Gewaltvorfälle in Bundesasylzentren

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Aufgrund der vor wenigen Jahren beschlossenen Restrukturierung des Asylsystems, die eine Beschleunigung der Asylverfahren bezweckte, werden seit dem Frühjahr 2019 alle Asylsuchenden zu Verfahrensbeginn in die Bundesasylzentren (BAZ) gebracht, die in der Verantwortung des SEM liegen. Erst wenn nach 140 Tagen kein rechtskräftiger Asylentscheid vorliegt, werden die Personen in die Zuständigkeit der Kantone überführt. Das SEM kann in den BAZ verschiedene Aufgaben an externe Unternehmen auslagern, so auch Sicherheitsaufgaben, die das Staatssekretariat an die privaten Sicherheitsfirmen Securitas und Protectas übertrug.

Im Frühling 2020 berichteten die WOZ und die SRF-Sendung «Rundschau» in einer gemeinsamen Recherche über Gewalt in Bundesasylzentren. Die Vorwürfe umfassten grundlose und übertriebene Gewaltanwendung sowie unverhältnismässigen Einsatz von Disziplinarmassnahmen durch Securitas Mitarbeitende gegenüber Asylbewerbenden im Bundesasylzentrum Bässlergut in Basel. Die Vorwürfe wurden von Asylsuchenden sowie von Aktivistinnen und Aktivisten von «3 Rosen gegen Grenzen» erhoben, welche über ein Dutzend Vorfälle und die dabei entstandenen Verletzungen bei den Asylsuchenden dokumentierten. Besonders in Kritik stand der sogenannte «Besinnungsraum», in welchem Asylsuchende gemäss Anweisung des SEM nur für maximal zwei Stunden festgehalten werden dürften, um eine von ihnen ausgehende unmittelbare Gefahr abzuwenden: Dieses Strafmass werde unverhältnismässig und unter Missachtung der Anweisungen eingesetzt. Zudem wurden Sicherheitskräfte des Rassismus gegenüber Personen aus Nordafrika beschuldigt. Den Darstellungen der Asylbewerbenden standen diejenigen der Sicherheitsmitarbeitenden entgegen, welche die beschriebenen Vorfälle anders darstellten und ihrerseits Vorwürfe erhoben: Sie seien selber Beschimpfungen, Bedrohungen oder tätlichen Angriffen von den Asylbewerbenden ausgesetzt. Das SEM nahm zu den Medienberichten Stellung und ortete kein strukturelles Problem, werde aber den erhobenen Vorwürfen nachgehen.

Das mediale Interesse an den Geschehnissen in den Bundesasylzentren nahm im Frühjahr 2021 wieder zu, als Ende April 2021 verschiedene Medien über massive Drohungen und Sachbeschädigungen gegenüber einer im BAZ Basel stationierten Mitarbeiterin berichteten, worauf das SEM Anzeige erstattete. Auf Internetplattformen, die dem linksradikalen Spektrum zugeordneten werden, war diese Person zuvor fälschlicherweise als Leiterin des BAZ Bässlergut bezeichnet worden, woraus die Medien Rückschlüsse auf die Täterschaft zogen. Zudem hatten RTS, die Rundschau und die WOZ die Gewaltvorfälle erneut und während mehrerer Monate untersucht und ihre Belege dazu Anfang Mai präsentiert. Im Zuge der Recherchen war diesen Medien unter anderem eine Tonaufnahme zugespielt worden, die zeigte, dass Sicherheitsleute in Boudry ein Protokoll zur Festhaltung einer Asylbewerbenden im Besinnungsraum verfälscht hatten. Mitte Mai legte Amnesty International einen ebenfalls von den Medien beachteten Bericht vor, der basierend auf Befragungen von 32 Personen, darunter Asylbewerbende, aktuelle und ehemalige Sicherheitsmitarbeitende, Rechtsvertretende, Sozialpädagoginnen und -pädagogen sowie Betreuerinnen und Betreuer, Menschenrechtsverletzungen in Bundesasylzentren dokumentierte und die dortige Situation als alarmierend bezeichnete. Gemäss einer Medienmitteilung der Menschenrechtsorganisation seien die Missbräuche so schwer, dass sie «in einzelnen Fällen den Tatbestand der Folter oder anderer Misshandlungen erfüllen und die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz verletzen könnte[n]».

Anfang Mai 2021 gab das Staatssekretariat für Migration in einer Medienmitteilung bekannt, den Alt-Bundesrichter Niklaus Oberholzer beauftragt zu haben, die von den Medien erhobenen Vorwürfe zu untersuchen. Zudem werde ein internes Audit zur «Überprüfung der internen Abläufe und deren Umsetzung im Sicherheitsbereich» durchgeführt, wobei sowohl die Frage der Aus- und Weiterbildung des Sicherheitspersonals als auch die Möglichkeit der Schaffung einer externen Beschwerdestelle für Asylsuchende überprüft werden soll, so das SEM. Ebenfalls seien Strafanzeigen in Zusammenhang mit mehreren der dokumentierten Vorfälle in die Wege geleitet und 14 Sicherheitsmitarbeitende in den Zentren Boudry NE, Altstätten SG und Basel suspendiert worden.

Dossier: Gewalt in Bundesasylzentren und politische Reaktionen

Mitte Oktober 2021 präsentierte Alt-Bundesrichter Niklaus Oberholzer seinen Bericht über die Gewaltvorfälle in den Bundesasylzentren. Nach der Untersuchung von sieben Vorfällen, die das SEM in Auftrag gegeben hatte, kam er in drei Fällen zum Schluss, dass die Mitarbeitenden unverhältnismässig und eventuell auch rechtswidrig gehandelt hatten. In zwei Fällen seien dabei relativ banale Vorfälle eskaliert und hätten schliesslich zu unverhältnismässigen Disziplinarstrafen geführt, die teilweise auch gegenüber minderjährigen Asylbewerbenden angewendet worden seien. In drei weiteren Fällen seien die angewendeten Zwangsmassnahmen aufgrund erheblicher Gewaltbereitschaft einer einzelnen, stark alkoholisierten oder unter Drogeneinfluss stehenden Person jedoch verhältnismässig und angemessen gewesen. Im letzten untersuchten Fall konnte keine klare Beurteilung getroffen werden.

Der Alt-Bundesrichter folgerte in seinem Bericht, dass die Untersuchung keine Hinweise auf systematische Gewalt in den Bundeszentren geliefert hätte und wies den von Nichtregierungsorganisationen geäusserten Verdacht auf Folter als irreführend und falsch zurück. Dabei betonte er, dass auch die UNHCR Schweiz und die NKVF nach «eingehenden Besuchen vor Ort» zum Schluss gekommen seien, dass die Menschen- und Grundrechte in den BAZ grundsätzlich eingehalten würden. Zudem hob er hervor, dass das SEM in sechs der sieben von ihm untersuchten Fällen von sich aus bereits Strafuntersuchungen eingeleitet habe, was dem Untersuchungsleiter zufolge ein Beleg dafür sei, dass der Rechtsschutz in den Asylzentren funktioniere.

Dennoch enthielt der Bericht 12 Empfehlungen an das SEM. Unter anderem regte Niklaus Oberholzer das Staatssekretariat an, die Ausgliederung der Sicherheitsaufgaben an private Anbieter zu überdenken, da eine solche «[k]eine direkte Einflussnahme in einem derart hochsensiblen Bereich staatlichen Handeln[s]» ermögliche. Er empfahl daher, dass das SEM Schlüsselpositionen in den Zentren im Sicherheitsbereich mit eigenen Mitarbeitenden besetzen sollte. Zudem müsse das Aus- und Weiterbildungskonzept von Sicherheitskräften überprüft werden, so Oberholzer. Es müsse sichergestellt werden, dass das Sicherheitspersonal für die spezifischen Herausforderungen und Bedürfnisse der Asylsuchenden in den Bundesasylzentren sensibilisiert sei. Nicht zuletzt empfahl der Bericht den Gesetzgebenden auch, die Anwendung polizeilichen Zwangs, die Durchsuchung und das Disziplinarwesen auf Gesetzesstufe zu regeln.
Amnesty International, die im vergangenen Mai einen Bericht über Menschenrechtsverletzungen in Bundesasylzentren verfasst hatte, begrüsste gemäss Medienberichten die Empfehlungen des Berichts, wünschte sich aber weitergehende Schritte. So sei etwa auch ein gänzlich unabhängiger Beschwerdemechanismus sowie ein effektiver Schutz für Whistleblower nötig. Schliesslich beharrte die Menschenrechtsorganisation darauf, dass einzelne der von ihr dokumentierten Vorfälle als Folter eingestuft werden könnten. Oberholzer hatte im Zuge der Erstellung des Berichts mit Amnesty Gespräche geführt, aufgrund des Quellenschutzes jedoch keinen Zugang zu den Dokumentationen der Organisation erhalten.

In einer ersten Reaktion auf den Bericht wies das SEM darauf hin, dass mittlerweile bereits ein umfassendes Gewaltpräventionskonzept erarbeitet und in Kraft getreten sei. Damit hätten die Polizeieinsätze im zweiten Quartal 2021 im Vergleich zum ersten Quartal bereits um 40 Prozent gesenkt werden können. Zudem sei die Schaffung einer Beschwerdestelle in die Wege geleitet sowie die Rapportierung von Vorfällen angepasst worden. Das Staatssekretariat versprach, die bislang noch nicht umgesetzten Empfehlungen auf ihre Umsetzbarkeit hin zu prüfen. Es sei zudem bereits geplant, den Einsatz der Besinnungsräume möglichst bald auf Verordnungsstufe zu regeln. Die Besinnungsräume dürften nur in Notsituationen und «nach Avisierung der Polizei» eingesetzt werden. Motiviert worden waren diese Anpassungen auch durch einen im März 2021 erfolgten unangekündigten Besuch von Mitarbeitenden des CPT im BAZ in Boudry, die in ihrem im April vorgelegten Bericht ebenfalls das Disziplinarwesen und die Anwendung des Besinnungsraumes kritisiert hatten. Ebenso hatte ein im Dezember 2020 erschienener Bericht der NKVF zu Verbesserungen im Sicherheitsbereich angeregt. Aufgrund der besagten Berichte und der von den Medien erhobenen Vorwürfe hatte das SEM im Sommer 2021 ein internes Audit durchgeführt, das zu ähnlichen Erkenntnissen wie der Untersuchungsbericht Oberholzer gekommen war.

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