Gesetz zur Gleichstellung Behinderter (BRG 95.418)

Als PDF speichern

Am letzten Tag seiner Sommersession gab der Nationalrat einstimmig einer parlamentarischen Initiative Suter (fdp, BE) Folge, die eine verfassungsmässige Verankerung der Gleichstellung der Behinderten verlangt. Der Initiant erhofft sich von einem entsprechenden Verfassungszusatz einen Bewusstseinswandel und damit eine grundlegende qualitative Verbesserung der Situation der Behinderten. Der Anspruch auf Gleichstellung und Gleichbehandlung soll einerseits vor Diskriminierung schützen und andererseits als Auftrag an die Behörden aller Stufen verstanden werden, vorhandene Benachteiligungen abzubauen und die Integration zu fördern.

Dossier: Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen

Der Nationalrat hatte 1996 einstimmig einer parlamentarischen Initiative Suter (fdp, BE) Folge gegeben, welche verlangte, dass im Gleichstellungsartikel der Bundesverfassung (Art. 4) neben den Frauen auch die Behinderten in einem separaten Abschnitt explizit erwähnt werden. Im Berichtsjahr befasste sich die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit SGK mit der konkreten Umsetzung des Anliegens. Eine Mehrheit der Kommission wollte dabei nur gerade den Grundsatz aufnehmen, nicht aber die Präzisierungen, die Suter vorschwebten (Gleichheit in Schule, Ausbildung und Beruf sowie im Bereich der öffentlichen Transporte, der Kommunikation und der öffentlichen und privaten Bauten). Eine Minderheit der Kommission wollte die Spezifizierungen zwar aufnehmen, sie aber mit dem Zusatz abschwächen, dass dies nur im Rahmen des Möglichen zu gelten habe. Mitte August demonstrierten rund 80 Behinderte vor dem Bundeshaus gegen diese Verwässerung ihres Anliegens. Die Kommission des Nationalrats zur Totalrevision der Bundesverfassung übernahm den Vorschlag der SGK. Sie schlug im Rahmen der Verfassungsnachführung eine neue Bestimmung vor (Art. 7.4), welche für die Gleichstellung der Behinderten ein spezielles Gesetz mit entsprechenden Massnahmen verlangt.

Dossier: Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen

Gleichentags behandelte die grosse Kammer auch die Umsetzung einer 1996 angenommenen parlamentarischen Initiative Suter (fdp, BE) zur Gleichstellung der Behinderten. Eine rechtsbürgerliche Kommissionsminderheit versuchte noch einmal vergeblich, das Gleichheitsgebot dahingehend abzuschwächen, dass nur von der Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen gesprochen werden sollte bzw. das Gesetz nur im Rahmen der verfügbaren Mittel für die Gleichstellung zu sorgen hätte, unterlag aber mit 81 zu 64 resp. 83 zu 56 Stimmen. Andererseits scheiterte auch ein Antrag aus dem linken Lager, der den Passus, wonach der Gesetzgeber nur in Ergänzung zu privater Initiative und Verantwortung tätig wird, wieder streichen wollte. Am meisten entzündeten sich aber die Diskussionen am Antrag der Kommissionsmehrheit, entgegen den Beschlüssen bei der Verfassungsrevision noch einen dritten Satz in den vorgeschlagenen neuen Verfassungsartikel aufzunehmen, wonach den Behinderten der Zugang zu Bauten und Anlagen oder die Inanspruchnahme von Einrichtungen und Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, soweit zumutbar zu gewährleisten sei. Die FDP, unterstützt von Bundesrat Koller, beantragte hier Streichung, weil diese Forderung nur schwer einklagbar wäre und zu nicht abzuschätzenden finanziellen Folgen für Öffentlichkeit und Private führen würde. Koller verwies auch darauf, dass mit dieser Doppelspurigkeit des Vorgehens (laufende Verfassungsrevision und gleichzeitiger Antrag auf Abänderung der geltenden Verfassung) eine, wie er sagte, ”verfahrene Verfahrenssituation” entstehen würde. Mit 78 zu 66 Stimmen setzte sich der Antrag der Kommissionsmehrheit dennoch durch. Die Gesamtvorlage wurde mit 82 zu 64 Stimmen angenommen. Dafür votierte das geschlossene rot-grüne Lager mit Unterstützung von einzelnen Abgeordneten aus der CVP und der FDP

Dossier: Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen

Der Ständerat lehnte eine 1996 vom Nationalrat genehmigte parlamentarische Initiative Suter (fdp, BE) ab, die den entsprechenden Artikel in der Bundesverfassung (Art. 8 Abs.2) griffiger formulieren und insbesondere einen direkt einklagbaren Anspruch einführen wollte. Hingegen überwies er eine Motion Gross (sp, TG), die den Bundesrat auffordert, den Verfassungsartikel zügig in einem Gesetz umzusetzen.

Dossier: Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen

Im Dezember verabschiedete der Bundesrat seine Botschaft zum Gesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen behinderter Menschen. Es trägt den in der Vernehmlassung ausgedrückten Bedenken insofern Rechnung, als die Invaliden ein Beschwerde- und Klagerecht erhalten. Die Behindertenverbände reagierten verhalten auf die bundesrätlichen Vorschläge. Das Gesetz gehe zwar in die richtige Richtung, aber es genüge noch nicht. Insbesondere die Bereiche Arbeit (lediglich Förderung der Anstellung von Behinderten in der Bundesverwaltung) und Schule (nur Aufforderung an die Kantone, behinderten Kindern und Jugendlichen eine den Bedürfnissen angepasste Grundschulung zu gewährleisten) seien praktisch ganz ausgeklammert geblieben. Als besonders störend empfanden die Behinderten, dass das Gesetz für die Anpassungen in den öffentlichen Bauten und im öffentlichen Verkehr eine Übergangsfrist von 20 Jahren vorsieht, und dass der Abbau von Hürden nur zwingend vorgeschrieben wird, wenn der wirtschaftliche Aufwand vertretbar ist. Wegen dieser Mängel wollen die Verbände an ihrer Initiative festhalten.

Dossier: Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen

In der Herbstsession behandelte der Ständerat das Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen behinderter Menschen (Behindertengesetz, BehiG). Es herrschte Einigkeit darüber, dass die Situation der körperlich, geistig und psychisch behinderten Menschen verbessert werden muss. In der Detailberatung folgte die kleine Kammer im wesentlichen dem Vorschlag des Bundesrates. In einzelnen Punkten kam sie jedoch den Vorschlägen der Dachorganisation der privaten Invalidenhilfe (DOK) entgegen. So soll das Beschwerderecht nicht nur gesamtschweizerischen, sondern auch Behindertenorganisationen von gesamtschweizerischer Bedeutung zugestanden werden. Nicht durchsetzen – und zwar mit 32 resp. 31 zu 6 Stimmen – konnten sich Anträge der beiden SP-Abgeordneten Studer (NE) und Brunner (GE), den Geltungsbereich des Gesetzes auf das Erwerbsleben und die Ausbildung auszudehnen, wie dies auch die DOK in der Vernehmlassung gefordert hatte. Abgelehnt wurde auch der Antrag der Kommission, die Beschränkung der Entschädigung bei Diskriminierung (maximal 5000 Fr. nach bundesrätlichem Vorschlag) zu streichen und diese Frage den Richtern zu überlassen. Mit Unterstützung von Bundesrätin Metzler machte Merz (fdp, AR) demgegenüber geltend, diese Aufhebung wecke die Ängste des Gewerbes und wäre nicht konsensfähig. Das Gesetz, das einstimmig verabschiedet wurde, wird als indirekter Gegenvorschlag zur Volksinitiative „Gleiche Rechte für Behinderte“ zur Abstimmung kommen, sofern diese nicht zurückgezogen wird. Ebenfalls einstimmig gutgeheissen wurde eine Anschubhilfe von 300 Mio Fr. für behindertengerechte Massnahmen im öffentlichen Verkehr sowie die dafür notwendige Überwindung der Ausgabenbremse.

Dossier: Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen

Anders als der Ständerat im Vorjahr, der beim Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen behinderter Menschen (BehiG) in den grossen Linien dem Entwurf des Bundesrates gefolgt war, nahm die vorberatende Kommission des Nationalrates mit grosser Mehrheit eine deutliche Anreicherung der Vorlage vor. Unter Wahrung des Grundsatzes der wirtschaftlichen Tragbarkeit und der Verhältnismässigkeit orientierte sie sich dabei im wesentlichen am Gleichstellungsgesetz für Frau und Mann mit einklagbaren Rechten für Einzelpersonen und Organisationen. Öffentlich zugängliche Altbauten sowie private Neubauten mit mehr als sechs Wohneinheiten (anstatt acht gemäss Bundesrat und Ständerat) sollten zwingend behindertengerecht ausgestaltet werden. Die wesentlichste Ausdehnung fand im Bereich der Arbeit statt. Der Geltungsbereich wurde auf alle Arbeitsverhältnisse nach Obligationenrecht und öffentlichem Recht erweitert. Die Kantone wurden verpflichtet, die Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in die Regelschule zu fördern. Nach dem Muster des Eidg. Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann wurde die Schaffung eines Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen beschlossen, das über die Grundlagen des Gesetzes informieren, Kampagnen durchführen und die Tätigkeiten öffentlicher und privater Einrichtungen auf diesem Gebiet koordinieren soll.

Dossier: Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen

Ohne grosse Diskussionen übernahm der Ständerat in der ersten Runde des Differenzbereinigungsverfahrens jene Beschlüsse des Nationalrates, die keine oder kaum Auswirkungen auf die Wirtschaft haben (Förderung der schulischen Integration der Kinder und Jugendlichen, Gleichstellungsbüro), verwässerte die Vorlage aber erneut in der für die Behinderten zentralen Frage des Zugangs zu Bauten und Anlagen, die der Öffentlichkeit dienen; Behinderte sollten nur während des Baubewilligungsverfahrens gegen einen nicht behindertengerechten Aus- oder Umbau klagen können. Ein Beschwerderecht wollte der Ständerat nur Behindertenorganisationen zugestehen, die seit mindestens zehn Jahren schweizweit aktiv sind; dem Nationalrat hätten hier zwei Jahre gereicht. Nichts wissen wollte er von einer Anpassung der Ausbildungsdauer an die Bedürfnisse behinderter Menschen sowie von der Kompetenzerteilung an den Bundesrat, Pilotprojekte zur Eingliederung Behinderter ins Erwerbsleben zu finanzieren. Gegen Anträge aus dem rechtsbürgerlichen Lager hielt der Nationalrat jedoch an seinen ersten Beschlüssen fest. Nach kleineren Rückzugsgeplänkeln, welche die Einberufung der Einigungskonferenz nötig machten, gab der Ständerat nach, so dass die Vorlage noch vor Jahresende definitiv verabschiedet werden konnte. In den Schlussabstimmungen passierte sie im Ständerat einstimmig und im Nationalrat mit 175 zu 1 Stimmen.

Dossier: Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen

Diese Ausdehnung stiess im Plenum des Nationalrates auf Widerstand. Loepfe (AI) im Namen der CVP sowie Föhn (SZ) für die SVP verlangten Rückweisung an die Kommission, da die finanziellen Auswirkungen, die personalrechtlichen Konsequenzen und die Kompetenzfragen zwischen Bund und Kantonen noch nicht genügend geklärt seien. Der Antrag wurde mit 83 zu 77 Stimmen knapp abgelehnt, nachdem Bundesrätin Metzler erklärt hatte, es wäre politisch nicht klug, die Volksinitiative „Gleiche Rechte für Behinderte“ ohne Gegenvorschlag zur Abstimmung zu bringen. In der Detailberatung krebste die bürgerliche Nationalratsmehrheit im Bereich der öffentlichen Bauten und der Mietshäuser wieder weitgehend auf die Linie von Bundesrat und Ständerat zurück (Verpflichtung der behindertengerechten Ausgestaltung von Altbauten nur bei umfassenden Sanierungsarbeiten), ebenso bei den Behindertenrechten am Arbeitsplatz. Gegen die Unterstellung der privaten Arbeitsverhältnisse unter das Gesetz wehrten sich insbesondere mit Erfolg die beiden Freisinnigen Heberlein (ZH) und Triponez (BE) mit dem Argument, eine Regulierung würde tendenziell zu einer Ausgrenzung der Behinderten aus dem Arbeitsprozess führen. Die Kommission unterlag auch mit ihrem Antrag, im Bereich der Dienstleistungen den Behinderten ein Klagerecht auf Beseitigung oder Unterlassung von Diskriminierungen einzuräumen; das Plenum blieb bei einer blossen Entschädigung von maximal 5000 Fr. Einzig im Bereich der Aus- und Weiterbildung war der Nationalrat zu gewissen Konzessionen bereit. Behinderte Kinder und Jugendliche sollen von den Kantonen bei der Integration in die Regelschule gefördert werden, behinderte Menschen generell ein Recht auf eine ihren Möglichkeiten angemessene Ausbildungsdauer und auf entsprechende Prüfungen haben sowie spezifische Hilfsmittel verwenden dürfen. Gegen einen Minderheitsantrag aus den Reihen der SVP, der die Unterstützung von Widrig (cvp, SG) und Triponez (fdp, BE) fand, stimmte der Nationalrat der Schaffung eines Gleichstellungsbüros zu.

Dossier: Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen

Auf den 1. Januar trat das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) in Kraft. Das neue Gesetz bringt für die Behinderten in der Schweiz unter anderem einen erleichterten Zugang zum öffentlichen Verkehr und zu öffentlichen Bauten. Den Bedürfnissen der Menschen mit Behinderungen tragen ferner verschiedene Gesetzesrevisionen (Fernmeldewesen, Bundesstatistik, Berufsbildung, Strassenverkehrsrecht) Rechnung, die ebenfalls auf diesen Zeitpunkt rechtskräftig wurden. Beim Bund entstand zudem ein Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung.

Dossier: Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen

Fünf Jahre nach Inkraftsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes zogen das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, die Dachorganisationenkonferenz der privaten Behindertenhilfe und der Gleichstellungsrat Egalité Handicap im Berichtsjahr Bilanz bezüglich der Umsetzung des Erlasses. Sie waren sich einig, dass bei der Gleichstellung von behinderten Menschen noch viel getan werden müsse und sie nicht nur Sache von Gesetzen und Regeln, sondern auch des Willens der einzelnen Entscheidungsträger sei. Laut einem veröffentlichten Bericht fehlt es daran besonders auf dem Arbeitsmarkt. Die Fachstellen forderten daher ein Benachteiligungsverbot für öffentliche und private Arbeitsverhältnisse. Bundesrat Burkhalter nahm das Ansinnen zur Kenntnis, sprach sich aber gegen ein zu harsches Vorgehen aus. Er zieht es vor, das Bewusstsein der Arbeitgeber zu schärfen.

Dossier: Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen