Der Abstimmungskampf um die Initiative für Ernährungssicherheit gestaltete sich aufgrund einer fehlenden Opposition eher ungewöhnlich. In zwei Punkten herrschte weitläufige Einigkeit. So würde aus der Annahme der Initiative direkt keine neue Gesetzesänderung und kein neuer Subventionsbedarf resultieren. Folglich entschieden nahezu alle Parteien und Verbände, die Initiative zur Annahme zu empfehlen. Die einzigen Nein-Parolen von nationalen Akteuren kamen vom Gewerbeverband und der EDU. Beide betrieben aber keinen Abstimmungskampf und äusserten sich kaum zu ihrer Position. Somit bildete sich bis zum Abstimmungstag kein Nein-Komitee, dafür entstanden gleich zwei Komitees, welche für ein Ja an der Urne warben. Das Erste, angeführt vom Bauernverband, bestand vor allem aus bürgerlichen Politikerinnen und Politikern; dem Zweiten, gegründet von der Agrarallianz, gehörten linksgrüne Politiker und Politikerinnen sowie Mitglieder der FDP an. Letzteren ging es darum, dem Bauernverband die Deutungshoheit nicht alleine zu überlassen. Sie sahen den Text des Gegenvorschlags als Kampfansage gegen den Protektionismus. Der linksgrüne Teil der Agrarallianz hingegen interpretierte den Gegenentwurf als Grundlage für eine umwelt- und tierfreundlichere Landwirtschaft.
Der weitläufigen Befürwortung durch die verschiedenen politischen Akteure zum Trotz sorgte der Gegenentwurf bei der Bauernschaft für deutliche Auseinandersetzungen. Einzelne Personen aus ihren Reihen gaben sich unglücklich über den Verlauf, welcher die Initiative mit dem Gegenvorschlag genommen hatte. Heftig diskutiert wurde vor allem der neu im Gegenentwurf eingefügte Abschnitt d, welcher besagt, dass die Voraussetzungen für „grenzüberschreitende Handelsbeziehungen, die zur nachhaltigen Entwicklung der Land- und Ernährungswirtschaft beitragen“, geschaffen werden sollen. Dies stehe in starkem Kontrast zur ursprünglichen Initiative des Bauernverbandes, welche die einheimische Landwirtschaft stärken wollte. Dass FDP-Bundesrat Johann Scheider-Ammann an verschiedenen Anlässen andeutete, dass der Gegenvorschlag als Grundlage dafür dienen könnte, um Schutzzölle abzubauen, alarmierte die Bauernschaft zusätzlich. Der Bauernverband versuchte zu beschwichtigen und interpretierte diesen Passus so, dass nur der Import von nachhaltigen Produkten, die nicht in der Schweiz produziert werden können, gefördert werden solle, und deutete den Gegenentwurf im Gesamten als Konzept für „fairen Handel, statt Freihandel“, wie in einer Medienmitteilung zu lesen war.
Diesem Verständnis widersprach die Luzerner SVP, welche kurz vor der Abstimmung unter der Anführung von alt Nationalrat und Landwirt Josef Kunz deutlich die Nein-Parole erliess. Kunz kritisierte öffentlich den Bauernverband, die Initiative zu unrecht zurückgezogen zu haben, und nannte den Gegenvorschlag einen „Freipass für den Agrarfreihandel“. Diese Ansicht teilte die St. Galler SVP, welche sich ebenfalls entschieden hatte, die Initiative abzulehnen.
Erfreut über die Entwicklungen der Ernährungsinitiative zeigte sich hingegen die Präsidentin der schweizerischen Kleinbauern-Vereinigung, Regina Fuhrer. Die Vereinigung, welche sich dagegen einsetzt, dass die Bauernhöfe in der Schweiz immer grösser und industrieller werden, lehnte die ursprüngliche Initiative des Bauernverbandes ab. Diese sei zu stark auf die Produktion und zu wenig auf Vielfalt ausgerichtet gewesen, so die Kritik Fuhrers. Den neuen Vorschlag jedoch lobte sie dafür, dass er eine schonende Produktionsweise und faire Handelsbeziehungen fördere sowie die Nahrungsmittelverschwendung thematisiere.
Grund für die ungewöhnlich grosse Einigkeit zwischen Parteien und Verbänden schien zu sein, dass der Text von allen Akteuren unterschiedlich interpretiert wurde und verschiedene Aspekte in den Vordergrund gerückt wurden. So gefielen den linken Parteien die ökologischen Forderungen des Gegenentwurfs, wie etwa die standortangepasste und ressourceneffiziente Lebensmittelproduktion und der ressourcenschonende Umgang mit Lebensmitteln, die wirtschaftsliberalen Parteien begrüssten die „grenzüberschreitenden Handelsbeziehungen“ und die landwirtschaftsnahen Akteure befürworteten die Sicherung der landwirtschaftlichen Produktion und des Kulturlandes.
Aus dieser einseitigen Ausgangslage heraus erstaunten auch die Ergebnisse der ersten Befragung zu den Stimmabsichten von GFS Bern kaum. 65 Prozent wollten sich „eher“ oder „bestimmt“ für die Vorlage aussprechen, nur 18 Prozent entschieden sich „eher“ oder „bestimmt“ dagegen. Die grösste Unsicherheit, die noch blieb, war, ob sich irgendwelche Konsequenzen aus einer Annahme ergeben würden. Fast schon philosophisch stellte der Tagesanzeiger die Frage: „Soll man einen Artikel in die Verfassung schreiben, der weder Gutes noch Böses bewirkt, der nichts verlangt und nichts anstösst, der einfach nur – existiert?“
Am Abstimmungssonntag kam es dann zur Entscheidung: Mit einer Stimmbeteiligung von fast 50 Prozent stimmte das Stimmvolk mit sehr hohen 78,7 Prozent wenig überraschend für die Annahme des Gegenentwurfs zur Volksinitiative und für den neuen Abschnitt in der Schweizer Verfassung.
Abstimmung vom 24. September 2017
Beteiligung: 47,1%
Ja: 1'943'180 (78,7%) / Stände: 20 6/2
Nein: 524'919 (21,3%) / Stände: 0 0/2
Parolen:
- Ja: SVP (2)*, SP, FDP (3)*, CVP, GPS, GLP (1)*, BDP, EVP, Bauernverband, Pro Natura, WWF, Bäuerinnen- und Landfrauenverband, Bischofskonferenz, Caritas.
- Nein: EDU, Gewerbeverband.
*in Klammern: Anzahl abweichende Sektionen.
Dossier: Volksinitiativen zur Förderung ökologischer Bedingungen in der Landwirtschaft