Hauptkritik an den Pensionskassen

Einer der Hauptpunkte der Kritik an den Pensionskassen sind die zum Teil sehr mangelhaften Freizügigkeitsleistungen, die es den Kassen ermöglichen, jährlich enorme Mutationsgewinne zu erwirtschaften, und die bei Stellenwechsel oft zu massiven Verlusten in der Altersvorsorge bzw. zu sehr hohen Einkaufssummen in die neue Versicherungskasse führen, was unter anderem auch ein Hindernis für die von der Wirtschaft immer wieder postulierte Mobilität der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen darstellt.

Da in erster Linie die Art. 331a und 331b des Obligationenrechts (OR), die den überobligatorischen Bereich der 2. Säule regeln, für diese Verluste verantwortlich sind, hat sich der Bundesrat bereit erklärt, die Revision dieser Artikel von der allgemeinen Überarbeitung des BVG abzukoppeln und prioritär zu behandeln. Seit Februar 1988 sucht hier eine interdepartementale Arbeitsgruppe unter der Führung des EJPD nach neuen Modellen. Im Sinn einer Übergangslösung reichte der Tessiner Nationalrat Cavadini (fdp) eine parlamentarische Initiative ein (Pa.Iv. 88.240), welche die sofortige Herabsetzung der im OR festgehaltenen Fristen forderte. Um die Diskussionen in den Räten nicht mit zu vielen Vorstössen zum selben Thema zu überlasten, beschloss die vorberatende Kommission, ihre Arbeiten an dieser Initiative bis zum Vorliegen der bundesrätlichen Vorschläge zu sistieren.

Indirekter Gegenvorschlag zur Volksinitiative "für eine volle Freizügigkeit in der beruflichen Vorsorge"

Ende Februar legte der Bundesrat seinen Entwurf für ein Freizügigkeitsgesetz vor. Ursprünglich hätte den Pensionskassen zwingend und bis ins Detail vorgeschrieben werden sollen, wie sie die Eintritts- und die Austrittsleistungen zu berechnen haben. Nach der heftigen Opposition der Kassen im Vernehmlassungsverfahren schwächte der Bundesrat seinen Vorschlag ab, ohne freilich vom Ziel der vollen Freizügigkeit abzuweichen. Anstatt einer Harmonisierung der Reglemente und einer zwingenden Berechnungsformel für die Aus- und Eintrittsleistungen begnügt sich das Gesetz jetzt damit, die minimalen Ansprüche des Arbeitnehmers beim Verlassen der alten Pensionskasse und die maximalen Ansprüche der Vorsorgeeinrichtung beim Eintritt eines Versicherten kassenübergreifend aufeinander abzustimmen.

Bei Spareinrichtungen ist dem austretenden Vorsorgenehmer das Sparkapital mitzugeben, bei versicherungsmässig geführten Beitragsprimatkassen das Deckungskapital. Beim Eintritt müssen die Spareinrichtungen die ganze vom Versicherten mitgebrachte Austrittsleistung entgegennehmen. Die Versicherungskassen haben den Einkauf ins Deckungskapital zu ermöglichen. Die Leistungsprimatkassen bestimmen die Austritts- und Eintrittsleistungen dagegen grundsätzlich nach ihrem Reglement. Allerdings darf gemäss den Vorschlägen des Bundesrates die Eintrittsleistung nicht höher und die Austrittsleistung nicht tiefer ausfallen als die nach der Pro-rata-temporis-Methode berechnete Leistung. Dadurch behält der Arbeitnehmer beim Übertritt in eine andere Kasse den bereits erworbenen Vorsorgeschutz. Zusätzliche Eintrittsgelder wären nur beim Einkauf in höhere Vorsorgeleistungen nötig.

Am Vorentwurf wurden noch weitere Korrekturen vorgenommen. Jüngere Versicherungsnehmer erhalten eine verbesserte minimale Austrittsleistung. Diese besteht aus den eigenen Beiträgen und einem altersabhängigen Zuschlag von jährlich 4% ab Alter 20, maximal aus dem Doppelten der eigenen Beiträge. Hinzu kommen früher eingebrachte Austrittsleistungen samt Zins. Um den Vorsorgeschutz in optimaler Weise zu erhalten, muss neu die ganze Austrittsleistung und nicht – wie im Vorentwurf vorgesehen – bloss der obligatorische Teil in die neue Vorsorgeeinrichtung eingebracht werden. Teilzeitbeschäftigte werden grundsätzlich gleich behandelt wie Vollzeitbeschäftigte, und bei Änderung des Beschäftigungsgrades wird wie bei einem Stellenwechsel abgerechnet. Der Entwurf regelt auch, wie bei einer Ehescheidung die erworbenen Ansprüche auf Vorsorgeleistungen abgegolten werden können.

Die Pensionskassen und die Arbeitgeber rüsteten umgehend zum Feldzug auch gegen die moderatere Vorlage. Sie warfen ihr vor, immer noch zu perfektionistisch zu sein, die Leistungen zu gefährden und die Kassen über Gebühr einzuengen. Die Gewerkschaften orteten auch Schwachstellen im neuen Gesetz. Insbesondere erachteten sie die Leistungen für Versicherte unter 45 Jahren als zu tief, was alle jene benachteilige, die frühzeitig aus dem System ausscheiden, namentlich die ausländischen Arbeitskräfte. Zudem entstünden bei einem Übertritt in eine systemfremde Kasse – also von einer Leistungs- in eine Beitragsprimatkasse und umgekehrt – nach wie vor grosse Verluste oder Gewinne, weshalb nicht von einer vollen, sondern nur von einer verbesserten Freizügigkeit gesprochen werden dürfe. Gesamthaft stellten sie sich jedoch hinter die Vorschläge des Bundesrates.

Die zuständige Nationalratskommission unter Präsident Deiss (cvp, FR) trat zwar oppositionslos auf den Entwurf des Bundesrates ein, verlangte aber nach einer ersten Lesung weitere Abklärungen durch eine Subkommission und durch die Verwaltung. Schliesslich verabschiedete sie einen leicht modifizierten Vorschlag, welcher die Mobilität der bis 45-jährigen deutlich verbessert, ohne deswegen die Betriebstreuen zu benachteiligen. Die Kommission sah neu vor, dass der Versicherte neben der allfälligen Eintrittsleistung und den eigenen Beiträgen zwischen dem 25. und dem 45. Altersjahr pro Jahr einen Zuschlag von 5% erhält. Ab 45 Jahren verdoppelt sich so das Mitnahmekapital, womit die volle Freizügigkeit erreicht ist, allerdings nur unter der Bedingung, dass in der alten Kasse die Beiträge paritätisch gestaltet waren. Im Gegensatz zum Vorschlag des Bundesrates – und im Entgegenkommen an die Kassen – setzt der Sparprozess fünf Jahre später ein, steigt aber um ein Prozent mehr pro Jahr. Ebenfalls als Konzession an die Kassen wurde der Verzicht auf einen einheitlichen technischen Zinssatz verstanden: Anstatt den heute gebräuchlichen Zinssatz von vier Prozent für alle vorzuschreiben, gab die Kommission dem Bundesrat die Kompetenz, innerhalb einer Bandbreite von mindestens einem Prozent zu differenzieren, was in der Praxis zu Eckwerten zwischen 3,75 und 4,75% führen dürfte.

Der Rat folgte mit unwesentlichen Detailkorrekturen den Anträgen seiner Kommission. Die Vorlage wurde schliesslich einstimmig zuhanden dés Ständerates verabschiedet. Auf der Strecke blieben die Anträge Hafner (sp, SH) und Nabholz (fdp, ZH), wonach bei einer Ehescheidung die Pensionskassenansprüche hälftig zu teilen seien. Die Mehrheit des Rates erinnerte an die anstehende Revision des Scheidungsrechts und wollte das Mass der Aufteilung bis dahin den Gerichten überlassen. Mit dem Hinweis auf die kommende Revision der Arbeitslosenversicherung wurde ein Antrag Brunner (sp, GE), bei Entlassung aus wirtschaftlichen Gründen sei die volle Freizügigkeit unbekümmert des Alters zu gewähren, ebenfalls abgelehnt. Keine Chance hatten auch die Anträge Loeb (fdp, BE) für eine Übergangsfrist von drei Jahren sowie jener einer Kommissionsminderheit unter Bortoluzzi (svp, ZH) für eine Anpassungszeit von fünf Jahren. Der Rat folgte dem Antrag der Kommissionsmehrheit, welche betonte, das Inkrafttreten der Freizügigkeit sei dringlich und werde ohnehin nicht vor 1995/96 möglich sein.

Beim neuen Bundesgesetz über die Freizügigkeit in der beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge folgte der Ständerat — trotz starkem Lobbying der Pensionskassenvertreter, welche vor allem die Unterstützung von Coutau (lp, GE) und Kündig (cvp, ZG) fanden — in der Differenzbereinigung weitgehend den Beschlüssen des Nationalrates. Zugunsten der jüngeren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kehrte er allerdings zum bundesrätlichen Modell zurück, welches vorsieht, dass die Arbeitnehmenden ab dem 20. Altersjahr neben ihren eigenen Versicherungsbeiträgen einen Teil der Arbeitgeberbeiträge mitnehmen können, wobei der Arbeitgeberanteil jährlich um vier Prozent angehoben wird, so dass im 45. Altersjahr die volle Freizügigkeit erreicht ist. Der Nationalrat hatte als Konzession an die Pensionskassen den Aufnungsprozess erst im Alter von 25 Jahren aktivieren, dafür aber mit 5% jährlich honorieren wollen, was ebenfalls zur vollen Freizügigkeit mit 45 Jahren geführt hätte, schloss sich in der Differenzbereinigung aber dem Ständerat an.

Im Gegenzug erklärte sich der Ständerat in Abweichung vom bundesrätlichen Vorschlag seinerseits bereit, den Pensionskassen bei dem für die Berechnung der Eintritts- und Austrittsleistungen massgeblichen technischen Zinssatz insofern entgegenzukommen, als dieser um ein Prozent variieren darf. Damit kann eine Kasse immer noch zehn bis zwölf Prozent des Guthabens eines Stellenwechslers zurückbehalten. Der Einheitssatz soll erst mit einer nächsten Revision verwirklicht werden. Unter diesen Umständen konnte die Vorlage noch vor Jahresende definitiv verabschiedet werden.

Auf den 1. Januar trat das Bundesgesetz über die Freizügigkeit in der beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (Freizügigkeitsgesetz) ohne wesentliche materielle Übergangsfristen in Kraft.

Eidgenössische Volksinitiative "für eine volle Freizügigkeit in der beruflichen Vorsorge"

Obgleich das Volksbegehren in seiner Zielsetzung — Lösung der "goldenen Fesseln" beim Stellenwechsel — völlig unbestritten war, verwarfen beide Kammern die Initiative des Kaufmännischen Verbandes "für die volle Freizügigkeit in der beruflichen Vorsorge". Als Gründe für ihre Ablehnung führten die Gegner — CVP, FDP, LP und SVP — formelle Vorbehalte an. Die Form der allgemeinen Anregung zwinge zum umständlichen Weg über einen ausformulierten Verfassungsartikel, zwei Volksabstimmungen und gesetzliche Anpassungen. Der Vorschlag des Bundesrates, das Anliegen auf Gesetzesstufe zu realisieren, sei rascher und effizienter. Die Befürworter der Initiative warnten davor, durch eine Ablehnung des Volksbegehrens frühzeitig politischen Druck wegzunehmen. Der bereits laut gewordene breite Widerstand gegen das angekündigte Freizügigkeitsgesetz lasse möglicherweise eine unfruchtbare Debatte erwarten. Das Parlament sei deshalb im Begriff, hier gewissermassen einen Blankoscheck zu unterschreiben, bemängelten vorab die Sprecher von SP und LdU/EVP.

Der Kaufmännische Verein, welcher als Initiant einer Volksinitiative "für die volle Freizügigkeit in der beruflichen Vorsorge" die Diskussion erst recht ins Rollen gebracht hatte, zeigte sich überzeugt, dass das nun vorliegende Gesetz das derzeit Mögliche bringe. Falls die Referendumsfrist ungenutzt abläuft, will er sich den Rückzug seiner Initiative überlegen.

Ende Juni wurde die rund fünf Jahre zuvor eingereichte Volksinitiative "für eine volle Freizügigkeit in der beruflichen Vorsorge" von den Initianten zurückgezogen. Da das Referendum gegen das neue Gesetz nicht ergriffen wurde, wurde die Regelung auf den 1.1.1995 in Kraftgesetzt.