Sidney Kamerzin (mitte, VS) wollte mittels einer im Dezember 2021 eingereichten parlamentarischer Initiative (Pa.Iv. 21.511) das AHVG dahingehend ändern, dass Witwen und Witwer bezüglich des Rentenanspruchs bei Volljährigkeit des letzten Kindes gleichgestellt werden. Anders als bei Witwen erlösche bei Witwern der Rentenanspruch, wenn das letzte Kind die Volljährigkeit erreiche. Bei Witwen ende dieser Anspruch einzig bei einer erneuten Heirat oder im Todesfall. Diese gesetzliche Ungleichbehandlung sei heute nicht mehr zu rechtfertigen. Zudem habe der EGMR in der Vergangenheit in dieser Frage bereits «gegen die Schweiz entschieden», so der Initiant. Am gleichen Tag reichte Kamerzin eine zweite parlamentarische Initiative ein (Pa.Iv. 21.512), die ebenfalls auf die unterschiedliche Handhabung der Geschlechter beim Anspruch auf Witwen- und Witwerrente abzielte. Dort störte ihn den Umstand, dass ein kinderloser Witwer keinen Anspruch auf Hinterlassenenrente habe, eine kinderlose Witwe hingegen schon, sollte sie bei der Verwitwung über 45 Jahre alt gewesen sein und mindestens fünf Jahre verheiratet.
Anfang April 2022 gab die SGK-NR der Initiative 21.511 mit 14 zu 11 Stimmen Folge. Anderer Meinung war die SGK-SR, welche ihr im April 2023 mit 8 zu 3 Stimmen (1 Enthaltung) keine Folge gab, da sie zuerst die Reformbestrebungen des Bundesrats zur Thematik abwarten wollte. Die Vorlage des Bundesrats zur Reform der Witwen- und Witwerrente, deren Ziel es ist die vom EGMR festgestellte Ungleichbehandlung von Witwen und Witwern zu beheben, und der abweichende Entscheid ihrer Schwesterkommission veranlasste die Kommission des Nationalrats dazu, sich im April 2024 erneut mit der Initiative 21.511 auseinanderzusetzen. Dabei hielt sie an ihrem früheren Entscheid fest und beantrage, der Initiative mit 13 zu 12 Stimmen weiterhin Folge zu geben. Der zweiten Initiative 21.512 hatte die SGK-NR im April 2022 mit 11 zu 9 Stimmen (5 Enthaltungen) keine Folge geben, da sie die Vorstellung, einer kinderlosen Person Hinterlassenenrente auszuzahlen, als «überholt» empfand. Mit 98 zu 90 Stimmen (3 Enthaltungen) bestätigte der Nationalrat in der Sommersession 2022 daraufhin diesen Entscheid, womit diese Initiative erledigt war.

Dossier: Ungleichbehandlung von Witwen und Witwern

In der Sommersession 2024 befasste sich der Nationalrat mit der parlamentarischen Initiative von Sidney Kamerzin (mitte, VS), die Witwer und Witwen bezüglich des Rentenanspruches bei Volljährigkeit des letzten Kindes gleichstellen will. Der Initiant eröffnete seine Rede mit dem Verweis auf das Urteil des EGMR im Fall Beeler, wo das Gericht eine Ungleichbehandlung zwischen Witwen und Witwern in der Schweiz bestätigt habe. Das bestehende AHVG sei in dieser Frage vielleicht ehemals gerecht gewesen, als Frauen einen viel geringeren Zugang zu Bildung und Beruf gehabt hätten als Männer, es sei aber heute nicht mehr zeitgemäss und wirke sich dazu noch demotivierend auf den Willen aus, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Auch sei der Zeitpunkt des 18. Lebensjahres arbiträr, da Kinder häufig – gerade wenn sie studierten – auch danach noch auf Unterstützung durch den verbliebenen Elternteil angewiesen seien. Valérie Piller Carrard (sp, FR) und Melanie Mettler (glp, BE) stellten sich seitens der Kommissionsmehrheit hinter die Initiative: Die Kommissionsmehrheit erachte diese Ungleichbehandlung als unvertretbar und sehe diesbezüglich Handlungsbedarf, so dass in der Kommission nicht nur der Initiative Kamerzin Folge gegeben wurde, sondern auch der Initiative Gredig (glp, ZH; Pa.Iv. 21.416), wobei zusätzlich eine kommissionseigene Initiative (Pa.Iv. 22.426) zur Problematik lanciert worden sei. Zwar wolle man noch die Vorlage zur Teilrevision des AHVG abwarten, bevor konkrete gesetzgeberische Arbeiten vollzogen werden, dennoch erachte man es als wichtig, dass durch Folgegeben dieser Initiativen die Debatte weitergeführt werde. Eine Minderheit um Diana Gutjahr (svp, TG) forderte der Initiative keine Folge zu geben, da die Gesetzesänderung einen starken Leistungsausbau bedeute: Die SVP-Fraktion unterstütze grundsätzlich die Gleichstellung zwischen Witwen und Witwern, gerade weil dadurch die Finanzen entlastet würden. Diese Initiative wolle aber eine Rente auf Lebenszeit, was die Finanzen zusätzlich strapazieren werde. Die Abstimmung in der grossen Kammer fiel sehr knapp aus: Mit 98 zu 93 Stimmen (0 Enthaltungen) beschloss der Nationalrat, der Initiative Folge zu geben, wobei die geschlossen stimmenden Fraktionen der SVP und der FDP.Liberalen mit «Nein» votierten.

Dossier: Ungleichbehandlung von Witwen und Witwern