Grundlagen der Staatsordnung
Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
Der Vorschlag, den Schweizerpsalm durch eine modernere Nationalhymne zu ersetzen, fand keine Mehrheit. – Die Arbeitslosigkeit blieb die Sorge Nummer eins der Bevölkerung. – Im Kanton Genf, der zur Zeit die älteste Verfassung besitzt, sprachen sich die meisten politischen Parteien für eine Totalrevision aus.
Grundsatzfragen
Nach den rechtsradikalen Störmanövern 2005 an der
Bundesfeier auf dem Rütli ergriffen die Behörden und die Organisatoren dieses Jahr strenge Sicherheitsmassnahmen. Mit einem Ticketsystem versuchten sie, den Zugang zu limitieren und unliebsame Elemente fern zu halten. Zusammen mit den polizeilichen Kontrollen der Anfahrts- und Anmarschwege funktionierte dies gut. Organisierte Rechtsextreme waren auf dem Festgelände nicht anzutreffen, und die Ansprachen konnten ungestört gehalten werden. Im Gegensatz zu früheren Jahren trat auch kein Bundesrat als Redner auf. Der eingeladene Bundespräsident Leuenberger hatte im Einverständnis mit dem Gesamtbundesrat auf eine Teilnahme verzichtet; er wollte damit auch zum Ausdruck bringen, dass in der Schweiz keine zentrale 1.-August-Feier stattfindet, sondern allen lokalen Anlässen die selbe Bedeutung zukommt
[1].
In der SVP und anderen nationalkonservativen Kreisen regte sich einiger Widerstand gegen die Ausleihe des
Bundesbriefs von 1291 an eine drei Wochen dauernde Ausstellung in Philadelphia (USA) über die historische Verbundenheit der USA mit der Schweiz, welche die beiden ältesten demokratischen Republiken sind („Sister Republics“). Der Kanton Schwyz als Eigentümer sah keinen Anlass, auf den von mehreren SVP-Nationalräten (Brunner, SG, Mörgeli, ZH, und Föhn, SZ) geforderten Verzicht auf die Ausleihe oder gar auf das Ansinnen eines Verkaufs des Dokuments an eine private Stiftung einzugehen
[2].
Nationalrätin Kiener (sp, BE) zog ihre 2004 eingereichte Motion für eine neue
Nationalhymne mit einem leichter singbaren, weniger schwülstigen und inhaltlich an die heutigen Lebensumstände angepassten Text zurück. Der Bundesrat hatte zwar die Kritik an der gültigen Landeshymne (ein Kirchenlied aus dem Jahr 1841) weitgehend geteilt. Da er es aber als hoffnungslos erachtete, Einigkeit in Bezug auf ein neues Lied zu erzielen, hatte er Ablehnung der Motion beantragt. Die Öffentlichkeit interessierte sich kaum für diese Debatte; obwohl in der Bevölkerung der Text der aktuellen Hymne wenn überhaupt, so nur höchst unvollständig bekannt ist, scheint kein Bedürfnis für eine Änderung vorhanden zu sein
[3].
Die Bezeichnung „Schweiz“ und auch die Schweizer Flagge werden oft bei in- und ausländischen Produkten als Mittel zur Verkaufsförderung eingesetzt. Damit soll meist die Assoziation zu bekannten schweizerischen Qualitätserzeugnissen wie etwa Uhren hergestellt werden. Um dies für im Ausland hergestellte Produkte, die mit der Schweiz nichts zu tun haben, zu unterbinden, reichten Nationalrätin Hutter (svp, SG) und Ständerätin Fetz (sp, BS) Postulate für einen
besseren Schutz der „Marke Schweiz“ und des Schweizer Wappens ein. Sie führten dabei neben dem Argument der besseren Information der Konsumenten auch den Schutz einheimischer Produzenten vor unfairer ausländischer Konkurrenz ins Feld. Beide Parlamentskammern überwiesen diese Vorstösse mit dem Einverständnis der Landesregierung. In seiner Antwort auf das Postulat Fetz gab Justizminister Blocher aber auch zu bedenken, dass bei der Schaffung von gesetzlichen Schutzbestimmungen heikle Definitionsprobleme zu lösen wären, da heute – abgesehen von der Landwirtschaft – kaum mehr ein Produkt vollständig in einem einzigen Land entwickelt und hergestellt werde
[4].
Zur Reorganisation der vom Bund unterstützten Werbung für die Schweiz im Ausland siehe unten, Teil I, 4a (Strukturpolitik).
Trotz der boomenden Wirtschaft und dem Rückgang der Arbeitslosenquote blieb die Arbeitslosigkeit an der Spitze der politischen und gesellschaftlichen Probleme, welche die Schweizerinnen und Schweizer beschäftigen. Sie wurde zwar etwas weniger häufig genannt als im Vorjahr, aber immer noch von 66% der Befragten. Die von der GfS-Bern jährlich durchgeführte repräsentative Befragung ergab auch sonst kaum Veränderungen gegenüber der letzten Erhebung: Nach der
Arbeitslosigkeit folgten wiederum die Bereiche „Gesundheitswesen“ (55%) und „Altersvorsorge“ (51%). Relativ stark zugenommen hat der Anteil der Personen, welche Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Asylpolitik als eines der fünf wichtigsten Probleme bezeichneten (39% gegenüber 28% im Jahr 2005)
[5].
Kantonale Verfassungsrevisionen
In
Luzern begann das Parlament mit der Beratung des Verfassungsentwurfs. Die Linke, für welche die vorgeschlagenen Neuerungen viel zu wenig weit gingen, scheiterte mit ihrem Rückweisungsantrag. In der Detailberatung stimmte der Rat der Einführung eines Gemeindereferendums (auszuüben durch einen Viertel der Gemeinden) zu, strich hingegen die im Entwurf vorgesehene ausserordentliche Abwahl der Regierung und des Parlaments durch das Volk
[6].
Im Kanton
Schwyz führte die im Vorjahr eingesetzte Verfassungskommission ihre Arbeit fort
[7].
Im Kanton
Genf wuchs die Überzeugung, dass es an der Zeit wäre, auch die eigene, bei weitem älteste Kantonsverfassung einer Totalrevision zu unterziehen. Die fünf Regierungsparteien (CVP, FDP, GP, LP und SP) einigten sich darauf, im Parlament den Vorstoss für die Bildung eines Verfassungsrats zu unterstützen. Eine vorberatende Parlamentskommission arbeitete in der Folge einen entsprechenden Gesetzesentwurf aus
[8].
Die Bundesversammlung genehmigte mehrere Revisionen von kantonalen Verfassungen, darunter auch die
Totalrevision der Verfassung von
Basel-Stadt. Letztere war im Nationalrat unbestritten. Im Ständerat löste hingegen der Artikel, welcher den Kanton verpflichtet, sich gegen die Nutzung der Kernenergie einzusetzen, eine rege Diskussion aus. Bei ähnlichen, allerdings aggressiver formulierten Passagen in den Verfassungen der Kantone Genf und Basel-Land hatte die Bundesversammlung in früheren Jahren Vorbehalte angebracht. In diesem Fall beantragten sowohl die Kommissionsmehrheit als auch der Bundesrat eine vorbehaltlose Anerkennung. Ihr Argument war, dass die Bestimmung nicht bundesrechtswidrig sei, da sie einzig über die Art der im Kanton genutzten Energieträger Aussagen mache, hingegen den Kanton nicht dazu verpflichte, Bundesbeschlüsse zur Energiepolitik zu hintertreiben oder den Bau von Atomkraftwerken in Nachbarkantonen zu verhindern. Nicht zulässig wäre es gemäss der Kommissionsmehrheit aber auch, wenn Basel-Stadt es ansässigen privaten Unternehmen verbieten würde, Energie aus Kernkraftwerken zu beziehen. Der Rat verzichtete mit 23 zu 14 Stimmen auf einen Vorbehalt
[9].
Weiterführende Literatur
Marti, Urs, Demokratie: Das uneingelöste Versprechen, Zürich 2006.
Terzi, Cédric, "Qu'avez-vous fait de l'argent des Juifs?" : problématisation et publicisation de la question "des fonds juifs et de l'or nazi" par la presse suisse, 1995-1998, s.l. 2005.
[1] Presse vom 19.1. und 21.4.06 (Ticketsystem);
NZZ, 19.4.06 (Leuenberger); Presse vom 2.8.06. Siehe dazu auch die Stellungnahme des BR in
AB NR, 2006, IV, Beilagen, S. 260 f.
[2]
Bund und
NLZ, 15.3.06;
LT, 15.3. und 12.6.06. Siehe auch
AB NR, 2006, S. 157 f. (Frage Brunner, svp, SG) sowie V, Beilagen, S. 144 (Petition aus der Westschweiz).
[3]
AB NR, 2006, S. 420 ff.;
Bund,
NLZ und
SGT, 14.3.06;
AZ, 20.3.06. Siehe auch Georg Kreis, „Aussichtslose Hymnensuche“ in
BZ, 29.7.06. Siehe
SPJ 2004, S. 14.
[4]
AB NR, 2006, S. 116;
AB SR, 2006, S. 399 f.;
NZZ, 6.1. und 3.7.06;
NZZ und
TG, 16.11.06.
[5]
BZ und
TA, 19.12.06. Vgl.
SPJ 2005, S. 14.
[6]
NLZ, 13.11.-16.11.06. Siehe
SPJ 2005, S. 15.
[7]
NLZ, 27.5.06. Vgl.
SPJ 2005, S. 15.
[8]
LT, 2.9.06;
TG, 13.12.06. Vgl.
SPJ 2005, S. 15 f.
[9] BS:
BBl, 2006, S. 5113 ff.;
AB NR, 2006, S. 1350;
AB SR, 2006, S. 790 ff.;
BBl, 2006, S. 8663 f. Siehe
SPJ 2005, S. 15.