Sowohl der Ständerat (PAG 24.053) als auch der Nationalrat (PAG 24.054) diskutierten in der Sommersession 2024 intensiv darüber, ob sie, wie von ihren Rechtskommissionen vorgeschlagen, jeweils eine Erklärung zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu den Klimaseniorinnen abgeben wollen.
Im Ständerat lagen mehrere Anträge vor: Die Kommissionsmehrheit sprach sich für eine umfassende Erklärung aus, die abschliessend darauf hinweist, dass die Schweiz dem Urteil keine weitere Folge geben wird. Die Minderheit von Carlo Sommaruga (sp, GE) wollte hingegen auf die Abgabe einer Erklärung verzichten, wogegen die Minderheiten von Andrea Gmür-Schönenberger (mitte, LU) und Matthias Michel (fdp, ZG) ebenfalls darauf hinweisen wollten, dass die Schweiz ihre Klima-Verpflichtungen einhält (Gmür-Schönenberger und Michel) respektive dass die Schweiz die menschenrechtlichen Anforderungen des Urteils bereits erfülle (Michel). Gemeinsam war den beiden Versionen Gmür-Schönenberger und Michel, dass sie auf den abschliessenden Passus hinsichtlich des « keine weitere Folge geben» verzichten wollten. Der Minderheitsantrag von Mathias Zopfi (gp, GL) forderte schliesslich die Ablehnung des Antrags Michel.
RK-SR-Präsident Daniel Jositsch (sp, ZH) erklärte stellvertretend für die Kommissionsmehrheit, dass die Rechtskommission den EGMR und die EMRK sehr schätze und diese Institutionen und deren Errungenschaften keinesfalls in Frage stelle. Die RK-SR kritisiere aber spezifisch das Urteil gegen die Schweiz. Es gehe nicht an, dass ein internationales Gericht die Gewaltenteilung umgehe und der Schweiz vorschreibe, welche Klimapolitik sie zu verfolgen habe. Zudem sei die Kommission der Ansicht, dass die Schweiz mit dem kürzlich verabschiedeten Entwurf für das CO2-Gesetz bereits das politisch Mögliche in Sachen Klimaschutz unternommen habe. Carlo Sommaruga hingegen befand, dass aus mehreren Gründen keine Erklärung abgegeben werden sollte. Er empfand es zum einen als stossend, dass die Erklärung die Auslegung der EMRK als «instrument vivant» durch den Gerichtshof kritisiere. Gerade diese Auslegungsmethode habe dabei geholfen, die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger der Vertragsstaaten weiterzuentwickeln. Zum anderen sei es unzulässig, den EGMR aufzufordern, seine Rechtssprechung anzupassen. Diese Praxis der Übersteuerung der Judikative durch die Politik sei ein Merkmal illiberaler oder autoritär geführter Staaten und der Schweiz daher unwürdig. Sommaruga kritisierte die Erklärung auch dahingehend, dass diese einen Passus enthalte, in welchem den Gremien des Europarates mitgeteilt werde, dass die Schweiz das Urteil des EGMR nicht umsetzen werde. Schliesslich gab der Genfer SP-Ständerat zu Bedenken, dass der Gerichtshof gar nicht weiter erläutert habe, wie die Schweiz dieses Urteil umzusetzen habe. Der EGMR habe lediglich festgestellt, dass eine Verletzung der Rechte vorliege, weil die Schweiz keine ausreichenden Massnahmen gegen den Klimawandel getroffen habe. Die weitere Diskussion unter den Mitgliedern des Ständerates drehte sich sodann mehrheitlich um die Formulierung der Erklärung respektive ob im Text erwähnt werden solle, dass die Schweiz dem Urteil keine weitere Folge geben werde. Während Andrea Gmür-Schönenberger und Matthias Michel - wie oben erwähnt - mit ihren Anträgen auf Kürzung der Erklärung argumentierten, dass ein solcher Passus unnötig sei, da in der Erklärung ausgeführt werde, dass die Schweiz die menschenrechtlichen Anforderungen des Urteils bereits erfülle, führte Beat Rieder (mitte, VS) für die Mehrheit exemplarisch aus, dass dieser Passus aufzeigen solle, dass der EGMR über keine Verfassungsgerichtsbarkeit im Klimaschutzbereich verfüge. Nachdem Andrea Gmür-Schönenberger ihren Antrag zurückgezogen hatte, musste die kleine Kammer noch darüber entscheiden, ob sie den Antrag der Mehrheit, den Antrag Michel oder den Antrag Sommaruga unterstützen wollte. In den Abstimmungen sprach sich der Ständerat zuerst mit 26 zu 17 Stimmen für den Antrag der Mehrheit und gegen den Antrag Michel aus. Die Stimmen für den Antrag Michel stammten von links-grün sowie von einzelnen Mitgliedern der FDP und der Mitte. Schliesslich obsiegte der Mehrheitsantrag auch gegen den Antrag Sommaruga (31 zu 11 Stimmen); die Gegenstimmen stammten dabei von Mitgliedern der SP und der Grünen. Dies bedeutet, dass in der abgegebenen Erklärung ein Passus enthalten ist, wonach die Schweiz dem Urteil des EGMR keine weitere Folge geben wird.
Im Nationalrat entspann sich wenige Tage danach eine ebenso intensive Debatte. In über 100 Wortmeldungen diskutierten die Mitglieder der grossen Kammer darüber, ob die Erklärung in der Version des Ständerates abgegeben oder ob gänzlich auf eine Erklärung verzichtet werden soll. Währenddem die Mehrheit der RK-NR die Erklärung in ständerätlicher Fassung abgeben wollte, plädierte eine Minderheit Flach (glp, AG) dagegen. Kommissionssprecher Philipp Bregy (mitte, VS) stellte die Argumente der Kommissionsmehrheit dar. Er erläuterte, dass der EGMR quasi ein neues Menschenrecht auf gesunde Umwelt schaffen wolle, das lasse sich aber aus der Konvention nicht ableiten. Zudem argumentierte Bregy wie zuvor Jositsch, dass die Schweiz das Urteil durch ihre jüngsten klimapolitischen Entscheide bereits erfülle. Bregy stufte darüber hinaus die Übersteuerung des Bundesgerichts durch den EGMR als problematisch ein und beschied, dass der EGMR mit seinem Entscheid dem Grundsatz der Subsidiarität widerspreche. Gemäss diesem Prinzip des EGMR sollen nämlich primär die Vertragsstaaten die Einhaltung der Konvention gewährleisten müssen. Anschliessend folgten zahlreiche Rückfragen an den Kommissionssprecher, insbesondere seitens der SVP-Fraktion. Minderheitssprecher Flach befürchtete hingegen, dass die Erklärung das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit untergraben werde: «Das Urteil des EGMR sollte respektiert werden, um die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren.» Zudem könne eine Ablehnung des Urteils negative Konsequenzen im Hinblick auf die internationale Glaubwürdigkeit der Schweiz und des EGMR mit sich bringen, argumentierte Flach weiter. Die Nichtbeachtung des Urteils könne in der Folge nämlich andere Staaten dazu verleiten, EGMR-Urteile ebenso zu ignorieren. Auch auf dieses Votum folgten zahlreiche Rückfragen und schliesslich äusserten sich auch noch die einzelnen Fraktionen zur Erklärung. In der abschliessenden Abstimmung sprach sich der Nationalrat mit 111 zu 72 Stimmen und 10 Enthaltungen für die Abgabe der Erklärung aus. Die Gegenstimmen stammten von der SP- und der Grünen-Fraktion sowie von der Mehrheit der GLP und einzelnen Stimmen der Mitte-Fraktion.