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Sozialpolitik
Bevölkerung und Arbeit
Die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz betrug am Ende des Berichtsjahres erstmals über 7,5 Millionen Personen. – Das Bundesamt für Statistik führte eine Schätzung der durchschnittlichen Arbeitskosten in der Schweiz im Vergleich zu den EU-Ländern durch. – Im Berichtsjahr verringerte sich die Arbeitslosenquote markant. – Das Parlament verabschiedete die Revision des Arbeitsgesetzes, mit welcher der Sonderschutz für jugendliche Arbeitnehmer auf 18 Jahre gesenkt wurde.
Bevölkerungsentwicklung
Gemäss dem neuen Referenzszenario des Bundesamtes für Statistik (BFS) wird sich die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz von 7,4 Mio Anfang 2005 auf 8,2 Mio im Jahr 2036 erhöhen und dann leicht auf 8,1 Mio im Jahr 2050 sinken. In derselben Zeitspanne wird die Zahl der über 64-Jährigen um über 90% zunehmen, während die Zahl der 20- bis 64-Jährigen um 4% und jene der 0- bis 19-Jährigen um 15% abnehmen wird. Die Erwerbsbevölkerung wird von 4,2 Mio Anfang 2005 auf 4,5 Mio im Jahr 2018 steigen, um dann bis Ende 2050 auf einen Stand von 4,1 Millionen zurück zu gehen [1].
Die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz betrug am Ende des Berichtsjahres erstmals über 7,5 Millionen Personen (7 508 700). Den Angaben des BFS zufolge bedeutete dies einen Anstieg um 49 600 Personen gegenüber dem Vorjahr, was einer Steigerung um 0,7% entspricht und damit vergleichbar ist mit dem Wachstum, das seit 2000 jährlich registriert wurde. Nicht in dieser Zahl enthalten sind die Kurzaufenthalter (69 200) mit einer Bewilligung für weniger als einem Jahr sowie die Personen im Asylprozess (44 900). Die Zunahme war auf einen Geburtenüberschuss von 13 100 Personen (73 400 Geburten abzüglich 60 300 Todesfälle) sowie auf einen Einwanderungsüberschuss von 39 400 Personen (127 600 Einwanderungen abzüglich 88 200 Auswanderungen) zurückzuführen. Sowohl der Geburten- als auch der Einwanderungsüberschuss waren 2006 grösser als 2005. Im Vergleich zu 2005 nahmen die Ein- und Auswanderungen zu, und zwar sowohl bei den ausländischen Personen als auch bei den Schweizer Staatsangehörigen. Es kamen 8,2% mehr ausländische Personen und 6,4% mehr Schweizer Staatsangehörige in die Schweiz. Die Auswanderungen nahmen bei den Ausländerinnen und Ausländern um 6,1% zu, bei den Schweizerinnen und Schweizern um 10,2% resp. 10 100 Personen. Seit 2001 (-1400) wird der Auswanderungsüberschuss der Schweizerinnen und Schweizer immer markanter.
2006 lag das Bevölkerungswachstum in neun Kantonen über dem gesamtschweizerischen Durchschnitt. Die Kantone mit dem grössten Wachstum waren Freiburg (+1,7%), Obwalden (+1,5%), Waadt (+1,2%), Wallis, Aargau und Schwyz (je +1,0%), Zürich (+0,9%), Tessin und Luzern (je +0,8%). Demgegenüber mussten vier Kantone einen Bevölkerungsrückgang hinnehmen: Uri und Basel-Stadt (je -0,4%), Glarus (-0,2%) und Appenzell Ausserrhoden (-0,1%). Die städtischen Gebiete wiesen ein leicht stärkeres Bevölkerungswachstum auf als die ländlichen Gebiete (0,7% gegenüber 0,5%), was im Mittel der letzten Jahre liegt. Beinahe drei Viertel der Bevölkerung (73% bzw. 5 508 400 Personen) lebten in städtischen Gebieten [2].
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Arbeitswelt
Beide Kammern nahmen diskussionslos vom Bericht des Bundesrates zu den von der 92. und 93. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz verabschiedeten Empfehlungen, insbesondere von der Empfehlung Nr. 195 zur Entwicklung der Humanressourcen Kenntnis. Diese hält fest, dass Bildung, Ausbildung und lebenslanges Lernen einen wesentlichen Beitrag zur Förderung der Interessen von einzelnen Menschen, Unternehmen, der Wirtschaft und der Gesellschaft als Ganzes leisten [3].
Erstmals führte das Bundesamt für Statistik (BFS) eine Schätzung der durchschnittlichen Arbeitskosten in der Schweiz durch. Die Arbeitskosten umfassen die Gesamtheit aller von den Arbeitgebern im Zusammenhang mit der Beschäftigung von Arbeitskräften getragenen Aufwendungen. Sie machen in der Regel den grössten Anteil der Produktionskosten aus und beliefen sich 2004 in der Industrie und in weiten Teilen des Dienstleistungssektors auf durchschnittlich 50,7 Fr. pro geleistete Arbeitsstunde. Die Arbeitskosten setzten sich zu 82,6% aus Löhnen und Gehältern, zu 14,8% aus Sozialbeiträgen der Arbeitgeber und zu 2,6% aus Kosten für die berufliche Bildung und die Personalrekrutierung sowie aus sonstigen Aufwendungen zusammen. 2002 hatten die Arbeitskosten 50,1 Fr. betragen. Im Zeitraum 2002-2004 nahmen sie um 1,2% zu, während sie zwischen 2000 und 2002 noch um 5% zugelegt hatten.
Die Arbeitskosten variieren stark von Land zu Land. Sie bilden einen Schlüsselindikator zum Vergleich der Attraktivität der einzelnen Wirtschaftsstandorte. Nicht nur innerhalb der EU als Ganzes (EU-25), sondern auch zwischen dem Norden und dem Süden der EU-15 bestehen Unterschiede. 2004 betrugen die Arbeitskosten in der Schweiz 32,9 € pro geleistete Arbeitsstunde. Damit bildet das Land zusammen mit Dänemark (30,7 €) und Belgien (30,0 €) die Spitzengruppe. Die Nachbarländer der Schweiz, deren Arbeitskosten das EU-15-Mittel übersteigen (Frankreich, Deutschland und Österreich), verzeichneten Werte zwischen 25 und 28 €. Von den südlichen Ländern der EU-15 mit unterdurchschnittlichen Arbeitskosten wurde einzig Portugal (9,6 €) durch ein neues Mitgliedsland der EU-25 übertroffen. 2004 reichte die Bandbreite der Arbeitskosten der Neumitglieder von 11,1 (Zypern) bis hinunter zu 3,0 € (Lettland) [4].
Für ausländische Unternehmen, die im Rahmen der Freizügigkeit bewilligungsfrei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für höchstens 90 Tagen in die Schweiz entsenden, steht ein sehr einfaches Meldeverfahren zur Verfügung. Umgekehrt trifft dies für Schweizer Unternehmen, die im EU-Raum tätig werden wollen, nicht überall zu. Gerade Nachbarländer der Schweiz verlangen zum Teil sehr komplizierte Anmeldeprozeduren. Gegenrecht ist also in diesem Bereich noch nicht durchgehend gewährleistet. Ausgehend von dieser Feststellung forderte der Nationalrat mit einer überwiesenen Motion Robbiani (cvp, TI) den Bundesrat auf, in der EU im Sinne der Reziprozität auf eine Vereinfachung bzw. Optimierung der Vorschriften hinzuwirken [5].
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Arbeitsmarkt
Die Zahl der Beschäftigten stieg nach provisorischen Schätzungen des BFS um 2,3% gegenüber dem Vorjahr und erreichte neu 4 291 000 Personen. Erneut war die Zunahme bei den Frauen (+2,6%) höher als bei den Männern (+2,0%). Der Zuwachs war deutlicher bei den Ausländerinnen und Ausländern (+3,5%) als bei den Schweizerinnen und Schweizern (+1,95%). Mit einem Anteil der Erwerbstätigen von 77% an der Gesamtzahl der Bevölkerung verfügt die Schweiz über eine extrem hohe Beschäftigungsrate. In der EU15 liegt sie bei 66,0%, in der OECD bei 66,1%. Einzig Japan (70,0%), die USA (72,0%) und Grossbritannien (72,5%) liegen noch oberhalb der 70%-Barriere. Allerdings ist zu beachten, dass die Schweiz, insbesondere bei den Frauen, über einen sehr hohen Anteil von Teilzeitbeschäftigten verfügt [6].
Die Hälfte aller Unternehmen in der Schweiz hat Schwierigkeiten, qualifiziertes Personal zu finden, wie die Untersuchung einer auf Arbeitsvermittlung spezialisierten Firma ergab. Am meisten fehlen ausgebildete Arbeitnehmende in der Produktion (Bedienung von Maschinen in automatisierten Betrieben) sowie in der Baubranche (Schreiner, Schweisser und Maurer) [7].
Bund und Kantone wollen in einem gemeinsamen Projekt, IIZ-MAMAC, Personen mit Mehrfachproblematik rascher wieder in den Arbeitsmarkt zurückführen. Ausgerichtet ist das Projekt auf Personen, bei welchen unklar ist, ob sie krank sind, weil sie keine Arbeit haben, oder ob sie keine Arbeit haben, weil sie krank sind. Weil in solchen Fällen meist auch nicht abschliessend beurteilt werden kann, ob die Arbeitslosenversicherung, die Invalidenversicherung oder die Sozialhilfe zuständig ist, ziehen sich die Abklärungen der zum Teil komplexen Ursachen in die Länge, und es besteht die Gefahr, dass die Betroffenen von einer Institution zur nächsten weitergereicht werden („Drehtüreffekt“). Während dieser Zeit verschärfen sich die Probleme oder sie verfestigen sich. Im Rahmen der interinstitutionellen Zusammenarbeit (IIZ) von Arbeitslosenversicherung (ALV), Invalidenversicherung (IV) und Sozialhilfe werden jetzt Strukturen geschaffen, die es ermöglichen, möglichst rasch die Situation umfassend und für alle drei Institutionen zu analysieren und mit einem verbindlichen Integrationsplan festzulegen, welche Massnahmen für eine Reintegration in den Arbeitsmarkt nötig sind. Im Rahmen einer engen Zusammenarbeit mit den Kantonen sollen Erfahrungen aus dem praktischen Vollzug einfliessen und Unterschiede kantonaler Vollzugsstrukturen in der Konzeption berücksichtigt werden [8].
Oppositionslos nahm der Ständerat eine Motion Heberlein (fdp, ZH) an, die den Bundesrat auffordert, Massnahmen mit Anreizcharakter im Bereich Sozialversicherungen, Arbeitsmarkt und Steuerrecht zugunsten der Partizipation älterer Arbeitnehmender im Arbeitsmarkt vorzuschlagen [9].
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Im Berichtsjahr verringerte sich die Arbeitslosenquote markant. Im Jahresdurchschnitt waren 131 532 Personen als arbeitslos registriert. Verglichen mit dem Vorjahr entspricht dies einer Abnahme um 17 005 Personen bzw. 11,4%. Die Arbeitslosenquote für das ganze Jahr 2006 betrug 3,3% (-0,5 Prozentpunkte gegenüber 2005). Tiefer war die mittlere Arbeitslosenquote letztmals im Jahr 2002 mit 2,5% gewesen. Vor allem in der ersten Jahreshälfte verminderte sich die Arbeitslosenzahl deutlich von 154 204 im Januar auf 121 725 Ende Juli. Die anhaltend gute Konjunktur stützte den Arbeitsmarkt aber auch in der zweiten Jahreshälfte. So verharrte die Arbeitslosenquote zwischen Juni und Ende November sechs Monate lang auf demselben Stand. Dem starken Rückgang der Arbeitslosigkeit um rund 32 500 Personen in der ersten Jahreshälfte stand im zweiten Halbjahr eine saisonal bedingte Zunahme um nur rund 7000 gegenüber. Die Westschweiz und das Tessin waren erneut überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen (4,8%), ebenso junge Erwachsene (4,3%) und Personen ausländischer Herkunft (6,1%). Der Anteil der Langzeitarbeitslosen (ein Jahr und mehr) blieb bei rund 20% [10].
Mitte Juni beschloss der Bundesrat die Erhöhung der Höchstzahl der Taggelder zu Gunsten von älteren Arbeitslosen (über 50 Jahre) für den Kanton Genf für eine Dauer von sechs Monaten und für den Neuenburger Jura sowie gewisse Bezirke des Kantons Waadt für eine Dauer von drei Monaten. Die Massnahme kann gewährt werden, wenn im Mittel der letzten sechs Monate die durchschnittliche Arbeitslosigkeit mehr als 5% betrug und die Kantone zu den vom Gesetz postulierten Eigenleistungen bereit sind [11].
Diskussionslos und im Einvernehmen mit dem Bundesrat nahm der Nationalrat eine von Abgeordneten aus allen Bundesratsparteien sowie den Grünen unterzeichnete Motion Schenker (sp, BS) an, die den Bundesrat auffordert, einen Massnahmenplan zur Unterstützung von älteren Arbeitslosen vorzulegen. Dabei seinen neben der Förderung spezifischer arbeitsmarktlicher Massnahmen insbesondere die Verstärkung der Forschung über die spezifische Problematik der Wiedereingliederung älterer Arbeitnehmender zu prüfen [12].
Auf der anderen Seite des Spektrums beschäftigte auch die Jugendarbeitslosigkeit das Parlament. Kommentarlos – und durch die zustimmende Berichterstattung des Bundesrates praktisch erledigt – überwies die grosse Kammer ein Postulat Robbiani (cvp, TI), das die Landesregierung ersucht darzulegen, mit welchen Massnahmen innerhalb der Bundesverwaltung der Jugendarbeitslosigkeit begegnet wird [13].
Trotz der boomenden Wirtschaft und der stark rückläufigen Arbeitslosenzahlen blieb die Angst vor dem Stellenverlust die Hauptsorge der Schweizerinnen und Schweizer. Gemäss einer regelmässig durchgeführten repräsentativen Umfrage („Sorgenbarometer“ der GfS Bern), sank aber der Anteil der Personen, welche die Arbeitslosigkeit als eines der fünf wichtigsten Probleme erachten, von 71% im Jahr 2005 auf 66% [14].
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Löhne
Laut den Berechnungen des BFS stiegen die Nominallöhne im Jahr 2006 gegenüber 2005 total um 1,2%. Bezieht man die durchschnittliche Jahresteuerung von 1,1% ein, resultierte daraus für die Reallöhne nahezu eine Stagnation (+0,1%). Dennoch wurde damit ein Richtungswechsel seit der letzten Erhöhung der Reallöhne im Jahr 2001 (+1,5%) eingeläutet. Die Zuwachsrate der Reallöhne war zwischen 2002 und 2004 nämlich kontinuierlich zurückgegangen (2002 1,1%, 2003 0,8% und 2004 0,1%) und hatte 2005 sogar einen Negativwert (-0,2%) erreicht. Die Nominallohnerhöhungen für die Gesamtwirtschaft entsprachen genau der nominalen Anpassung der Effektivlöhne, die im Rahmen der wichtigsten Gesamtarbeitsverträge, denen knapp eine halbe Million Arbeitnehmende unterstellt sind, für 2006 ausgehandelt wurden.
Mit 1,1% verzeichnete der sekundäre Sektor eine ähnliche durchschnittliche Nominallohnerhöhung wie im Jahr 2005 (+1,2%) und damit eine weitaus deutlichere als im Jahr 2004 (+0,6%). Der tertiäre Sektor registrierte eine durchschnittliche Zunahme der Nominallöhne um 1,2%, womit sich der im Vorjahr unterbrochene Trend der letzten Jahre zu höheren Lohnanpassungen im Dienstleistungssektor fortsetzte [15].
Ebenfalls gemäss Angaben des BFS beschlossen die Sozialpartner der wichtigsten Gesamtarbeitsverträge (GAV) für 2007 im Mittel nominale Lohnerhöhungen von 2%. Davon wurden 1,3% generell und 0,7% individuell zugesichert. Damit wurde erstmals seit fünf Jahren die 2%-Grenze erreicht. Die Mindestlöhne wurden durchschnittlich um 2,9% angehoben. Die nominale Mindestlohnerhöhung gehört mit jener von 2001 (+2,9%) und 2002 (+2,6%) zu den höchsten der vergangenen zehn Jahre. Bei den öffentlich-rechtlichen GAV lagen die durchschnittlichen Lohnanpassungen bei 2,9%, während es bei den privatrechtlichen 1,8% waren [16].
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Arbeitszeit
2005 wurde in der Schweiz erstmals die Grenze von 7 Mia geleisteter Arbeitsstunden überschritten bei gleichzeitig stabil bleibender Wochenarbeitszeit der Vollzeitarbeitnehmenden (42,3 Stunden). In der Zeitspanne 2000-2005 verzeichnete der primäre Sektor stets die höchste durchschnittliche Wochenarbeitszeit (rund 45,5 Stunden) [17].
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Kollektive Arbeitsbeziehungen
Einen für die Arbeitnehmer günstigen neuen GAV konnte die Gewerkschaft Unia in der Uhrenindustrie aushandeln; da es der Branche ausgezeichnet geht, mussten die Arbeitgeber Zugeständnisse machen (Erhöhung der Krankenkassenbeiträge und der Überbrückungsrente bis zum ordentlichen AHV-Alter). Im Gegenzug wurde eine absolute Friedenspflicht vereinbart. Der neue GAV gilt ab Anfang 2007 bis Ende 2011 und betrifft rund 35 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in 416 angeschlossenen Betrieben [18].
Der Migros, dem grössten privaten Arbeitgeber der Schweiz, gehen langsam die Sozialpartner aus. 2005 hatte die Gewerkschaft Unia das Handtuch geworfen, nun kehrte auch Gewerkschaft Syna dem orangen Riesen den Rücken und erklärte, sie werde den neuen GAV nicht unterzeichnen, da der Vertrag neben einigen Verbesserungen (Einführung eines zweiwöchigen Vaterschaftsurlaubs, Ausdehnung des Mutterschaftsschutzes) inakzeptable Verschlechterungen enthalte, insbesondere die Bestimmung, dass das Unternehmen die wöchentliche Arbeitszeit um zwei Stunden verlängern oder verkürzen kann – mit oder ohne Lohnangleichung. Schliesslich wurde der GAV nur von den beiden Berufsverbänden KV Schweiz und Metzgereipersonalverband unterzeichnet [19].
Eiszeit kündigte sich auch in der Baubranche an. Der Baumeisterverband (SBV) bezeichnete die Gewerkschaft Unia als ideologisch verblendet, drohte damit, den erst im Vorjahr abgeschlossenen GAV im März 2007 zu kündigen und die Unia bei Neuverhandlungen nicht mehr als Gesprächspartner zu akzeptieren. Die Unia konterte, die Baumeister würden die Lösung von Streitigkeiten in den dafür vorgesehenen Gremien immer wieder blockieren. Unter diesen Voraussetzungen war es nicht verwunderlich, dass die Lohnverhandlungen für 2007 schliesslich scheiterten [20].
Im Konflikt um einen GAV für die Deutschschweizer Presse wurde die eidgenössische Einigungsstelle eingeschaltet. Das EVD setzte sie auf Ersuchen der Mediengewerkschaften Comedia und Impressum ein. Die Verleger hatten sich dagegen ausgesprochen. Ihr Verband lehnt es ab, Löhne in einem GAV zu regeln. Bis Ende Jahr konnte keine Einigung erzielt werden [21].
Für Verhandlungen und Arbeitskonflikte bei den bundesnahen Betrieben sowie bei der Swiss siehe oben, Teil I, 6b, Eisenbahnverkehr, Post und Telekommunikation sowie Flugverkehr.
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Beim Buntmetallverarbeiter Swissmetal Boillat im bernjurassischen Reconvilier verhärteten sich im Lauf des Januars die Fronten zwischen der Arbeitnehmerschaft, welche die volle Unterstützung der Gewerkschaft Unia und von weiten Teilen der lokalen Bevölkerung hatte, und der Unternehmensleitung zusehends. Die Belegschaft wehrte sich gegen einen Restrukturierungsplan der Firma, wonach der Giessereibetrieb in Reconvilier aufgehoben und in das Werk nach Dornach (SO) verlegt werden sollte. Dadurch hätten rund 100 der 320 Mitarbeitenden ihre Stelle in Reconvilier verloren. Am 25. Januar wurde der unbefristete Streik ausgerufen. Die Konzernleitung drohte mit Stilllegung des Betriebs, falls die Arbeit nicht umgehend wieder aufgenommen werde und entliess schliesslich 21 Kadermitarbeiter, die sich mit der Belegschaft solidarisiert hatten, sowie später rund 120 Mitarbeitende; als Kündigungsgrund für letztere Massnahme wurde ein Kundenverlust durch den Streik ins Feld geführt.
In dieser schier ausweglosen Situation schaltete sich Bundesrat Deiss, Vorsteher des EVD ein, empfing Vertreter beider Konfliktparteien zu getrennten Gesprächen und schlug schliesslich die Einsetzung eines Mediators in der Person des Unternehmers Rolf Bloch vor. Nach 30 Tagen wurde der Streik ausgesetzt und die Verhandlungen unter Leitung von Bloch aufgenommen, nachdem die Geschäftsleitung zugesichert hatte, dass sie die angedrohten Strafanzeigen gegen die Streikenden nicht eingereicht hatte. In der Folge wurden auch einige der ausgesprochenen Kündigungen zurückgezogen. Zudem wurde ein neutraler Experte eingesetzt, der die betriebswirtschaftliche Lage in Reconvilier durchleuchten sollte. Dieser empfahl den Konfliktparteien, sich auf die Weiterführung der Giesserei während maximal vier Jahren zu einigen. Entlassene Mitarbeiter sollen im Rahmen der Möglichkeiten des Unternehmens wieder eingestellt und in Reconvilier wieder ein Werkleiter eingesetzt werden. Die Umsetzung der Massnahmen hätte eine neutrale Gruppe überwachen sollen. Von dieser externen Kontrolle wollte die Geschäftsleitung allerdings nichts wissen, sie setzte die Mediation aus und erklärte, die Empfehlung in Eigenregie umsetzen zu wollen.
Die von der langen Kampfdauer zermürbte Belegschaft stimmte schliesslich zu. Entgegen der Forderung der Gewerkschaft wollte das Unternehmen auch keinem Sozialplan für die letztlich 111 Entlassenen zustimmen, sondern einen Sozialfonds für die Betroffenen einrichten, an dessen Finanzierung sich die Firma und die Unia, die von der Geschäftsleitung stets als „Brandstifterin“ bezeichnet worden war, zu gleichen Teilen beteiligen sollten. Dies bezeichnete die Gewerkschaft umgehend als absurd, da es von Gesetzes wegen vorgesehen sei, dass der Sozialplan ausschliesslich vom entlassenden Betrieb finanziert werde; sie zog die Swissmetal vor das Branchen-Schiedsgericht. Diese konterte damit, dass sie von der Unia einen Schadenersatz zwischen 5 und 10 Mio Fr. für die durch den Streik verursachte Produktionseinbusse verlangte, da die Gewerkschaft trotz der in der Metall- und Maschinenindustrie geltenden Friedenspflicht den Streik aktiv unterstützt und sogar noch angeheizt habe [22].
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Schutz der Arbeitnehmenden
Gegen das Votum des links-grünen Lagers trat der Nationalrat mit 99 gegen 64 Stimmen auf die im Vorjahr vom Ständerat beschlossene Revision des Arbeitsgesetzes und damit auf den Antrag des Bundesrates ein, den Sonderschutz für Jugendliche am Arbeitsplatz von 20 auf 18 Jahre zu senken. Betroffen sind Nacht- und Sonntagsarbeit. Der bereits in der kleinen Kammer eingebrachte Antrag der SP und der GP, zumindest die Lehrlinge von der Neuregelung auszunehmen, da sie durch das in der Schweiz geltende duale Ausbildungssystem (Berufsschule und praxisbezogene Lehre) besonders belastet seien, wurde mit 91 zu 79 Stimmen abgelehnt; einzelne CVP-Vertreter schlossen sich hier der Linken an. In der Gesamtabstimmung wurde die Gesetzesänderung mit 100 zu 72 Stimmen angenommen, was darauf zurückzuführen war, dass sich die CVP-Abgeordneten nach einigem Zögern doch mehrheitlich hinter den Entwurf stellten. In der Schlussabstimmung passierte die Revision im Ständerat mit 38 zu sechs und im Nationalrat mit 114 zu 76 Stimmen. Das von den Jugendorganisationen der SP und der Gewerkschaften angedrohte Referendum wurde nicht ergriffen [23].
Auf Antrag seiner vorberatenden Kommission (WAK) gab der Nationalrat einer auch von der SP und der GP unterstützten parlamentarischen Initiative Vanek (pda, GE) mit 117 zu 65 Stimmen keine Folge. Diese hatte verlangt, dass auf Lohndumping nicht erst reagiert werden kann, wenn es "wiederholt in missbräuchlicher Art und Weise" vorkommt, sondern dass – wie beispielsweise in Frankreich – Gesamtarbeitsverträge auf alleinigen Antrag der Gewerkschaft allgemeinverbindlich erklärt und zudem vom Staat regionen- und branchenspezifische Mindestlöhne festgelegt werden können. Die Sprecher der WAK argumentierten, diese Forderungen der Linken seien bereits im Rahmen der flankierenden Massnahmen zum Freizügigkeitsabkommen diskutiert und verworfen worden, da sie einen für die Wirtschaft, insbesondere für die KMU, nicht tragbaren überzogenen Maximalschutz für Arbeitnehmende bedeuten würden [24].
Nationalrat Levrat (sp, FR) verlangte in einer Interpellation vom Bundesrat Auskunft darüber, weshalb sich im Juni an der 95. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz die Schweizer Delegation in der Schlussabstimmung als einzige Regierungsdelegation der 178 Mitgliedstaaten der IAO gegen die Annahme eines neuen Abkommens über die Förderung der Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz ausgesprochen hat, obwohl sich der Vertreter der Schweizer Arbeitgeber nicht gegen diese Bestimmungen aussprach (Enthaltung) und der Vertreter der Schweizer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das Abkommen unterstützte. In seiner Antwort erläuterte der Bundesrat die seit jeher verfolgte Praxis in diesem Bereich, wonach die Schweiz nur Abkommen unterzeichnet, die einen reellen Mehrwert gegenüber bereits international geltenden Schutzmassnahmen darstellen, was bei diesem Übereinkommen nicht der Fall gewesen sei [25].
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Weiterführende Literatur
Bonoli, Giuliano, Adapting employment policies to post-industrial labour market risks, Chavannes-près-Renens (IDHEAP) 2006.
Oberholzer Michel, Karin, Frauenerwerbstätigkeit und Arbeitsmarktsegmentation: empirische Befunde für die Schweiz, Bern 2006.
Selbständige Erwerbstätigkeit in der Schweiz: eine Untersuchung zu den Ergebnissen der schweizerischen Arbeitskräfteerhebung, Neuenburg (BFS) 2006.
Strub, Silvia / Hüttner, Eveline / Guggisberg Jürg, Arbeitsteilung in Paarhaushalten: Aufteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit in der Schweiz, Neuenburg (BFS) 2005.
Teilzeitarbeit in der Schweiz, Neuenburg (BFS) 2006.
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Behncke, Stefanie / Frölich, Markus / Lechner, Michael, Aktive Arbeitsmarktpolitik in Deutschland und der Schweiz – eine Gegenüberstellung, St. Gallen 2006.
Die Volkswirtschaft, 2006, Nr. 10, S. 4-37 (Monatsthema Arbeitslosigkeit).
Dostert, Brigitte / Engler, Monika, „Familienpolitik unter neuen Vorzeichen – Massnahmen zur erhöhten Frauenerwerbstätigkeit“, in Die Volkswirtschaft, 2006, 5, S. 44-47.
Dürsteler, Reto, „Personenfreizügigkeit als Stütze der Bauwirtschaft“, in Die Volkswirtschaft, 2006, 7-8, S. 53-55.
Frick, Andres / Wirz, Aniela, „Hilft die Kurzarbeitsentschädigung, Arbeitsplätze zu erhalten?“, in Die Volkswirtschaft, 2006, 1-2, S. 48-53.
Gächter, Thomas, „Rechtliche Grundlagen der Interinstitutionellen Zusammenarbeit (IIZ)“, in Schweizerische Zeitschrift für Sozialversicherung und berufliche Vorsorge , 2006, S. 593-618.
Kottmann, Helena, „Arbeitsplatzbeteiligung älterer Arbeitnehmender fördern – sozialversicherungsrechtliche Anreize richtig setzen“, in CHSS, 2006, S. 101-104.
Lalive d'Epinay, Rafael / Zehnder, Tanja / Zweimüller, Josef, Analyse macroéconomique de la politique active de l'emploi en Suisse, Berne (SECO) 2006.
Leu, Agnes, Die arbeitsmarktlichen Massnahmen im Rahmen der Arbeitslosenversicherung in der Schweiz, Zürich (Diss.) 2006.
Marti, Michael / Osterwald, Stephan, Wirkungen der arbeitsmarktlichen Massnahmen auf den schweizerischen Arbeitsmarkt: makroökonomische Evaluation, Bern (SECO) 2006.
Riphahn, Regina T. / Sheldon, George, Arbeit in der alternden Gesellschaft – der Arbeitsmarkt für ältere Menschen in der Schweiz, Zürich 2006.
Spycher, Stefan (et al.), Ausländer/innen, Erwerbslosigkeit und Arbeitslosenversicherung, Bern (SECO 2006).
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Wyss, Ursula, Arbeitszeitformen und Freizeitverhalten: eine Zeitbudgetuntersuchung, Bern 2006.
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Wenger, Sarah, Zulässige Mittel im Arbeitskampf, Basel (Diss. jur.) 2006.
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[1] Presse vom 5.7.06.
[2] Presse vom 31.8.07.
[3] BBl, 2006, S. 3199 ff. und 3205 ff.; AB SR, 2006, S. 508; AB NR, 2006, S. 1393.
[4] Presse vom 19.5.06.
[5] AB NR, 2006, S. 1573. Siehe dazu auch die Antwort des BR auf eine noch nicht abschliessend behandelte Interpellation im NR (a.a.O., S. 2040).
[6] Lit. Teilzeitarbeit; Die Volkswirtschaft, 2007, Nr. 9, S. 93 und 74; Presse vom 8.8.06.
[7] TA, 22.2.06.
[8] Lit. Gächter; Presse vom 5.9.06.
[9] AB SR, 2006, S. 664. Im NR wurde eine identische Motion der FDP-Fraktion von Goll (sp, ZH) bekämpft und deshalb noch nicht behandelt (AB NR, 2006, S. 1572). Siehe Lit. Kottmann und Ripahn/Seldon.
[10] Die Volkswirtschaft, 2007, Nr. 9, S. 94-96. Presse vom 10.1.2007. Siehe SPJ 2005, S. 176.
[11] Presse vom 17.6.06. Siehe dazu die Antwort des BR auf zwei Ip. im NR: AB NR, 2006, S. 1581 und 2041.
[12] AB NR, 2006, S. 1573.
[13] AB NR, 2006, S. 1576. Siehe dazu auch die Antwort des BR auf eine dringliche Anfrage der SP-Fraktion bezüglich der Anstrengungen des Bundes als Arbeitgeber bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit (a.a.O., 2006, S. 1611).
[14] Presse vom 19.12.06. Siehe SPJ 2005, S. 176.
[15] Presse vom 1.5.07. Zu den hohen Managerlöhnen siehe oben, Teil I, 4a (Gesellschaftsrecht).
[16] Presse vom 14.7.07. Siehe SPJ 2005, S. 176. Zu einer Grossdemonstration des SGB für höhere Löhne und eine Angleichung der Frauenlöhne an jene der Männer siehe oben, Teil I, 1b (Politische Manifestationen).
[17] Presse vom 10.1. und 30.3.07. Die Volkswirtschaft, 2007, Nr. 9, S. 94-96. Siehe SPJ 2005, S. 176.
[18] Presse vom 26.10.06.
[19] NLZ, 4.7.06; Presse vom 24.8.06; TA, 14.11.06.
[20] Presse vom 19.3., 8.12. und 11.12.06.
[21] NZZ, 29.6.06; NF, 29.9.06.
[22] Presse vom 26.1.-28.1., 30.1., 1.2., 3.2., 10.2., 14.2.-16.2., 18.2., 24.2., 25.2., 1.3.-3.3., 24.3., 25.3., 20.4., 26.4., 13.6., 19.6., 20.6., 28.6., 1.7., 14.7., 27.7., 13.9. und 6.12.06. Siehe SPJ 2005, S. 178. Die Vorgänge rund um Swissmetal führten zu mehreren Anfragen, Fragen und einer Ip. im NR. In seinen Antworten verwies der BR stets auf die Wirtschaftsfreiheit, die es ihm untersage, direkt zu intervenieren (Geschäfte 05.3734, 06.1043, 06.1064, 06.5037, 06.5101 und 06,5126).
[23] AB NR, 2006, S. 934 ff. und 1144; AB SR, 2006, S. 616; BBl, 2006, S. 5861 f. Siehe SPJ 2005, S. 179.
[24] AB NR, 2006, S. 921 ff.
[25] AB NR, 2006, S. 2041.
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