Differenzen der Zürcher Kantonalpartei und der restlichen SVP

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Im Wahlkampf wurde die Asylpolitik zum Hauptthema; vor allem die Zürcher Kantonalpartei prägte auf nationaler Ebene das Bild der Partei in der Öffentlichkeit. Dabei hatte die Petition der zürcherischen SVP, welche vom Bundesrat dringliche Massnahmen gegen den Zustrom von Asylbewerbern verlangte, einen wesentlichen Anteil. Die Ankündigung der Zürcher SVP, eine eidgenössische Volksinitiative gegen die illegale Einwanderung zu lancieren, stiess bei anderen Kantonalparteien auf Unverständnis. Im November gab der SVP-Zentralvorstand bekannt, dass er anfangs 1992 den Entwurf für eine moderatere, für alle Kantonalsektionen akzeptable Volksinitiative vorlegen werde. Der innere Zusammenhalt der Partei litt aber im Berichtsjahr zunehmend in verschiedenen Bereichen; die sich seit längerer Zeit abzeichnenden Divergenzen zwischen der ca. 32 000 Mitglieder zählenden bernischen Kantonalpartei und jener Zürichs, die im übrigen bei den kantonalen Wahlen sechs Sitze und knapp vier Wählerprozente zulegen konnte und auch bei den Nationalratswahlen mit zwei Sitzgewinnen sehr erfolgreich war, offenbarten sich namentlich in der Beurteilung der bundesrätlichen Europapolitik. Während der zürcherische Flügel sich sowohl gegen den EWR als auch gegen einen EG-Beitritt stark machte, zeigte die Berner Kantonalpartei eine offenere Haltung. Auch die Junge SVP stellte sich gegen die Zürcher Sektion, indem sie sich grundsätzlich positiv zu einem EWR-Vertrag aussprach und den Beitritt der Schweiz zum IWF unterstützte.

Die Heterogenität der SVP-Exponenten, inbesondere in der Frage des Europa-Kurses der Schweiz, liess die internen Spannungen verstärkt offen zutage treten. Bundesrat Ogi wehrte sich zusammen mit Vertretern der Berner, Bündner und Waadtländer Kantonalparteien gegen den Einfluss der zürcherischen SVP, die unter Nationalrat Blocher einen immer stärkeren Rechtskurs steuerte. Verärgert über die neue Führungsrolle der zürcherischen Sektion und deren arrogantes Vorgehen anlässlich der SVP-Pressekonferenz nach der EWR-Abstimmung, diskutierte der Zentralvorstand der bernischen SVP das Verhältnis der Mutterpartei zu den Kantonalsektionen. Aus der Sicht der Berner Parteispitze kann die SVP nicht gleichzeitig Regierungs- und Oppositionspartei sein. Eine grosse Mehrheit des bernischen Zentralvorstands sprach sich für den Verbleib in der Regierung auf eidgenössischer Ebene aus und grenzte sich von rechtspopulistischen Strömungen im Stil der zürcherischen Sektion ab. Dabei wurde auch Kritik an Parteipräsident Uhlmann (TG) und Fraktionschef Fischer (AG) geäussert, welche durch das Gewährenlassen Blochers Führungsschwäche an den Tag legen würden.

Während die meisten Sektionen der Ostschweiz Unverständnis gegenüber der bernischen Kritik an den Tag legten, unterstützte die Bündner Kantonalpartei die Berner und forderte, die SVP müsse eine sozialliberale, offene Partei der Mitte bleiben resp. wieder werden. Die waadtländische Sektion ging an der gesamtschweizerischen Delegiertenversammlung in Payerne (VD) sogar so weit, mit dem Austritt aus der gesamtschweizerischen Partei zu drohen, falls die Mutterpartei einen rechtsextremen populistischen Kurs ansteuere. Bundesrat Ogi vertrat an der Albisgüetli-Tagung der Zürcher Sektion die Meinung, wenn die SVP Regierungspartei bleiben wolle, müsse sie die Politik der andern Bundesratsparteien mittragen. Die am 20. Februar einberufene Aussprache des Zentralvorstands brachte die Bereitschaft aller Beteiligten zu einer weiteren Zusammenarbeit zutage, ohne jedoch die Grundkonflikte lösen zu können. Dabei wurden weder die Regierungsbeteiligung noch die unterschiedliche Ausrichtung der einzelnen Kantonalparteien in Frage gestellt. Eine Arbeitsgruppe wurde mit dem Auftrag eingesetzt, parteiinterne Abläufe und Strukturen zu untersuchen und gegebenenfalls zu verbessern.

Gegen Ende des Berichtsjahres erregte die Zürcher SVP erneut Unmut bei der gesamtschweizerischen Parteileitung sowie bei anderen Kantonalsektionen, als sie die Ermordung eines Mädchens am Zollikerberg (ZH) im Hinblick auf die städtischen Wahlen im Frühling 1994 für eine Inseratekampagne missbrauchte. Darin bezeichnete sie die «Linken und Netten» – mit den Netten waren die anderen bürgerlichen Regierungsparteien gemeint – als verantwortlich für die Kriminalität sowie Asylmissbrauch in Stadt und Kanton und empfahl sich selbst als Alternative für mehr Sicherheit. Bundesrat Stich verglich die Inseratekampagne mit der Nazi-Propaganda und sagte seine Teilnahme an der Albisgüetlitagung im Januar 1994 in seiner Funktion als Bundespräsident ab.

Aufgrund des Konfliktes zwischen dem liberalen und dem von der Zürcher Sektion dominierten konservativen Parteiflügel hatte die SVP 1993 eine interne Arbeitsgruppe unter Vizepräsident Marcel Blanc (VD) eingesetzt, die das Verhältnis zwischen Mutterpartei und den kantonalen Sektionen überprüfen sollte. Anfang Jahr kam der leitende Ausschuss überein, dass sich die SVP Schweiz in nationalen Angelegenheiten künftig zuerst äussere und Parolen fasse. Kantonale Sektionen können auf nationaler Ebene weiterhin Initiativen lancieren und Referenden ergreifen, müssen aber dafür die Zustimmung des SVP-Zentralvorstandes einholen. Mit diesen neuen Regelungen soll das Vorpreschen einer kantonalen Sektion, wie es die SVP Zürich etwa in der EWR-Frage oder mit der Asylinitiative vorführte, künftig vermieden werden. Der Bericht der Arbeitsgruppe stellt ausserdem klare Anforderungen und Voraussetzungen für die Gründung neuer Kantonalparteien. Der Wirkungsgrad dieser neuen Regeln wurde jedoch angezweifelt, zumal von Zürcher Seite kämpferische Töne kamen.

Eine Disziplinierung der Zürcher Kantonalpartei forderte in einer Resolution die Waadtländer Sektion der SVP. Sie sei nicht mehr bereit, die «populistischen und fremdenfeindlichen Verdrehungen mit extremistischer Tendenz der Zürcher SVP» zu dulden. Damit sprach sie vor allem die aggressive Wahlkampagne in der Stadt Zürich an, die zum Teil verfälschte Informationen enthielt. Die SVP Zürich hatte in einem Wahlinserat zur Kriminalität eine falsche Grafik verwendet.

Nachdem Blocher in einer weiteren Rede zum «Eizenstat-Bericht» den eigenen Bundesrat Adolf Ogi lächerlich zu machen versuchte und unter anderem den Schriftsteller Adolf Muschg verunglimpfte, übten parteiintern insbesondere die Berner sowie die Graubündner Sektion massive Kritik am politischen Stil Blochers. Dieser brüskierte die Berner Sektion daraufhin mit einem groben Brief. Die Berner kündigten schliesslich einen pointierteren eigenen Kurs an. Der Konflikt machte jedoch deutlich, dass der Zürcher Einfluss auch in den liberalen SVP-Sektionen zunimmt. Insbesondere auch die Junge SVP Bern schien auf einen klaren «Blocher-Kurs» einzuschwenken.
Zu einer im Berichtsjahr vom Vizepräsidenten der Jungen SVP Bern geplanten Volksinitiative, welche die Todesstrafe wieder einführen wollte, gingen die SVP (Schweiz und Bern) wie auch die nationale Junge SVP allerdings klar auf Distanz.

In der SVP hielten die Kämpfe zwischen dem gemässigten und dem konservativen Flügel weiter an. Insbesondere bei der Berner SVP fielen Blochers Ankündigungen an der traditionellen Albisgüetli-Tagung, eine Initiative zur Volkswahl des Bundesrates zu lancieren sowie die nicht benötigten Reserven der Nationalbank für die Finanzierung der AHV einzusetzen, auf wenig Begeisterung. Während Blocher seine Idee der Volkswahl des Bundesrates wegen Aussichtslosigkeit von sich aus zurückgezogen hatte, drang er mit seinem zweiten Vorschlag durch. An einem Sonderparteitag vom 1. Juni in Aarau hiess eine Mehrheit der Delegierten einen Antrag der Zürcher SVP gut, alle parlamentarischen Möglichkeiten auszuschöpfen, um die überschüssigen Goldreserven der SNB dem AHV-Fonds zufliessen zu lassen. Gleichzeitig wurde der leitende Parteiausschuss beauftragt, eine entsprechende Volksinitiative vorzubereiten, falls der parlamentarische Weg nicht zum Erfolg führe. Mit diesem Antrag sollte der Solidaritätsstiftung des Bundesrates eine Alternative gegenübergestellt werden.

Nachdem Parteipräsident Maurer in der Asylpolitik wenig Kompromissbereitschaft gezeigt hatte, mit den drei anderen Regierungsparteien eine «Koalition der Vernunft» einzugehen, kritisierten die beiden SVP-Funktionäre Baltisser (Generalsekretär) und Defago (Pressechef) mit Unterstützung von Fraktionschef Schmid öffentlich die harte Oppositionspolitik des »Zürcher Flügels» und forderten eine parteiinterne Grundsatzdiskussion über die Position der Partei über kurzfristige Wahlerfolge hinaus.
Nicht zum ersten Mal gerieten sich dabei auch Bundesrat Ogi und Blocher in die Haare: Ogi warnte einmal mehr vor dem Neinsager-Kurs der Partei und sah in der parteipolitischen Ausrichtung auf Unzufriedene längerfristig keine Erfolgsaussichten. In einem Zeitungsinterview attackierte Blocher seinen eigenen Bundesrat ungemein scharf und warf diesem die Verachtung des Volkes vor. Ein paar Tage später wurde das Interview von einem «Komitee pro Mittelstand», welchem der Zürcher Nationalrat Hans Fehr beratend zur Seite stand, in rund 20 Zeitungen als ganzseitiges Inserat aufgegeben. In einem parteiinternen Rundschreiben forderte Parteipräsident Maurer alle Mitglieder auf, den öffentlichen Auseinandersetzungen ein Ende zu setzen und kündigte eine Grundsatzdiskussion über die zukünftige Ausrichtung der Partei im Rahmen der angelaufenen Programmdiskussion an.
Nachdem die beiden Parteifunktionäre Baltisser und Defago ihren Rücktritt angedroht hatten, wurde das Arbeitsverhältnis nach einer Aussprache mit Parteipräsident Maurer in gegenseitigem Einvernehmen fortgesetzt