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Grundlagen der Staatsordnung
Föderativer Aufbau
Das Parlament stimmte dem neuen Gesetz über die Mitwirkung der Kantone an der Aussenpolitik des Bundes zu. – Die Regierung beantragte eine Beteiligung der Schweiz am Projekt INTERREG III der EU. – In verschiedenen Regionen wurden Vorstösse für Kantonsfusionen lanciert.
 
Das im Frühjahr in die Vernehmlassung gegebene Projekt „Neuer Finanzausgleich“ (NFA) beinhaltet auch eine eingehende Überprüfung der Kompetenz- und Kooperationsordnung zwischen dem Bund und den Kantonen, aber auch der Kantone unter sich. Der Expertenentwurf enthält zudem auch Vorschläge für die Zuweisung von Rechtssetzungskompetenzen an überkantonale Organe unter Wahrung der demokratischen Entscheidungsgrundsätze [1]. Umfassend zu diesem Projekt siehe unten, Teil I, 5 (Finanzausgleich).
Beziehungen zwischen Bund und Kantonen
Als Zweitrat befasste sich der Nationalrat mit dem neuen Bundesgesetz über die Mitwirkung der Kantone an der Aussenpolitik des Bundes. Wie bereits im Jahr zuvor in der kleinen Kammer waren die Meinungen über die Notwendigkeit dieses neuen Gesetzes geteilt. Die Kommissionsmehrheit hatte Nichteintreten beantragt und wurde dabei von den Fraktionen der FDP, der SVP, der GP sowie der äusseren Rechten unterstützt. Mit 81:80 Stimmen beschloss der Nationalrat jedoch, auf das Geschäft einzutreten. In der Detailberatung schuf der Nationalrat einige Differenzen zur kleinen Kammer. So ersetzte er etwa die vom Ständerat gewünschte Berücksichtigung der Interessen und der Stellungnahmen „aller“ Kantone wieder durch die Bezeichnung „der“ Kantone, um damit klarzumachen, dass nicht in jedem Fall jeder einzelne Kanton berücksichtigt werden muss. Der Ständerat gab in dieser Frage nach, betonte aber, dass dies keinesfalls heissen könne, dass damit die Konferenz der Kantonsregierungen als Vertreterin der Kantone gegenüber dem Bund akzeptiert sei. In der Schlussabstimmung votierte im Nationalrat eine Mehrheit von 123:23 für das Gesetz; im Ständerat gab es eine Gegenstimme [2].
Die Staatspolitische Kommission des Ständerats legte in Ausführung einer parlamentarischen Initiative Rhinow (fdp, BL), welcher der Rat 1997 Folge gegeben hatte, ihre konkreten Vorschläge für eine Verbesserung des Vollzugs der Bundespolitik durch die Kantone vor. Sie beantragte, in das Geschäftsverkehrsgesetz die Bestimmung aufzunehmen, dass der Bundesrat in seinen Botschaften zum geplanten Vollzug Stellung nimmt und auch darlegt, wie er die mit dem Vollzug primär betrauten Kantone und Gemeinden im Vorverfahren berücksichtigt hat und welche Kosten diesen aus den Massnahmen entstehen. Beim Erlass von Verordnungen für Politiken, welche in erheblichem Ausmass ausserhalb der Bundesverwaltung vollzogen werden, sollen die zuständigen Parlamentskommissionen auf ihr Verlangen hin konsultiert werden. Der Bundesrat erklärte sich mit den Forderungen in Bezug auf die Botschaften einverstanden, lehnte hingegen ein Mitspracherecht der Parlamentskommissionen bei der Ausarbeitung von Verordnungen als Kompetenzvermischung ab. Dieses würde nicht nur den Handlungsspielraum der Regierung in unakzeptabler Weise einschränken, sondern auch zu zeitlichen Verzögerungen führen [3]. Trotz diesen Bedenken hiessen beide Ratskammern die Kommissionsvorschläge oppositionslos gut [4].
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Der Nationalrat überwies zwei sozialdemokratische Motionen (eine der Fraktion und eine von Gysin, BS) in Postulatsform, welche eine Berücksichtigung der Zentrumslasten der Städte bei der Konzeption des „Neuen Finanzausgleichs“ (siehe oben) verlangen. Der Vorstoss Gysin war – auch als Postulat – von Schlüer (svp, ZH) bekämpft worden, welcher befürchtete, dass damit die Grundlagen für neue Bundessubventionen geschaffen würden [5].
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Der Bundesrat beantragte dem Parlament einen Rahmenkredit von 39 Mio Fr. für den Zeitraum 2000-2006, um eine Beteiligung der Schweiz an der Initiative INTERREG III der Europäischen Union zu gewährleisten. Die von der Europäischen Kommission zum Zeitpunkt der Publikation der Botschaft noch nicht definitiv verabschiedete Initiative stellt eine Fortsetzung der 1999 auslaufenden INTERREG II dar. Die grenzüberscheitende Zusammenarbeit im regionalen Rahmen hat sich nach Ansicht des Bundesrates sowohl aus raumordnungs- als auch als integrationspolitischen Gründen derart gut bewährt, dass sich die Schweiz unbedingt weiterhin daran beteiligen sollte. Der Nationalrat stimmte dem Antrag bei einer Gegenstimme (Steinemann, fp, SG) zu; in der Schlussabstimmung sprachen sich auch noch einige Vertreter der Zürcher SVP dagegen aus. Im Ständerat erfolgte die Zustimmung einhellig [6].
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Territorialfragen
Obwohl die politischen Aufgaben unbestrittenermassen immer komplexer werden und vor allem die kleinen Kantone manchmal an die Grenzen ihrer Problemlösungskapazitäten stossen, sieht eine Mehrheit des Nationalrats noch keinen Grund, die bestehenden Kantonsstrukturen durch neue, grössere politische Einheiten (Regionen) zu ersetzen. Ein Postulat Jutzet (sp, FR), das vom Bundesrat entsprechende Vorschläge verlangt hatte, fand zwar bei der Linken Unterstützung, wurde jedoch auf Antrag des Bundesrats mit 62:49 Stimmen abgelehnt. Die Landesregierung machte in ihrer Begründung nicht nur auf die noch ausbaubaren Instrumente überkantonaler Zusammenarbeit aufmerksam, sondern vertrat auch den Standpunkt, dass die Initiative zu einer derart eingreifenden Reform nicht vom Bund, sondern von den Kantonen aus kommen müsste [7].
Die Idee einer Ersetzung der Kantone durch grossräumigere politische Einheiten fand insbesondere bei den Grünen Anklang. Das vom Parteivorstand propagierte Projekt, dazu noch 1999 eine Volksinitiative zu lancieren, wurde allerdings von der Parteibasis nur lauwarm begrüsst. Die Delegiertenversammlung unterstützte die Idee zwar grundsätzlich, war aber für ein langsameres Vorgehen. Sie beschloss, das Thema vorerst von einer bereits bestehenden parteiinternen Arbeitsgruppe begutachten zu lassen. Im Nationalrat reichte die grüne Fraktion eine parlamentarische Initiative für die Ersetzung der Kantone durch sechs bis zwölf Grossregionen ein [8].
Etwas konkreter wurden derartige Bestrebungen in der Westschweiz. Die im Vorjahr angekündigte kantonale Volksinitiative für eine Fusion der Kantone Genf und Waadt wurde vorerst in der Waadt lanciert und mit rund 13 500 Unterschriften eingereicht. In Genf soll die Unterschriftensammlung im Frühjahr 2000 stattfinden [9].
In der Nordwestschweiz lancierten vier kantonale Parlamentarier aus Basel-Stadt, Basel-Land, Aargau und Solothurn die Idee eines neuen Kantons, der die beiden Basel, das aargauische Fricktal und die solothurnischen Bezirke Dorneck und Thierstein umfassen soll. In Basel-Stadt fand der Vorschlag eine gute Aufnahme: mehr als die Hälfte der Mitglieder des Grossen Rates unterzeichneten eine Motion, welche von der Regierung die Einleitung entsprechender Schritte verlangt. Diese zeigte sich allerdings sehr zurückhaltend und meinte, der Anstoss dazu müsste von den anderen involvierten Kantonen ausgehen. Sie schlug vor, den Vorstoss als Postulat zu überweisen und damit die grundsätzliche Bereitschaft zu einer Fusion anzuzeigen, ohne aber selbst dazu die Initiative zu ergreifen. Der Grosse Rat schloss sich dieser Meinung an [10]. Die Regierungen der drei anderen Kantone sprachen sich gegen entsprechende, von Vertretern der Grünen eingereichte Motionen aus und empfahlen, die kantonale und grenzüberschreitende Zusammenarbeit auszubauen. In den Parlamenten dieser Kantone wurden die Vorstösse mit sehr deutlichen Mehrheiten abgelehnt [11].
Der Kanton Freiburg verfügt seit 1995 als einziger Kanton über ein Agglomerationsgesetz. Dieses erlaubt es, neue, zwischen Gemeinden und Kanton eingeschaltete politische Einheiten zu schaffen, die, anders als Bezirke oder Gemeindeverbände, mit vollständigen demokratischen Institutionen (Exekutive, Legislative und Volksrechte) ausgestattet sind. Welche Aufgaben und Kompetenzen einer Agglomeration zugewiesen werden, ist dabei noch offen. In der Stadt Freiburg und in vier Vorortsgemeinden reichten die Linksparteien im Frühjahr Gemeindeinitiativen ein, welche die Kantonsregierung beauftragen wollen, die Grenzen einer derartigen Agglomeration festzulegen und den Konstituierungsprozess in Gang zu setzen. Gemäss dem Agglomerationsgesetz gelten diese Initiativen als direkter Auftrag, eine vorangehende kantonale Volksabstimmung oder eine parlamentarische Zustimmung ist in dieser vorbereitenden Phase noch nicht erforderlich [12].
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Die bernische und die jurassische Regierung kamen überein, selbst aktiv zu werden und der Interjurassischen Versammlung Vorschläge zur Stellungnahme zu unterbreiten. Im August legten sie eine Liste mit 26 Projekten vor, welche die beiden Kantone oder ihre Regionen gemeinsam durchführen könnten. Es handelt sich dabei insbesondere um die Zusammenlegung von politischen Institutionen und Ämtern (z.B. Gleichstellungsbüro, Jugenddelegierter), sowie um die gemeinsame Führung von Schulen, Spitälern und kulturellen Einrichtungen [13].
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Weiterführende Literatur
Abderhalden, Ursula, Möglichkeiten und Grenzen der interkantonalen Zusammenarbeit: unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Integration der Schweiz, Freiburg (Diss.) 1999.
Arn, Daniel, „Liegt die Zukunft in der Fusion von Gemeinden?“, in Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht, 1999, S. 241-53.
Bühler, Othmar, „Die Staatsverträge der Kantone“, in Gesetzgebung heute, 1999, Nr. 3, S. 75-85.
Frey, Bruno / Eichenberger, Reiner, The new democratic federalism for Europe: functional, overlapping and competing jurisdiction, Cheltenham (E. Elgar) 1999.
Jacob, Betty e.a. (Hg.), Democracy and local government. Nine empirical studies, Vol. II, Bern (IPW) 1999 (mit Beiträgen von Wolf Linder, Claudia Heierli und Ruth Nabholz).
Martenet, Vincent, L’autonomie constitutionnelle des cantons, Bâle (thèse Genève) 1999.
Mascotto, Claudio, „Democrazia diretta e federalismo: quale integrazione?“, in Democrazia e diritto, 1998, Nr. 2, S. 81-100.
Möckli, Silvano, Die Rolle der Parlamente bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, St. Gallen 1999.
Notarangelo, Rocco, „Il cantiere federale svizzero“, in Democrazia e diritto, 1998, Nr. 2, S. 41-65.
Pfisterer, Thomas, „Erneuerung des Föderalismus und innere Reformen in den Kantonen (mit Belegen aus dem Aargau)“, in Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht, 1999, S. 411-22.
Sager, Fritz, „Die Kantone und das Vernehmlassungsverfahren des Bundes“, in Gesetzgebung heute, 1999, Nr. 1, S. 51-66.
Schuler, Martin e.a., Die Grossregionen der Schweiz: Die Schweiz im NUTS-Regionalsystem, Neuenburg 1999.
Steimen, Urs, Rechtsetzungsaufträge des Bundes an die Kantone, Zürich (Diss. jur.) 1999.
Steiner, Reto, Kooperation und Fusionen der Gemeinden, Bern (Institut für Organisation und Personal) 1999.
Terribilini, Serge, Fédéralisme et inégalités sociales dans la mise en oeuvre des politiques à incidence spatiale, s.l. (thèse Lausanne) 1999.
Tschudi, Hans Martin „Die Schweiz als Zukunftsmodell föderaler Staatlichkeit im europäischen Mehrebenensystem“, in Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht, 1999, S. 401-10
Vatter, Adrian, „Föderaler Politikvollzug am Beispiel des kommunalen Umweltschutzes in der Nordwestschweiz“, in Gesetzgebung heute, 1999, Nr. 1, S. 107-20.
Vodoz, Luc (réd.), Vers de nouveaux modes de coopération régionale transfrontalière? Evaluation comparative et propositions d’améliorations, Lausanne 1999.
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[1] Presse vom 16.4.99 (Präsentation NFA); Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1308 (Überweisung einer Motion Theiler (fdp, LU) in Postulatsform). Vgl. auch Amtl. Bull. NR, 1999, S. 479 f. sowie, zu den legislatorischen Kompetenzen und Legitimationen von kantonalen Direktorenkonferenzen, Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2673 und Beilage, S. 261 ff.1
[2] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 632 ff., 1669 ff., 2414 ff. und 2676 f.; Amtl. Bull. StR, 1999, S. 305 ff., 849 ff., 1189 f. und 1202; BBl, 1999, S. 58 ff. Vgl. SPJ 1998, S. 55.2
[3] BBl, 1999, S. 2761 ff. und 3411 (BR). Vgl. SPJ 1997, S. 53 f.3
[4] Amtl. Bull. StR, 1999, S. 305 ff. und 1202; Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2599 ff. und 2676; BBl, 2000, S. 56 f.4
[5] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2543 f. (Fraktion) und 2553 (Gysin). Siehe SPJ 1998, S. 55 f.5
[6] BBl, 1999, S. 2671 ff.; Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1686 ff. und 2314; Amtl. Bull. StR, 1999, S. 577 ff. und 995; BBl, 1999, S. 8709 f. und BBl, 2000, S. 1583 f. Zu INTERREG II siehe SPJ 1995, S. 47.6
[7] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 669 ff. Vgl. allgemein dazu auch NZZ, 8.5.99.7
[8] NLZ, 11.1.99; Blick, 1.2.99; BaZ und TA, 22.3.99; Verhandl. B.vers., 1999, VI, Teil I, S. 38.8
[9] LT, 19.1.99; NZZ, 20.1.99; 24h, 21.1., 20.4., 20.5. (Einreichung) und 16.6.99 (GE). Vgl. SPJ 1998, S. 56.9
[10] Presse vom 4.2.99. BS: BaZ, 20.2. und 4.8.99 (Regierung BS); NZZ, 21.9.99 (Parlament).10
[11] SO: AZ, 13.8. und 16.9.99. AG: AZ, 3.9. und 15.9.99. BL: BaZ, 29.10.99.11
[12] AZ, 22.4.99. Siehe SPJ 1995, S. 48.12
[13] QJ, 28.8.99. Vgl. allg. zur Stimmungslage auch BaZ, 15.11.99.13
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