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Allgemeine Chronik
Überblick
Auch das Jahr 1993 war von der Europapolitik geprägt. Zum Ärger der integrationsfeindlichen Kreise hielt der Bundesrat in seinem im Herbst veröffentlichten Bericht zur schweizerischen Aussenpolitik am Ziel eines Beitritts zur Europäischen Union (EU) fest; konsequenterweise verzichtete er auch darauf, das im Vorjahr in Brüssel eingereichte Gesuch um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zurückzuziehen. Angesichts der weiterhin mehrheitlich negativen Volksmeinung sah er aber davon ab, Schritte zur Erreichung dieses Ziels einzuleiten. Die von den Behörden im Jahr nach der Ablehnung des EWR-Vertrags durch das Volk praktizierte Europapolitik liesse sich in Abwandlung der in den 80er Jahren gültigen Maxime "Beitrittsfähig sein, um nicht beitreten zu müssen" unter das Leitmotiv "Beitrittsfähig bleiben, obwohl man nicht beitreten kann" stellen. Konkret bedeutet dies einerseits den autonomen Nachvollzug der Gesetzgebung der Europäischen Union und andererseits den Abschluss von bilateralen Verträgen mit der EU. Dabei zeigte sich, dass ersteres wesentlich einfacher zu bewerkstelligen ist als letzteres.
Zum Zweck der Anpassung des schweizerischen Rechts an dasjenige der EU legte der Bundesrat ein "Swisslex" genanntes erstes Paket von insgesamt 27 Gesetzesrevisionen vor. Diese vor allem das Wirtschaftsrecht betreffende Neuerungen hatten bereits in der "Eurolex" figuriert. Sie wurden vom Parlament ohne grosse Opposition verabschiedet und auch nicht mit Referenden bekämpft. Auch bei anderen Rechtsetzungsgeschäften wurde auf grösstmögliche Kompatibilität mit den Vorgaben der EU geachtet. So etwa beim neuen Markenschutzgesetz, welches sich nicht nur eng an die entsprechende EU-Richtlinie anlehnt, sondern sogar schneller in Kraft gesetzt wurde als dasjenige Deutschlands.
Als bedeutend schwieriger erwies sich der Abschluss von bilateralen sektoriellen Verträgen mit der EU. Das von den EWR-Gegnern im Abstimmungskampf vorgebrachte Argument, dass es sich die EU nicht werde erlauben können, einem derart guten Kunden, wie ihn die Schweiz darstellt, die kalte Schulter zu zeigen, erwies sich als Illusion. Zwar zeigten sich die Brüsseler Behörden durchaus zu Gesprächen bereit. Sie machten aber deutlich, dass die Schweiz nicht hoffen könne, Verträge in denjenigen Bereichen abzuschliessen, die sie besonders interessieren (Verkehr, Forschung), andere Themen, wie etwa den freien Zugang von Arbeitskräften und Agrarprodukten aus südlichen Ländern auf den schweizerischen Markt, hingegen auszuklammern.
Neben der Europafrage bildete die Landesverteidigung ein wichtiges Diskussionsthema. Anlass dazu bot die Volksabstimmung vom 6. Juni über zwei Volksinitiativen: diejenige für den Verzicht auf neue Kampfflugzeuge, für welche im Vorjahr innerhalb von nur einem Monat eine halbe Million Unterschriften gesammelt worden waren, und diejenige für ein Verbot für den Bau von neuen Waffenplätzen. Nach einer sehr emotionalen Kampagne wurden beide Begehren recht deutlich abgelehnt. Die Auseinandersetzung über die Sicherheitspolitik wird die Stimmbürgerinnen und -bürger auch weiterhin beschäftigen: die SP reichte im Berichtsjahr eine Volksinitiative für eine drastische Senkung der Rüstungsausgaben ein, und rechtsnationalistische Kreise sorgten mit einem Referendum dafür, dass über die vom Parlament beschlossene Bildung eines schweizerischen UNO-Blauhelm-Kontingents eine Volksabstimmung durchgeführt werden muss.
Die Mehrheit der Stimmberechtigten hielt sich nicht nur bei den beiden Armee-Abstimmungen an die Empfehlungen von Bundesrat und Parlament, sondern bei sämtlichen Fragen (insgesamt sechzehn, davon sieben Verfassungsänderungen, drei Gesetzesreferenden und sechs Volksinitiativen), über welche im Berichtsjahr an der Urne zu entscheiden war. Sie relativierten damit auch das Ausmass des im Vorjahr insbesondere nach der EWR-Abstimmung von vielen Beobachtern festgestellten Misstrauens des "Volkes" gegenüber den Behörden und dabei namentlich der Landesregierung. Dabei ging es bei diesen Abstimmungen nicht bloss um Bagatellen. Angesichts des sich laufend verschlechternden Zustands der öffentlichen Finanzen waren vor allem die steuerpolitischen Entscheide von Bedeutung. Nachdem die Stimmberechtigten bereits im März eine Erhöhung der Treibstoffzölle um 20 Rappen je Liter angenommen hatten, stimmten sie am 28. November auch noch einer weiteren Steuererhöhung zu, indem sie nach drei vergeblichen Anläufen (1977, 1979 und 1991) die Ersetzung der Umsatzsteuer durch die Mehrwertsteuer guthiessen. Damit akzeptierten sie nicht nur eine Ausweitung der indirekten Steuern auf die Dienstleistungen sondern zugleich auch noch eine Satzerhöhung von 6,2% auf 6,5%.
Die wirtschaftliche Situation hat sich im Verlauf des Jahres weiter verschlechtert. Gegen Jahresende waren allerdings erste Anzeichen einer Besserung feststellbar. Diese vor allem von der wachsenden Auslandnachfrage induzierte Belebung vermochte sich aber noch nicht auf den Arbeitsmarkt auszuwirken, wo die Arbeitslosenquote auf einen neuen Rekordstand von gut 5% anstieg. Obwohl der Bundesrat und die bürgerliche Parlamentsmehrheit grundsätzlich an ihrer Überzeugung festhielten, dass die Krise nur mit einer Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen überwunden werden kann, stimmten sie doch einem von der Linken geforderten staatlichen Konjunkturförderungsprogramm zu. Der Preis für dieses Zugeständnis bestand in der Zustimmung der SP zur Ersetzung der Umsatz- durch die Mehrwertsteuer.
Gemäss Meinungsumfragen stellten für die Bevölkerung die Kriminalität und die damit in einem engen Zusammenhang stehende Drogenpolitik die nach der Arbeitslosigkeit wichtigsten Probleme des Berichtsjahres dar. Unter dem Schlagwort "Innere Sicherheit" wurde der vor allem in den grossen Städten stark angestiegenen Gewaltkriminalität der Kampf angesagt. Ins Visier genommen wurden dabei namentlich auch ausländische Drogenhändler, welche aufgrund eines laufenden Asylgesuchs nicht ausgewiesen werden können. In der Drogenpolitik kamen aber auch weniger repressive Strategien zum Zuge: der Bundesrat gab grünes Licht für den weltweit ersten offiziellen Versuch mit der medizinisch. kontrollierten Abgabe von harten Drogen an Schwerstsüchtige.
Mit der Genfer Sozialdemokratin Ruth Dreifuss – als Nachfolgerin für den zurückgetretenen René Felber – ist nach vier Jahren Unterbruch in der schweizerischen Landesregierung wieder eine Frau vertreten. Diese Wahl ging allerdings alles andere als reibungslos vor sich. Zuerst wählte die Bundesversammlung nicht die offizielle SP-Kandidatin Christiane Brunner, sondern ihren Fraktionskollegen Matthey. Auf Druck seiner Partei, welche auf dem Anspruch der Frauen auf diesen frei gewordenen Bundesratssitz beharrte, lehnte dieser jedoch die Wahl ab. Das Parlament liess sich freilich in seiner negativen Haltung zur Kandidatur Brunner nicht beirren und wählte nicht sie, sondern die von der SP als Alternative vorgeschlagene Dreifuss. Bemerkenswert an dieser Ersatzwahl waren nicht nur die Geschehnisse im Bundeshaus selbst, sondern auch die Tatsache, dass gleichzeitig vor dem Parlamentsgebäude zehntausend Frauen für die Wahl Brunners demonstrierten. Das Ereignis zeigte sogar eine gewisse Langzeitwirkung, indem bei anschliessenden kantonalen Wahlen deutlich mehr Frauen in die Parlamente gewählt wurden.
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