Jahresrückblick 2024: Verbände

Im Machtgefüge der Schweizer Verbandslandschaft kam es 2024 gemäss Einschätzungen in der Presse zu Gewichtsverschiebungen. So konnten die Gewerkschaften ihre Position stärken: An der Urne feierten sie mit der Annahme der von ihnen selbst lancierten Initiative für eine 13. AHV-Rente sowie mit der Ablehnung der BVG-Reform und der Mietrechtsreformen bedeutende Erfolge. Auch in der innenpolitischen Diskussion um ein neues Vertragswerk mit der EU blieben die Gewerkschaften eine prägende Stimme; ihre Zustimmung machten sie von ausreichenden flankierenden Massnahmen zum Lohnschutz und zu Arbeitsmarktkontrollen abhängig. Dass die Gewerkschaften trotz einer seit Längerem erodierenden Mitgliederbasis in der mehrheitlich bürgerlichen Schweiz eine so einflussreiche Position erlangten, wurde in den Medien mitunter dem strategischen Geschick und der bodenständigen Art des Spitzenpersonals insbesondere beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund zugeschrieben. Die gestiegene (wahrgenommene) Bedeutung der Gewerkschaften spiegelte sich auch darin wider, dass sie eine höhere Medienpräsenz hatten als in den Vorjahren (vgl. Abbildung 2 der APS-Zeitungsanalyse).

In einer geschwächten Position sah die Presse derweil die traditionellen Gegenspieler der Gewerkschaften: Die Wirtschaftsverbände, angeführt von der Economiesuisse, mussten 2024 wie schon in den Vorjahren mehrere empfindliche Abstimmungsniederlagen hinnehmen – ausser bei den AHV-, BVG- und Mietrechtsvorlagen auch beim abgelehnten Autobahnausbau. Manche Medienkommentare orteten eine fundamentale Entfremdung zwischen Wirtschaft und Bevölkerung, und einige sahen den Stuhl der Economiesuisse-Direktorin wackeln. Der Verband selbst beschloss eine neue Strategie für seine politischen Kampagnen. Im Herbst musste Economiesuisse zudem einen Austritt hinnehmen: Nachdem der Dachverband mitgeteilt hatte, den Bundesratsvorschlag für die Aufhebung des AKW-Neubauverbots zu unterstützen, kehrte ihm der Stromkonzern Alpiq den Rücken.

Für Beachtung sorgte ein europapolitischer Kurswechsel des Schweizerischen Gewerbeverbands: Der Verband, der sich in den letzten Jahren kritisch zur Zusammenarbeit mit der EU positioniert hatte – namentlich beim Rahmenabkommen –, äusserte sich mit Blick auf ein neues EU-Vertragspaket nun dezidiert positiv und kompromissbereit. Die Verbandsspitze kündigte an, mit dem neuen Verbandsdirektor generell einen konzilianteren Stil pflegen zu wollen als in den letzten Jahren. An der Abstimmungsurne fuhr der SGV unter anderem mit der von ihm angeführten Ja-Kampagne zum Autobahnausbau eine schmerzhafte Niederlage ein. Und gegen die BVG-Reform, bei der der SGV mit seiner Ja-Parole letztlich ebenfalls unterlag, regte sich auch in den eigenen Reihen Widerstand, etwa bei GastroSuisse oder beim Coiffeurverband.

Stark thematisiert wurde in den Medien die Rolle der Umwelt- und Naturschutzverbände in der Energiepolitik, weil einige Ausbauprojekte für Solar-, Wasser- und Windkraftwerke mit Verbandsbeschwerden bekämpft wurden. Kritikerinnen und Kritiker warfen den Verbänden vor, die Energiewende zu propagieren und gleichzeitig zu hintertreiben, und Forderungen nach einer Schwächung des Verbandsbeschwerderechts wurden laut. Die Umweltverbände hielten dem entgegen, dass sie nur gegen wenige, besonders problematische Energieprojekte vorgingen und aus Sicht des Naturschutzes durchaus schmerzhafte Kompromisse zugunsten der Energiewende eingingen, wie auch ihre fast einhellige Unterstützung des Energie-Mantelerlasses zeige. Um den Ausbau von Windkraftprojekten politisch zu unterstützen, trat 2024 mit Pro Wind Schweiz ein neuer Verband auf den Plan; er vereinigte eine Reihe kantonaler Organisationen, die sich mit demselben Zweck in den letzten Jahren gegründet hatten.

Zu den bedeutenden strukturellen Entwicklungen in der Schweizer Verbandslandschaft gehörte sodann die Gründung des neuen Krankenkassenverbands Prioswiss, der der politisch exponierten Branche nach Jahren einer konfliktreichen Spaltung zwischen Santésuisse und Curafutura wieder eine geeinte Stimme geben soll. Eine Wiedervereinigung kleineren Ausmasses gab es beim Versicherungsverband, indem die Axa in dessen Reihen zurückkehrte. Demgegenüber kochten beim Frauendachverband Alliance F wie schon im Vorjahr Spaltungsdiskussionen hoch; weil der Verband die Ja-Parole zur BVG-Reform ausgab und nach Darstellung von Kritikerinnen in den letzten Jahren generell nach rechts gerückt sei, erwägen die SP-Frauen einen Austritt.

Bei zahlreichen Verbänden kam es zu personellen Neuerungen. Diese wurden teilweise von internen Konflikten begleitet, so etwa der Präsidiumswechsel beim VCS, der von manchen als partei- und regionalpolitisch motivierter «Putsch» interpretiert wurde. Auch beim Schweizer Tierschutz wurde die bisherige Präsidentin gegen ihren Willen abgewählt; die Konflikte um organisatorische Reformen setzten sich indessen auch unter ihrem interimistischen Nachfolger fort. Zu Turbulenzen kam es auch in der Operation Libero, deren Co-Präsidentin Sanija Ameti mit einem Instagram-Post heftige öffentliche Kritik auf sich zog. Weil der nationale Vorstand an ihr festhielt, trat der Ostschweizer Regionalvorstand aus Protest geschlossen zurück. Einen neuen Präsidenten erhielt GastroSuisse. Dass sich dabei in einer Kampfwahl ein Reformkandidat von ausserhalb des bisherigen Vorstands durchsetzte, wurde in der Presse als Signal für einen Neuanfang interpretiert, nachdem der bisherige Amtsinhaber den Verband politisch stark exponiert und eher im rechtsbürgerlichen Lager positioniert hatte. Ohne öffentliche Kontroversen wurden derweil die Spitzenämter bei der SGG, dem HEV und dem SIA neu besetzt, nachdem in den letzten Jahren auch in diesen Organisationen um die politische Ausrichtung gestritten worden war. Für einige mediale Aufmerksamkeit sorgten schliesslich die Neubesetzung der Präsidien bei Swiss Olympic und beim Israelitischen Gemeindebund sowie die Tatsache, dass die neue Direktorin von HotellerieSuisse wegen Diskussionen um mögliche Interessenkonflikte nach wenigen Monaten im Amt bereits wieder ihren Rücktritt ankündigte.

Dossier: Rétrospective annuelle 2024