31].
In den Kantonen selbst befürwortete die Innerrhoder Landsgemeinde die Auflösung der Institution des Inneren Landes und die Übertragung von deren Kompetenzen an den Kanton. Eine Initiative der christlichsozialen Gruppe für die Revision der Bezirksgrenzen des Inneren Landes scheiterte. In Neuenburg wurde die Einleitung zur Totalrevision der bestehenden Verfassung aus dem Jahre 1858 in der Volksabstimmung vom 10. März von 83% der Stimmenden gutgeheissen. Der Grosse Rat wurde mit knapper Mehrheit zum Ausführungsorgan bestimmt. In Schaffhausen nahm der Grosse Rat den Beschluss über die Inangriffnahme der Gesamtrevision der Kantonsverfassung und das dazugehörige Ausführungsgesetz an [32].
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Weiterführende Literatur
Armingeon, K. (Hg.), Der Nationalstaat am Ende des 20. Jahrhunderts, Bern 1996.
Cotti, F., "Churchills Europavision 1946: Ein Blick zurück - ein Blick nach vorn", in Documenta, 1996, Nr. 3, S. 13 ff.
Cotti, F., "Ein Kleinstaat im Herzen Europas stellt sich seiner Vergangenheit", in Documenta, 1997, Nr. 1, S. 16 ff.
Couchepin, F., "De la diversité au clivage", in Documenta, 1996, Nr. 4, S. 25 ff.
Farago, P. et al., Nationaler Konsens am Ende?, Luzern 1996.
Goetz, H., Der schweizerische Bundesstaat als Vorbild für Europa und die Welt, Frankfurt/M. 1996.
Haller, W., Allgemeines Staatsrecht, Basel 1996.
Hebeisen, M., Staatszweck, Staatsziele, Staatsaufgaben, Chur 1996.
Honegger, C. (Hg.), Gesellschaften im Umbau, Zürich 1996 (Hauptreferate des Kongresses der schweizerischen Sozialwissenschaften).
Kappeler, B., Regieren statt revidieren, Zürich 1996.
Koller, A., "Die Schweiz und die jüngere Zeitgeschichte", in Documenta, 1997, Nr. 1, S. 2 ff.
Kreis, G. (Hg.), Die Schweiz im internationalen System der Nachkriegszeit 1943-50, Basel 1996.
Linder, W. / Lanfranchi, P. / Weibel, E. (Hg.), Schweizer Eigenart - eigenartige Schweiz, Bern (Haupt) 1996.
Miéville, D., La Suisse, est-elle soluble dans l'Europe?, Genève 1996.
Ruloff, D. (Hg.), Wandel der Weltgesellschaft, Chur 1996.
Steinberg, J., Why Switzerland?, Cambridge 1996.
Steiner, J., Gewissen in der Politik, Bern (Haupt) 1996.
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Koller, A., "Botschaft zur Verfassungsreform", in Documenta, 1996, Nr. 4, S. 11 ff.
Koller, A., "Die Reform der Bundesverfassung als Weg in die Zukunft", in Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht, 1996, Nr. 1, S. 2 ff.
Koller, A., "Das Wagnis "Volksdiskussion" hat sich gelohnt", in Documenta, 1996, Nr. 3, S. 18 ff.
Kölz, A. (Hg.), Quellenbuch zur neueren schweizerischen Verfassungsgeschichte, Bern 1996.
, Festschrift zum fünfzigjährigen Bestehen der Vereinigung für Rechtsstaat und Individualrechte, Zürich 1996.
Tschudin, H., "Zur Reform der Bundesverfassung", in Basler Juristische Mitteilungen, 1996, Nr. 3, S. 113 ff.
Usteri, M., Vorschlag für eine revidierte und erneuerte Bundesverfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 1996.
Zen-Rufinen, P. / Auer, A. (éd.), De la Constitution: études en l'honneur de Jean-François Aubert, Bâle 1996.
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Borghi, M. / Corti, G., La revisione totale della costituzione ticinese, Lugano 1996.
Schär, J., "Die neue Ausserrhoder Kantonsverfassung", in Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht, 97/1996, S. 337 ff.
Schoch, J., Leitfaden durch die Ausserhoder Kantonsverfassung, 20. April 1995, Herisau 1996.
Thürer, D., "Wir Männer und Frauen...: Ein Portrait der jüngsten schweizerischen Kantonsverfassung", in Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht, 97/1996, S. 433 ff.
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[2] Siehe auch dort für alle Belege und Quellen.2
[3] Démoscope: JdG und NF, 8.6.96. GfS: BüZ, 10.8.96; Bund, 14.8.96; BaZ, 20.8.96.3
[4] Bund und JdG, 15.4.96.4
[5] Presse vom 9.8.96; NZZ, 10.8.96. Vgl. unten, Teil I, 3 (Défense nationale et société).5
[6] Presse vom 25.7.96.6
[7] Presse vom 2.12.96; BaZ und SGT, 4.12.96; Bund und LNN, 7.12.96.7
[8] Amtl. Bull. NR, 1996, S. 949 ff. Details siehe unten, Teil I, 6b (Trafic aérien).8
[9] Bund und SGT, 21.11.96; SGT, 22.11.96; BaZ, 21.11.96.9
[10] Presse vom 14.2.96. Vgl. SPJ 1995, S. 15 ff.10
[11] Zur Kritik vgl. Blick, 15.2. und 20.2.96; SoZ, 18.2.96; NZZ, 20.2.96. Zölch: BZ, 23.2.96.11
[12] Presse vom 24.2.96.12
[13] BBl, 1996, III, S. 337 ff.; Presse vom 19.3.96.13
[14] NE: Presse vom 12.10.96. VD: Presse vom 31.10.96. Biel: Presse vom 2.12.96.14
[15] BBl, 1996, V, S. 570 ff. Zur Umweltpolitik vgl. die Stellungnahme der Umweltverbände in der Presse vom 7.8.96.15
[16] Amtl. Bull. StR, 1996, S. 707 ff.16
[17] Amtl. Bull. NR, 1996, S. 2160 ff. und 2199 ff.; Amtl. Bull. StR, 1996, S. 1111; BBl, 1997, I, S. 825.17
[18] Presse vom 14.12.96.18
[19] Presse vom 13.3.96.19
[20] Presse vom 13.9.96.20
[21] Presse vom 1.3. und 1.6.96. Siehe auch Lit. Koller. Vgl. SPJ 1995, S. 18 f.21
[22] SoZ, 18.2.96; TA, 27.2.96. Vgl. SPJ 1995, S. 41 und unten, Teil I, 1c (Volksrechte).22
[23] NZZ, 30.1. und 16.3.96.23
[24] Presse vom 27.2.96.24
[25] NZZ, 28.2.96; BZ, 22.4.96.25
[26] NZZ, 8.3.96.26
[27] Presse vom 16.3.96. Vgl. SPJ 1995, S. 19.27
[28] BBl, 1997, I, S. 1 ff.; Presse vom 24.8. und 22.11.96.28
[29] Presse vom 6.12. und 13.12.96.29
[30] Amtl. Bull. NR, 1996, S. 353 f. Vgl. SPJ 1995, S. 19.30
[31] Amtl. Bull. StR, 1996, S. 287 ff. und 290 f.; Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1319 und 1320 f. Zu AR vgl. SPJ 1995, S. 20.31
[32] AI: Presse vom 29.4.96. NE: Express, 11.3.96. SH: SN, 29.10. und 19.11.96. Vgl. SPJ 1995, S. 20.32
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