Der EGMR soll sich an seine Kernaufgabe erinnern (Mo. 24.3485)

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In der Herbstsession 2024 fand auf Wunsch zahlreicher Mitglieder der SVP-Fraktion eine ausserordentliche Session zum Thema «Europäische Menschenrechtskonvention» und insbesondere zum Urteil des EGMR in Sachen Klimaseniorinnen vs. Schweiz statt. Dabei wurden im Ständerat unter anderem ein Postulat von Carlo Sommaruga (sp, GE; Po. 24.3508) zu den Folgen des EGMR-Urteils, eine Motion von Jakob Stark (svp, TG; Mo. 24.3513) zum Austritt aus der EMRK sowie eine Motion von Andrea Caroni (fdp, AR; Mo. 24.3485) betreffend die Kernaufgaben des EGMR diskutiert.
Während das Postulat Sommaruga zurückgezogen und die Motion Stark abgelehnt wurde, passierte die Motion Caroni den Ständerat. In dieser Motion forderte der FDP-Vertreter den Bundesrat dazu auf, in Zusammenarbeit mit den anderen Vertragsstaaten der EMRK zu erwirken, dass sich der EGMR wieder stärker auf seine Kernaufgabe, den Schutz der Menschenrechte, fokussiert und dass der EGMR «keine ideelle Verbandsbeschwerde zulassen» und «nicht mittels ausufernder Auslegung der Grundrechte den legitimen Ermessensspielraum der Staaten einschränken» soll. Caroni schlug als konkrete Massnahme die Erarbeitung eines Zusatzprotokolls zur EMRK vor, in welchem diese Punkte festgehalten werden sollen. Der Bundesrat beantragte die Annahme der Motion Caroni.
In der Debatte forderten insbesondere Carlo Sommaruga, Franziska Roth (sp, SO) und Céline Vara (gp, NE) dazu auf, die Motion Caroni abzulehnen. Sommaruga wies darauf hin, dass der EGMR in den letzten Jahren und Jahrzehnten mit seiner Rechtsprechung erreicht habe, dass zahlreiche Minderheiten besser geschützt würden und die Grundrechte für Millionen von Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedsstaaten an die gesellschaftlichen und institutionellen Entwicklungen angepasst worden seien. Roth ergänzte, dass der Klimawandel zu diesen neuen Entwicklungen gehöre und der EGMR zu Recht entschieden habe, den Klimawandel respektive dessen Folgen mit dem Recht auf Leben und dem Recht auf Gesundheit in Verbindung zu bringen. Vara wiederum warnte davor, politischen Druck auf den Gerichtshof hinsichtlich seiner Rechtsprechung ausüben zu wollen, dadurch werde die Gewaltenteilung in Frage gestellt. Für Annahme der Motion Caroni plädierten unter anderem Daniel Jositsch (sp, ZH) sowie Hannes Germann (svp, SH). Sie forderten, dass dem EGMR aufgezeigt werden müsse, auf welche Themen seine Rechtsprechung abzielen dürfe und auf welche nicht, respektive dass er sich auf die Verletzung von Individualrechten konzentrieren solle und Gebiete, die nicht Bestandteil der EMRK sind, nicht berücksichtigen dürfe.
Justizminister Beat Jans pflichtete seitens des Bundesrates bei, dass die Rechtsprechung des EGMR «nicht zu einer dermassen grossen Ausweitung des Geltungsbereichs der EMRK führen» dürfe, da dieser in der Kompetenz der Vertragsstaaten liege. Entsprechend sei der Bundesrat bereit, das von Caroni vorgeschlagene Zusatzprotokoll zu fordern. Jans wies jedoch darauf hin, dass ein solches Zusatzprotokoll der Zustimmung aller Vertragsstaaten bedürfe und ein sehr langwieriger Prozess sei.
Anschliessend votierte die kleine Kammer mit 32 zu 12 Stimmen für die Annahme der Motion Caroni. Gegen die Motion stimmten insbesondere Mitglieder der SP und der Grünen.
Im Nationalrat wurde ebenfalls eine ausserordentliche Session zu diesem Thema abgehalten. Die SVP-Fraktion hatte dort einen identischen Vorstoss (Mo. 24.3503) zur Motion Stark eingereicht, diese Motion wurde in der grossen Kammer nach eingehender Debatte ebenfalls abgelehnt.

Dossier: Urteil des EGMR zu den Klimaseniorinnen

In der Sondersession vom Mai 2025 befand der Nationalrat über die Motion Caroni (fdp, AR) zu den Kompetenzen des EGMR. Wie RK-NR-Sprecher Philipp Matthias Bregy (mitte, VS) ausführte, solle der EGMR mit dieser Motion an seine eigentliche Aufgabe erinnert werden, die in der Kontrolle der Einhaltung der Menschenrechte bestehe. Die Kommissionsmehrheit (13 zu 9 Stimmen bei 1 Enthaltung) sei zur Auffassung gelangt, dass der Gerichtshof mit seinem Urteil zu den Schweizer Klimaseniorinnen eine ihm nicht zustehende Rolle eingenommen habe, indem er «durch die Hintertüre eine ideelle Verbandsbeschwerde eingeführt» habe und den Ermessensspielraum der Vertragsparteien bei der Auslegung der Konvention eingeengt habe. In der Folge solle die Schweiz nun in Zusammenarbeit mit anderen Vertragsstaaten ein 17. Zusatzprotokoll zur EMRK ausarbeiten, das diese Punkte aufnimmt. Für die Kommissionsminderheit argumentierte Sibel Arslan (basta, BS), dass bei Annahme der Motion die Unabhängigkeit des EGMR auf dem Spiel stehe. Die Aufgabe des Gerichtshofes bestehe gerade in der dynamischen Auslegung der EMRK, indem er insbesondere die Rechte von Minderheiten und Menschen ohne Lobby sichere. Ebendiese Rolle solle nun beschnitten werden. Ausserdem sei es für die Minderheit nicht akzeptabel, wenn sich nationale Parlamente in die Rechtsauslegung eines internationalen Gerichtshofs einmischten. Justizminister Beat Jans stellte sich im Namen des Bundesrates hinter die Motion und befürwortete die Erarbeitung gewisser Leitlinien für den EGMR.
Anschliessend stimmte die grosse Kammer mit 122 zu 71 Stimmen für die Annahme der Motion. Gegen die Motion votierten die geschlossen stimmenden Fraktionen der Grünen und der SP sowie die Mehrheit der GLP-Fraktion und ein Mitglied der Mitte-Fraktion.

Dossier: Urteil des EGMR zu den Klimaseniorinnen