Zwangssterilisation geistig behinderter Menschen

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In den letzten Jahren waren in der Presse immer wieder Berichte erschienen über die Zwangssterilisation geistig behinderter Menschen nicht nur im nationalsozialistischen Deutschland und in anderen europäischen Ländern seither, sondern auch in der Schweiz. Nationalrätin von Felten (gp, BS) hatte kurz vor ihrem Ausscheiden aus dem Parlament eine parlamentarische Initiative eingereicht, welche für Personen, die gegen ihren Willen oder unter psychischem Druck sterilisiert worden sind, eine angemessene Entschädigung verlangt. Auf Antrag der Rechtskommission wurde der Initiative einstimmig Folge gegeben. Die Kommission will zudem prüfen, ob und unter welchen Voraussetzungen Sterilisationen ohne Einwilligung der Betroffenen rechtmässig sind.

Die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften, deren Richtlinien von 1981 derartige Eingriffe als unzulässig bezeichnet, hielt es für angezeigt, ihre Praxis zu überdenken. Danach soll eine Sterilisation auch dann möglich sein, wenn eine Person deren Tragweite nicht ganz versteht. Die SAMW begründete ihre neuen Richtlinien mit dem Recht auf gelebte Sexualität. Der Eingriff soll dann erlaubt sein, wenn alle reversiblen Formen der Schwangerschaftsverhütung nicht möglich sind

Auf Grund scharfer Proteste von Behindertenorganisationen revidierte die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) ihre im Vorjahr publizierte Empfehlung zur Sterilisation nicht Urteilsfähiger. Sie hatte ihre Haltung mit dem Recht auf gelebte Sexualität begründet, weshalb es naheliegend sei, nicht mehr länger auf die Urteilsfähigkeit als einzig massgebliches Kriterium für die Zulässigkeit einer Sterilisation abzustellen; diese sollte auch dann erlaubt sein, wenn eine Person deren Tragweite nicht voll begreifen kann. In Erwartung der anstehenden Revision des Vormundschaftsgesetzes beschloss die SAMW, wieder zu ihren Richtlinien von 1981 zurückzukehren. Danach dürfen keine Sterilisationen von urteilsunfähigen Personen vorgenommen werden. Bei urteilsfähigen geistig Behinderten wird die Sterilisation als Ultima Ratio angesehen. Voraussetzung für den Eingriff soll ein Gutachten eines Facharztes und das klare Einverständnis der Betroffenen sein.

Wer gegen seinen Willen sterilisiert oder kastriert wurde, was vielen geistig behinderten Menschen auch in der Schweiz widerfuhr, soll für diesen schweren Eingriff in die psychische und physische Integrität entschädigt werden. Zudem gilt es, künftige Missbräuche zu verhindern. Beides soll in einem neuen Gesetz geregelt werden, das auf eine parlamentarische Initiative der ehemaligen Nationalrätin von Felten (gp, BS) zurückgeht und vom Bundesrat Ende März in die Vernehmlassung gegeben wurde. Das Gesetz will die Sterilisation nur dann erlauben, wenn die betroffene Person volljährig ist und ihre Einwilligung erteilt. Ist die Person jünger oder aufgrund ihrer geistigen Behinderung auf Dauer urteilsunfähig, ist der Eingriff nur unter strengen Voraussetzungen und mit Zustimmung der Vormundschaftsbehörde erlaubt. In allen anderen Fällen wird die Zwangssterilisation als schwere Körperverletzung im Sinn des Strafgesetzbuches geahndet. Opfer von vergangenen zwangsweisen Sterilisationen oder Kastrationen sollen im Rahmen des Opferhilfegesetzes entschädigt werden.

Die nationalrätliche Rechtskommission war 2000 einstimmig mit einer parlamentarischen Initiative von Felten beauftragt worden, ein Entschädigungsgesetz für die Opfer von Zwangssterilisationen auszuarbeiten. Die konkrete Umsetzung – die Kommission schlug eine pauschale Genugtuungszahlung von 5000 Fr. pro Fall vor – war nun aber bedeutend umstrittener. Im Einvernehmen mit dem Bundesrat, der kein Präjudiz für spätere anderweitige Wiedergutmachungen an Opfer behördlicher Fehleinschätzungen (beispielsweise ehemalige Verdingkinder oder Zwangsinternierte in der Psychiatrie) schaffen wollte, sprachen sich SVP und FDP gegen die Entschädigungen aus. Es wurde argumentiert, die Zwangssterilisationen seien im Zeitpunkt ihrer Durchführung als angemessen empfunden worden, weshalb Entschädigungszahlungen eine fragwürdige Vergangenheitsbewältigung ohne genügende verfassungsrechtliche Grundlage darstellen würden. SP, Grüne und CVP vertraten hingegen die Auffassung, derart formaljuristische Argumentationen seien rechtsstaatlich unsensibel, der Staat habe die Pflicht, ein in seinem Namen begangenes Unrecht wieder gutzumachen. Mit 91 zu 84 Stimmen wurden die Anträge des Bundesrates sowie eines Vertreters der SVP auf Nichteintreten abgelehnt. Gehör fand der Bundesrat dann aber im Ständerat, der sich mit 28 zu 8 Stimmen gegen Eintreten aussprach, worauf sich der Nationalrat mit 103 zu 66 anschloss.

Unbestritten war in beiden Kammern hingegen das eigentliche Sterilisationsgesetz. Dieses betrifft vor allem die rund 50'000 geistig behinderten Menschen, die in gemischtgeschlechtlichen Heimen leben, in denen Sexualität kein Tabu mehr ist. Um hier unerwünschte Schwangerschaften zu vermeiden, soll die Sterilisation als ultima Ratio zugelassen werden, allerdings unter strengen Bedingungen: sie ist erst ab 18 Jahren möglich und darf nur im Interesse der betroffenen Person vorgenommen werden.

Auf den 1. Juli setzte der Bundesrat das im Dezember 2004 verabschiedete neue Sterilisationsgesetz in Kraft. Eingriffe, wie sie bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts vorkamen, und die nach heutiger Auffassung teilweise missbräuchlich erscheinen, sollen sich nicht wiederholen. Dauernd urteilsunfähige Personen dürfen künftig nur noch in Ausnahmesituationen und mit Zustimmung der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde sterilisiert werden.