Grundlagen der Staatsordnung
Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
La politique de réforme est freinée par les divergences de tendances — Publication des réponses au questionnaire concernant la révision totale de la Constitution fédérale — Contributions nouvelles au problème de la révision — Etudes prospectives.
Grundfragen
Das politische Leben der Schweiz stand 1970 stark im Zeichen negativer Entscheide. Es fehlte nicht an Anstrengungen der Träger institutioneller Verantwortung, durch neue Konzeptionen und grössere Reformen den gewandelten Verhältnissen und Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Solche Bestrebungen stiessen jedoch bei den Verteidigern tangierter Interessen leicht auf Widerstand, und darüber hinaus zeigten Reaktionen breiter Volksschichten, dass auch zu bescheidenen Schritten an der Basis der Gesellschaft noch wenig Bereitschaft besteht. Die Abneigung gegenüber den Erscheinungen eines beschleunigten technischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandels richtete sich aber nicht nur gegen reformfreundliche politische Kräfte, sondern auch gegen die als Hauptverantwortliche und Hauptnutzniesser der Entwicklung betrachteten Wirtschaftsführer. Anderseits hatten sich die Vertreter einer behutsamen Reformpolitik mit den Vorkämpfern radikalerer Neuerungen auseinanderzusetzen, von denen sie den Vorwurf entgegennehmen mussten, sie seien selber an der Erhaltung der bestehenden Zustände interessiert.
In den drei grossen Verfassungsabstimmungen des Jahres traten diese verschiedenen Frontbildungen deutlich hervor
[1]. Die Überfremdungsinitiative mobilisierte die konservativen Elemente bis tief in die Arbeiterschaft hinein und stellte sie sowohl der politischen wie der wirtschaftlichen Führung und dazu allen dem Wandel offenen Kräften gegenüber; gegen die Vereinigung von institutioneller Autorität, wirtschaftlicher Macht und entwicklungsbejahender Dynamik vermochte sie nicht durchzudringen. Das knappe Stimmenverhältnis bei ausserordentlich hoher Stimmbeteiligung liess aber eine tiefe Vertrauenskrise zwischen den Massen und den Führungsschichten erkennen. Die Initiative « Recht auf Wohnung» entsprang einer radikalen Neuerungstendenz und wurde Ausdruck des sozialen Protests der städtischen Mieterschichten; sie scheiterte am Widerstand der wirtschaftlichen Interessengruppen und der an bürgerlichen Ordnungsvorstellungen festhaltenden politischen Führungskräfte, denen diesmal die konservativeren Stimmbürger, insbesondere auf dem Lande, Gefolgschaft leisteten. Die Finanzartikel wurden von den gemässigten Reformpolitikern mit Unterstützung der reformfreundlichen, namentlich städtischen Bevölkerungsteile durchzusetzen versucht. Gegen sie wandten sich einerseits Teile der wirtschaftlichen Führungsschicht sowie politische Führungskreise und vorwiegend ländliche Bewohner kleinerer, wirtschaftlich schwacher Kantone, anderseits radikale Neuerer, die der sozialpolitische Gehalt der Vorlage nicht befriedigte; diese heterogene Opposition siegte mit Hilfe des Ständemehrs. So endeten alle drei Vorstösse, der konservative, der « radikale » und der gemässigt reformistische, in der Negation, weil sich die verschiedenartigen Gruppen und Tendenzen gegenseitig neutralisierten. Eine ähnliche Konstellation wie bei der Finanzvorlage — doppelte Opposition aus Arbeitgeber- wie aus Arbeitnehmerkreisen — trug auch zum Misserfolg des Konjunkturdämpfungsversuchs des Bundesrates mit dem Exportdepot bei
[2].
Die Reformarbeit der Behörden bewegte sich überwiegend noch im Stadium der Vorbereitung; grössere Aufmerksamkeit erregten Expertenvorschläge für die Militärorganisation, die Landesplanung und die Altersvorsorge
[3]. Die Ungeduld der nach Neuerungen drängenden Kreise äusserte sich in einem Anschwellen der Zahl lancierter oder angekündigter Volksinitiativen; zum Teil entsprangen solche Vorstösse auch dem Bedürfnis der Parteien, sich auf die Nationalratswahlen von 1971 hin besser auszuweisen
[4]. In Gärung blieben insbesondere jugendliche Kräfte; sie richteten aber ihre Aktionen vermehrt auf konkrete Ziele
[5]. In den Wahlen äusserte sich weiterhin eine starke Stabilität, doch kam die Spannung zwischen den Generationen auch in den Parteien zum Ausdruck; ausser bei den Konservativ-Christlichsozialen wurden freilich nirgends tiefgreifende Strukturreformen an die Hand genommen
[6].
Stärker als bisher trat die Verflechtung des Landes in das internationale Geschehen ins Bewusstsein. Die Entführungsaktionen nahöstlicher und lateinamerikanischer Revolutionäre stellten die Schweiz unvermittelt ins Rampenlicht der Weltpolitik; die Aufnahme von Erkundungsgesprächen mit der EWG verlieh der europäischen Integrationsfrage unmittelbare Dringlichkeit. Auch hier sah sich die politische Führung in einer doppelten Spannung zu vorwärtsdrängenden und beharrenden Kräften, deren Intensität in vermehrten Solidaritätskundgebungen einerseits und in xenophoben Reaktionen anderseits zum Ausdruck kam
[7].
Totalrevision der Bundesverfassung
Als Reformarbeit auf weite Sicht wurden auch die Vorbereitungen für eine Totalrevision der Bundesverfassung weitergeführt. Die Arbeitsgruppe Wahlen veröffentlichte im August die eingegangenen Vernehmlassungen, deren wesentlichste Postulate zur Hauptsache schon im Rahmen der schweizerischen Politik des Jahres 1969 erwähnt worden sind
[8]. Alt Bundesrat Wahlen stellte an einer Pressekonferenz fest, dass kaum originelle Vorschläge für eine Umgestaltung des Staates eingegangen seien; es wurde allerdings kritisch vermerkt, dass man auf Entscheid des Bundesrates nicht alle Eingaben in die Veröffentlichung aufgenommen hatte
[9]. Von der sog. « ausserparlamentarischen Opposition » lagen jedoch keine Stellungnahmen vor
[10]. Besondere Beachtung fand ausser der Befürwortung einer Abschaffung des Ständerates (Universität Zürich) vor allem diejenige einer Einführung des Präsidialsystems in der Landesregierung (Kanton Solothurn). Die Partei der Arbeit beschränkte sich im wesentlichen darauf, als Etappe auf dem Weg zum Sozialismus die Verstaatlichung wichtiger Unternehmungen, ein Mitbestimmungsrecht in den Betrieben sowie Kontrollbefugnisse des Staates gegenüber der Wirtschaft zu fordern
[11]. Die Arbeitsgruppe gab bekannt, dass sie aufgrund der vorliegenden Stellungnahmen einen Schlussbericht verfassen werde, der jedoch nicht vor Ende 1971 zu erwarten sei. Das EJPD werde darauf eine erweiterte Kommission mit der Ausarbeitung eines Vorentwurfes zu einer neuen Bundesverfassung beauftragen
[12].
Während man sich im allgemeinen damit abfand oder sogar eine gewisse Genugtuung äusserte, dass der Reformeifer des Schweizervolkes nicht höhere Wellen geworfen hatte, wiesen einzelne Stimmen darauf hin, dass die Hauptarbeit erst noch zu tun sei
[13]. Neue Impulse versuchten zwei Publikationen zu vermitteln, deren Verfasser sich nicht an das Schema des Fragebogens der Arbeitsgruppe hatten halten wollen. Eine Gruppe jüngerer Akademiker rief zu einem Gespräch über die Schweiz der Zukunft auf, das nicht nur Retuschen an der bestehenden Struktur von Staat und Gesellschaft anstreben, sondern grundsätzlich alles Bestehende in Frage stellen müsse. An die Stelle der von vielen vermissten Leitidee für eine neue Verfassung habe die Konfrontation mit der gewandelten Wirklichkeit zu treten; erst nach einem mehrjährigen « Fegfeuer elementarer Grundsatzdiskussionen » werde man an die eigentliche Verfassungsarbeit gehen können. Die als « Helvetische Alternativen » präsentierte Schrift enthielt nur Fragen und unverbindliche Anregungen, die allerdings bis zur Verstaatlichung des Bodens, zur Kontrolle des wirtschaftlichen Wettbewerbs und zur Demokratisierung der Vorbereitung politischer Entscheide reichten
[14]. Zielstrebiger waren die Thesen eines jungen Politologen, der eine Beschränkung der Revision auf das politische Entscheidungssystem empfahl; seine Hauptpostulate zielten auf die Einschaltung des Referendums in die Gesetzesvorbereitung, auf den Übergang zu einem einkammerigen Berufsparlament sowie auf die Einführung des Systems der Präsidialregierung
[15].
Die Beschäftigung mit der
Zukunft, die seit 1968 wachsendem Interesse begegnet, fand einen ersten Niederschlag in der Bekanntgabe von Ergebnissen der unter der Leitung Prof. F. Kneschaureks stehenden Arbeitsgruppe Perspektivstudien; ihr widmete sich auch eine im März gegründete «Schweizerische. Gesellschaft für Zukunftsforschung » sowie eine im Oktober konstituierte Prospektivkonferenz der « Neuen Helvetischen Gesellschaft »
[16].
[1] Vgl. unten, S. 86, 123 u. 131 f.
[2] Vgl. unten, S. 64 ff.
[3] Vgl. unten, S. 54 f., 116 u. 141 f.
[5]Vgl. unten, S. 17, 147 f., 150 u. 152 ff.
[6] Vgl. unten, S. 30 ff. u. 185 ff.
[7] Vgl. unten, S. 36 ff. u. 42 f.
[8] Arbeitsgruppe für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, Antworten auf die Fragen der Arbeitsgruppe, 4 Bde, Bern (1970). Vgl. dazu SPJ. 1969, S. 11.
[9] NZ, 394, 28.8.70; Lb, 199, 28.8.70; BN, 361, 29./30.8.70. Zur Kritik vgl. Ostschw., 201, 29.8.70; NZ, 414, 8.9.70.
[10] NZ, 393, 28.8.70; Bund, 200, 28.8.70.
[11] Arbeitsgruppe für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, Antworten auf die Fragen der Arbeltsgruppe, Bd 1, S. 505 ff., Bd 2, S. 313 f., Bd 3, S. 90 ff.
[13] Vgl. die Skepsis in NZN, 200, 28.8.70; AZ, 198, 28.8.70; Lib., 273, 28.8.70; BN, 361, 29./30.8.70; JdG, 202, 31.8.70; NZ, 408, 6.9.70; anderseits das Engagement in Ostschw., 201, 29.8.70; NZZ, 401, 30.8.70.
[14] Helvetische Alternativen, Zürich 1971 (erschienen im November 1970).
[15] LEONHARD NEIDHART, Reform des Bundesstaates, Bern 1970.
[16] Vgl. unten, S. 63; ferner NZZ (sda), 141, 25.3.70; 461, 5.10.70; NZZ, 458, 2.10.70; dazu SPJ, 1968, S. 50; 1969, S. 10.