Kurz nach den Nationalratswahlen 2019 erreichte der «St. Galler Wahlmarathon» (St. Galler Tagblatt, SGT) am 8. März 2020 mit den kantonalen Parlamentswahlen und den Regierungsratswahlen die nächste Etappe. Der Ansturm auf die auf acht Wahlkreise des Kantons St. Gallen verteilten 120 zu vergebenen Parlamentssitze erreichte eine noch nie da gewesene Stärke: 1'016 Personen kandidierten für das politische Amt (2016: 778; +31%) und füllten insgesamt 78 Listen (2016: 72). 348 Kandidierende waren weiblich, was einem Frauenanteil von 34.3 Prozent und einem Plus von knapp 8 Prozent im Vergleich zu 2016 entsprach (2016: 29.1%). Im Rat waren in der vergangenen Legislatur 21 der insgesamt 120 Sitzen von Frauen besetzt (17.5%). Für die anstehende Legislatur wollten nur wenige bisherige Parlamentarierinnen und Parlamentarier ihren Sitz räumen: Von 120 Bisherigen traten 111 wieder an. Unter ihnen auch die «politischen Urgesteine» (SGT) Karl Güntzel (SG, svp), Meinrad Gschwend (SG, gp), Seline Heim (SG, cvp), Ruedi Blumer (SG, sp) und Felix Bischofberger (SG, cvp). Den Bisherigen standen knapp 900 Neukandidierende gegenüber – einigen von ihnen wurden in der Presse gute Wahlchancen zugesprochen, befanden sich doch auch viele bekannte Namen aus der lokalen Politik darunter, etwa die Gossauer Stadtpräsidentin Helen Alder Frey (SG, cvp) sowie verschiedene Mitglieder von Stadt- und Gemeindeparlamenten. Für Schlagzeilen sorgte die SVP Rheintal, welche mit Marcel Toeltl (SG, svp), welcher in der Vergangenheit bereits wegen Rassismusvorwürfen vor Gericht gestanden hatte und «nach einem Bundesgerichtsurteil von 2017 straffrei als ‹Nazisympathisant› bezeichnet werden» (SGT) darf, in den Wahlkampf ging. Wenige Wochen nach der Nominierung schloss die SVP Rheintal den Kandidaten allerdings aus der Partei aus, da er «gegen die Interessen der Partei verstossen» habe. Zu diesem Zeitpunkt war es allerdings schon zu spät, den Namen von der Liste zu entfernen.
Die in der laufenden Legislatur stärkste Partei im St. Galler Kantonsparlament war die SVP mit 40 Sitzen, gefolgt von der CVP und der FDP mit jeweils 26 Sitzen und der SP mit 21 Sitzen. Die GP hatte bis anhin 5 Sitze und die GLP 2 Sitze inne. Zur Bildung einer Fraktion bedarf es im Kantonsrat St. Gallen sieben Sitze. Vor den Wahlen 2020 gab es im Kantonsrat vier Fraktionen: Sowohl die SVP als auch die FDP bildeten je eine Fraktion, die CVP und GLP organisierten sich wie auch die SP und GP gemeinsam. Die BDP und die EVP hatten bei den Kantonsratswahlen 2016 alle ihre Sitze verloren und waren somit in der laufenden Legislatur nicht im Rat vertreten. Dies wollten sie bei den kommenden Wahlen ändern und spannten für den Wahlgang zusammen. Kleine Parteien hätten es im Kanton St. Gallen schwer, da überparteiliche Listenverbindungen nicht zugelassen seien, so das St. Galler Tagblatt. Zur Zurückeroberung ihrer Sitze setzten sie aus diesem Grund in vier Wahlkreisen auf eine gemeinsame Liste. In zwei Wahlkreisen trat die EVP hingegen alleine an.
Auch die Grünen und die GLP teilten ein Ziel, beide strebten für die neue Amtsperiode Fraktionsstärke an. Die Grünen benötigten dafür zwei zusätzliche Sitze und für die Grünliberalen war eine Zunahme von fünf Sitzen nötig. Beide Parteien hatten bei den Nationalratswahlen von der Grünen Welle profitieren können und sahen deshalb den kantonalen Wahlen sehr zuversichtlich entgegen, wie sie in ihren Communiqués verlauten liessen. Auch die SP wollte den nationalen Linksrutsch in den Kanton bringen. Sie stieg mit einer separaten Frauenliste und verschiedenen kandidierenden Klimaaktivistinnen und -aktivisten mit einem klaren Signal in den Wahlkampf ein: Die sich fürs Klima engagierende junge Generation müsse in der Politik vertreten sein, postulierte ihr Wahlkampfleiter im Gespräch mit dem St. Galler Tagblatt. Als Wahlziel nahm sich die St. Galler FDP vor, die leichte Steigerung des Stimmenanteils bei den Nationalratswahlen auch bei den kantonalen Parlamentswahlen Wirklichkeit werden zu lassen.
Befragt nach den künftigen parteilichen Themenschwerpunkten, zeichneten die Kantonalparteipräsidenten in den Medien ein farbiges Bild: Die Umwelt- und Klimapolitik sowie die Energiepolitik standen bei fast allen Parteien im Vordergrund. Entsprechende Ziele strebten die GP, die SP, die CVP, die GLP und die FDP an. Ausnahme bildete die SVP, welche ihren Fokus auf die Begrenzungsinitiative legen wollte. Darüber hinaus äusserte die SVP – wie auch die FDP – den Willen, das Spitalwesen im Kanton zukunftsfähig abzusichern. Zusätzlich zum Engagement fürs hängige kantonale Energiegesetz nannte der Präsident der St. Galler CVP die Förderung der ausserfamiliären Kinderbetreuung, die Siedlungsverdichtung und das Polizeigesetz als zentrale Pfeiler der künftigen kantonalen Parteipolitik. Neben dem Fokus auf die Klimaerwärmung wollte sich die SP verstärkt für eine grössere Chancengleichheit für alle, namentlich für das Stimmrechtsalter 16 und das Stimm- und Wahlrecht von ausländischen Personen auf Gemeindeebene, einsetzen, so ihr Parteipräsident.
Die SGT betitelte den Wahlkampf für die Kantonsratswahlen mehrere Male als «langweilig» und «lau». Kreative Kampagnen, Aktionen sowie Slogans habe man vermisst. Wichtige und aktuelle Themen wie etwa die Spitalplanung oder die Standortförderung hätten gemäss dem Politologen Patrick Emmenegger zwar bestanden, seien vor dem Wahlsonntag aber kaum dauerhaft in die Debatte aufgenommen worden. Er sah darin Anzeichen für eine zunehmende Entfremdung zwischen der südlichen Region See-Gaster und den nördlichen Wahlkreisen, welche ein Gefühl der Minderwertigkeit und Vernachlässigung in der südlichen Region auslöse. Dieser Umgang sei «bezeichnend für den generellen Zustand des gesamten Kantons», so der Politologe im Gespräch mit der Zeitung. Darüber hinaus würde die Relevanz des Kantons «permanent heruntergespielt», was das Interesse in die kantonale Politik weiter sinken lasse. Die Distanz zwischen Volk und der kantonalen Politik sei im Kanton St. Gallen ausgeprägter als in anderen Regionen der Schweiz, schrieb die SGT im Vorfeld der kantonalen Wahlen. Dies sei darauf zurückzuführen, dass sich die Kantonsbevölkerung viel stärker über ihre Regionen und Gemeinden identifiziere und der Kanton ein «abstraktes Gebilde, das vor allem auf der Landkarte existiert» bleibe. Anzeichen für ein schwindendes Interesse an der Kantonspolitik lieferte die Wahlbeteiligung der letzten Jahre: Ausser bei den Erneuerungswahlen 2016 war die Beteiligung an den Kantonsratswahlen seit 20 Jahren nicht mehr über 40 Prozent gestiegen. Am Wahlsonntag wurde mit einer Wahlbeteiligung von 32.7 Prozent ein neuer Tiefstand erreicht.
Mit den Kantonsratswahlen 2019 schwappte die Grüne Welle auch auf das Parlament des Kantons St. Gallen über – wenn auch schwächer als auf nationaler Ebene. Die Grünen und die Grünliberalen gewannen von allen Parteien am meisten Wählerstärke (GP: 7.6%; +2.4 Prozentpunkte (PP), GLP: 6.1%; +3.9 PP) und je vier Sitze hinzu. Ebenfalls zu den Gewinnern des Wahlgangs gehörten die CVP mit einem zusätzlichen Sitz (Wählerstärke: 22.2%; +1.8 PP) und die EVP, welche mit zwei Sitzen ihren Weg zurück ins Parlament fand (2.3%; +0.6 PP). Wie auf nationaler Ebene standen die grösseren Parteien auch bei diesen Wahlen auf der Verliererseite: Die SVP büsste mit einem Minus von 2.6 Prozentpunkten am stärksten an Wählerstärke ein (neu: 26.9%) und verlor fünf Sitze im Parlament. Auch die FDP verfehlte ihr Wahlziel und verlor 2 Prozentpunkte an Wähleranteilen (neu:18.3%), was sich in einen Verlust von vier Mandaten übersetzte. Die Sozialdemokraten verloren zwei Mandate und 0.7 Prozentpunkte an Wähleranteilen (neu: 15.3%).
Die Sitzverteilung hatte sich damit leicht verändert: Mit 35 Mandaten blieb die SVP trotz Verlusten die klar stärkste Partei im Kantonsrat. Neu fand sich die CVP mit 27 Sitzen an zweiter Stelle, gefolgt von der FDP, welche noch mit 22 Sitzen vertreten war. Ihren Platz halten konnte die SP, welche mit 19 Sitzen weiterhin Platz vier besetzte. Während die Grünen mit neu neun Sitzen im Kantonsrat ihre neue Fraktionsstärke feiern konnten, verfehlten die Grünliberalen diese mit neu sechs Sitzen hingegen knapp. Da die darauffolgende Suche nach einem Fraktionspartner erfolglos blieb, startete die GLP fraktionslos in die neue Legislatur. Auch die EVP war wieder mit zwei Sitzen im Parlament vertreten und bildete gemeinsam mit der CVP die zweitstärkste Fraktion des Parlaments.
Die SVP und FDP verloren damit ihre gemeinsame absolute Ratsmehrheit und werden künftig auf andere Parteien angewiesen sein. Es sei gut möglich, dass die CVP/EVP-Fraktion künftig «das Zünglein an der Waage spielen werde[...]», prophezeite das SGT kurz nach den Wahlen. Obschon die SP an Sitzstärke verloren hatte, wurde das rot-grüne Lager auch wegen der neuen grünen Fraktion im Rat insgesamt gestärkt. In Energie und Umweltfragen werde die Linke allerdings künftig auf die beiden neu gestärkten Mitte-Parteien angewiesen sein, vermutete das SGT. Das St. Galler Kantonsparlament bleibe auch nach den Wahlen 2020 klar bürgerlich, eine 180-Grad-Wendung der Politik sei deshalb nicht zu erwarten – so die Presse weiter.
Ab Juni 2020, dem Einzugstag der neuen Ratsmitglieder ins Parlament, werden 32 Plätze im Kantonsrat von Frauen besetzt sein, was einem Anteil von 26.7 Prozent entspricht (+9.2 PP).