Die in der Herbstsession 2025 im Nationalrat durchgeführte Debatte zur SVP-Volksinitiative «Keine 10-Millionen-Schweiz! (Nachhaltigkeitsinitiative)» ging als historisches Ereignis in die Parlamentsgeschichte ein. Nicht aufgrund des Ausgangs der Debatte – der Nationalrat lehnte die Initiative wie erwartet ohne Gegenvorschlag ab – sondern wegen des überaus grossen «Dichtestresses» («Republik») vor dem Rednerpult: Im Vorfeld der Sitzung hatten sich bereits 115 Nationalratsmitglieder – so viele wie noch nie – in die Redeliste eintragen lassen, wie die NZZ mit Rückgriff auf die seit 2000 vorliegenden Zahlen der Parlamentsdienste zu berichten wusste.
Inwiefern solche «Monster-Debatten» die bereits gefassten Meinungen der Parlamentsmitglieder zur Initiative noch beeinflussen können, sei dahingestellt. In weiten Teilen der Debatte sei die Zahl der Ratsmitglieder auf der Warteliste «grösser [gewesen] als jene der im Saal anwesenden Volksvertreter», konstatierte die NZZ nach dem ersten Behandlungstag. Insgesamt dauerte die nationalrätliche Debatte zum Geschäft zehn Stunden, verteilt über zwei Behandlungstage. Die Medien berichteten bereits vor der Debatte aufgrund der bekannt gewordenen Redeliste ausführlich über die Volksinitiative und verfolgten im Anschluss intensiv den Ausgang der Beratungen. Somit eröffneten die Nationalratsmitglieder mit besagter Debatte faktisch bereits den Abstimmungskampf zur Initiative, über die – aufgrund der bislang sehr klaren Ausgangslage im Parlament – bereits im Juni 2026 an der Urne befunden werden könnte.
Dass Rhetorik in besagter Debatte eine wichtige Rolle spielte, zeigte sich nicht zuletzt darin, dass Mitglieder der Fraktionen der SP, GLP und der FDP der Volksinitiative den Übernamen «Kündigungs-Initiative» verpassten – eingeschlossen Kommissionssprecher Christian Wasserfallen (fdp, BE): Gemäss Initiativtext werde die Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens zwei Jahre nach Überschreitung des Grenzwertes von 10 Millionen Bewohnenden Tatsache, sollten bis dahin keine effektiven Gegenmassnahmen gefunden worden sein, erläuterte der Kommissionssprecher im Rat. Auch das neue Vertragspaket mit der EU wäre durch Annahme der Initiative in Gefahr. Ebenso bedienten sich die Mitglieder der SVP-Fraktion – 58 von 66 Fraktionsmitgliedern hatten im Vorfeld eine Wortmeldung angekündigt – rhetorischer Mittel, ihrerseits zur Bewerbung der Initiative. Nicht zuletzt war ein Stakkato an Zwischenfragen an die Adresse der Kommissionssprechenden Teil des rhetorischen Repertoires, gefolgt von Anschuldigungen an den Bundesrat, der mit dem «neuen EU-Unterwerfungsvertrag», offiziell als Paket Schweiz-EU betitelt, nach der inkonsequenten Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative erneut zu einem «Gremium von Verfassungsbrechern» werde und einen Zuwanderungsschub evoziere (Thomas Matter, svp, ZH). Nicht zuletzt gaben diverse Rednerinnen und Redner der SVP dem Begriff der «Nachhaltigkeit» Gewicht, indem sie die Initiative als Mittel gegen übermässige Überbauung, horrende Mieten, überlasteten Verkehr und sinkenden Wohlstand präsentierten, welche sie als Folgeerscheinungen der Zuwanderung sahen.
Anders sahen dies die übrigen Fraktionen, denen der von der Initiative präsentierte Lösungsweg nicht nachhaltig erschien. Sowohl die Kommissionssprecher Christian Wasserfallen und Jean Tschopp (sp, VD) als auch zahlreiche nachfolgende Rednerinnen und Redner warnten vor den ernsten wirtschaftlichen Folgen, die eine Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens sowie der damit verbundene Wegfall der gesamten Bilateralen I für die Schweiz hätten. So befürchteten die Gegnerinnen und Gegner der Initiative aufgrund der Abhängigkeit von Fachkräften aus EU-Staaten eine abnehmende Qualität der Gesundheitsversorgung sowie generell eine sinkende Produktivität, rückläufigen Wohlstand und eine stärkere Belastung der Sozialwerke, da generell weniger Personen, vor allem aber weniger jüngere Personen, in diese einzahlen würden. Nicht zuletzt wurden auch Befürchtungen über eine Zunahme der grenzüberschreitenden Kriminalität oder bei den Asylgesuchen laut, da die Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens durch die Schweiz wahrscheinlich eine Aufkündigung von Schengen/Dublin vonseiten der EU zur Folge haben würde. Weit weniger virulent diskutierte das Parlament hingegen über in der Initiative enthaltene Massnahmen im Asylbereich und beim Familiennachzug, die bereits beim Erreichen des Schwellenwerts von 9.5 Mio. getroffen werden müssten. Nach 10 Stunden Debatte beschloss der Nationalrat mit 121 zu 64 Stimmen (6 Enthaltungen), die Volksinitiative der Stimmbevölkerung zur Ablehnung zu empfehlen. Die befürwortenden Stimmen stammten ausschliesslich aus der SVP-Fraktion. Sechs Ratsmitglieder der Mitte-Fraktion enthielten sich der Stimme.
Parteimitglieder der Mitte, allen voran der ehemalige Parteipräsident Gerhard Pfister (mitte, ZG), waren es denn auch, die der Initiative einen direkten Gegenentwurf gegenüberstellen wollten, um die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs der Initiative an der Urne zu verringern. Konkret sah der Gegenentwurf vor, die Bevölkerungszahl von 10 Mio. als «Zielgrösse» in der Verfassung zu verankern. Ab dem Zeitpunkt, ab dem die Wohlbevölkerung die Grösse von 9.5 Mio. überschritten haben würde, sollte der Bundesrat migrationsmildernde Massnahmen ergreifen können, die nicht primär die Arbeitsmigration beträfen und die humanitären Verpflichtungen ernst nähmen. Aus Sicht der Kommissionsmehrheit bot dieser Gegenentwurf indes keinen konkreten Mehrwert zu den vorhandenen Verfassungsbestimmungen, zu bereits beschlossenen Massnahmen wie denjenigen, die der Bundesrat in seiner Botschaft erläutert hatte, oder zum eingeschlagenen Weg beim EU-Paket mit der darin enthaltenen Schutzklausel. Die Kommissionsmehrheit empfahl daher mit 19 zu 6 Stimmen, nicht auf den Gegenentwurf einzutreten. Auch im Ratsplenum mochte der Gegenentwurf keine weiteren Mitglieder ausserhalb der Mitte-Fraktion zu überzeugen; der Nationalrat verwarf ihn mit 161 zu 30 Stimmen (ohne Enthaltungen).