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Parteien, Verbände und Interessengruppen
Verbände und übrige Interessenorganisationen
Die Unternehmerverbände kämpften an vorderster Front für ein Ja in den Volksabstimmungen über zwei Abkommen mit der EU, zeigten aber kein Interesse an einem EU-Beitritt. – Der Bauernverband führte eine friedliche Grossdemonstration gegen den Preiszerfall für Agrarprodukte und eine weitere Liberalisierung durch. – Der Gewerkschaftsbund scheiterte mit seinem Referendum gegen die Sonntagsarbeit in Bahnhofsläden nur knapp und lancierte eine Volksinitiative für eine Frühpensionierung ohne Rentenkürzung. – Die von den Umweltschützern und dem Bauernverband gemeinsam lancierte Volksinitiative für ein Gentechmoratorium in der Landwirtschaft war in der Volksabstimmung erfolgreich.
 
Für die Parolen der Spitzenverbände zu den eidgenössischen Volksabstimmungen siehe die Tabelle parolen_2005.pdf.
Unternehmer
Der Schweizerische Arbeitgeberverband und der Dachverband der schweizerischen Wirtschaft, Economiesuisse, engagierten sich erfolgreich an vorderster Front für die beiden Abkommen mit der EU über den Beitritt der Schweiz zum Schengen/Dublin-Vertrag und über die Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf die neuen EU-Staaten. Die beiden namentlich von der SVP bekämpften Verträge wurden im Berichtsjahr dem Volk zum Entscheid vorgelegt. Besonders wichtig war den Wirtschaftsverbänden die Ausweitung der Personenfreizügigkeit. In ihrer Kampagne betonten sie, dass der Schweiz bei einer Ablehnung der Vorlage in der Volksabstimmung schwere wirtschaftliche Nachteile drohen würden. Dabei dachten sie weniger an die eingeschränkte Rekrutierungsbasis für ausländische Arbeitskräfte, als vielmehr an Retorsionsmassnahmen wie etwa den Ausschluss schweizerischer Firmen von öffentlichen Ausschreibungen in den aufstrebenden mittel- und osteuropäischen Volkswirtschaften [1]. Nach den beiden Volksabstimmungen bekräftigte Economiesuisse-Direktor Ramsauer die Haltung seines Verbandes, dass mit den beiden bilateralen Abkommen ein Optimum für die Schweiz erreicht sei und ein Beitritt zur EU auf weitere Zeit keine wünschbare Option darstelle [2].
Sowohl bei Economiesuisse als auch beim Arbeitgeberverband kündigten sich im Berichtsjahr personelle Wechsel an. Economiesuisse-Präsident Ueli Forster teilte seinen Rücktritt auf Herbst 2006 mit. Als mutmasslicher Nachfolger wurde der Zürcher Manager Andreas Schmid präsentiert. Der Arbeitgeberverbandsdirektor Peter Hasler gab ebenfalls seinen Rücktritt bekannt. Zu seinem Nachfolger mit Amtsantritt am 1. Juni 2006 wählte der Verband Thomas Daum, welcher bisher Swissmem, die Unternehmerorganisation der Maschinenindustrie leitete [3].
Auch die Dachorganisation der KMU, der Schweizerische Gewerbeverband (SGV), empfahl die Zustimmung zu den beiden Abkommen mit der EU und stellte sich damit gegen die SVP.
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Landwirtschaft
Der Schweizerische Bauernverband (SBV) konnte mit der von ihm gemeinsam mit Umweltschutz- und Konsumentenvereinigungen sowie den Grünen lancierten Volksinitiative für ein Gentechmoratorium in der Landwirtschaft einen grossen Erfolg feiern. Gegen den Widerstand von Bundesrat und Parlament sowie der bürgerlichen Regierungsparteien nahmen Volk und Stände die Initiative am 27. November mit 56% Ja-Stimmen an. Zu diesem Sieg beigetragen hatte sicher auch die geringe Geschlossenheit des bürgerlichen Lagers: Es war vor allem auf die Anstrengungen der Bauernpolitiker zurückzuführen, dass sich sowohl bei der SVP als auch bei der CVP je sieben Kantonalparteien gegen die nationale Partei stellten und die Initiative ebenfalls unterstützten [4].
Mitte November führte der Bauernverband auf dem Bundesplatz in Bern eine Protestdemonstration mit rund 10 000 Beteiligten durch. Sie richtete sich insbesondere gegen die Senkung der Abnehmerpreise für Milch und gegen die allgemeine Liberalisierung der schweizerischen Landwirtschaftspolitik im Rahmen des Konzepts Agrarpolitik 2011 und den WTO-Verhandlungen. Im Gegensatz zur letzten Grosskundgebung des Bauernverbandes in Bern im Jahr 1996 kam es diesmal zu keinen Ausschreitungen und Auseinandersetzungen mit der Polizei blieben aus [5].
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Arbeitnehmer
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) scheiterte mit seinem Anfang 2005 eingereichten und auch vom anderen grossen Gewerkschaftsdachverband Travail Suisse unterstützten Referendum gegen die Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten in grossen Zentren des öffentlichen Verkehrs (Bahnhöfe und Flughäfen) in der Volksabstimmung nur knapp. Die von der gesamten Linken und auch den Kirchen und den kirchennahen Parteien EVP und EDU (nicht aber von der CVP) bekämpfte Vorlage vermochte sich am 27. November mit einem Ja-Stimmenanteil von 50,6% durchzusetzen. Von der Gesetzesrevision waren direkt zwar lediglich rund 2500 Beschäftigte in den grossen Bahnhöfen und Flughäfen betroffen. Die Gewerkschaften – und auch die Kirchen – massen ihr aber einen grossen symbolischen Wert zu. Ihnen zufolge stellte diese Liberalisierung nur einen ersten Schritt zu einer generellen Aufhebung des grundsätzlichen Sonntagsarbeitsverbots dar [6].
Die Gewerkschaften unterstützten in der Volksabstimmung vom 25. September die Erweiterung der Personenfreizügigkeit, wie sie im bilateralen Abkommen I zwischen der Schweiz und der EU festgelegt ist, auf die neuen Mitgliedstaaten der EU sowie die dazu gehörenden flankierenden Massnahmen gegen Lohndumping. An der Unterschriftensammlung für das Referendum gegen dieses Abkommen hatte sich allerdings neben der SVP und den Schweizer Demokraten auch ein aus der äusseren Linken und einzelnen Funktionären des SGB und seiner Verbände gebildetes Komitee beteiligt. Die Volksabstimmung über die Erweiterung der Personenfreizügigkeit hatte auch Auswirkungen auf die Verhandlungen über neue Gesamtarbeitsverträge. Die rasche und friedliche Einigung auf einen neuen GAV für das Bauhauptgewerbe erstaunte, nachdem im Vorjahr die Vertragsverhandlungen von gewerkschaftlichen Protestaktionen geprägt gewesen waren, und die Unia auch für das Jahr 2005 Kampfmassnahmen angekündigt hatte. Auch bei den Malern und Gipsern, wo im Vorjahr noch gestreikt worden war, kam ein neuer GAV zustande. Vertreter sowohl der Arbeitgeberverbände als auch der Gewerkschaften gaben zu, dass die bevorstehende Volksabstimmung über die Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf die neuen EU-Mitglieder ein wesentlicher Grund für den Verzicht auf Arbeitskonflikte und lautstarke Kontroversen zwischen den Sozialpartnern gewesen war. Dass diese Sorge nicht unbegründet war, zeigte sich beim Eisenbahnerverband: Hier war die Unzufriedenheit der Mitglieder über den Einsatz von deutschen Lokomotivführern auf dem schweizerischen Netz, die jedoch zu deutschen, das heisst wesentlich tieferen Tariflöhnen angestellt sind, derart gross, dass die Parolenfassung zum Freizügigkeitsabkommen verschoben werden musste, um eine Nein-Parole zu verhindern [7].
Im Juni lancierte der SGB eine Volksinitiative für eine Flexibilisierung des Rentenalters. Sie verlangt, dass Erwerbstätige mit einem Einkommen bis zu 116 000 Fr. ohne Rentenkürzung mit 62 Jahren in Pension gehen können. Die Mehrkosten sollen durch eine Erhöhung der Lohnabgaben gedeckt werden. Unabhängig vom Erfolg dieser Initiative möchte der SGB die AHV längerfristig zu Lasten der 2. und 3. Säule stark ausbauen [8].
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Der SGB konnte seinen Mitgliederbestand im Jahre 2005 um 0,4% auf 384 816 steigern. Zurückzuführen war dieser Zuwachs vor allem auf den Beitritt des musikpädagogischen Verbands (SMPV) mit rund 4700 Mitgliedern. Zum Wachstum beigesteuert haben auch die Beitritte von bisher nicht im SGB vertretenen Organisationen aus dem Bereich der Sozialarbeit. Die Gewerkschaften aus dem Industriesektor, aber auch die traditionellen Personalverbände aus dem Dienstleistungsbereich (Eisenbahnerverband, VPOD etc.) erlitten weitere Verluste, wobei die Unia als grösste Einzelgewerkschaft des SGB ihren Mitgliederbestand mit 203 072 (-0,1%) beinahe halten konnte. Markant zugenommen, nämlich von 23,2% auf 24,1%, hat der Frauenanteil [9].
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Andere Interessenorganisationen
Die AUNS musste im Berichtsjahr zwei Niederlagen in Volksabstimmungen einstecken. Das Volk stimmte sowohl für den Beitritt der Schweiz zum Dublin/Schengen-Abkommen, gegen den die AUNS das Referendum ergriffen hatte, als auch für die Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf die neuen Mitgliedstaaten der EU, welche sie ebenfalls aktiv bekämpft hatte [10].
In Fragen der wirtschaftlichen Liberalisierung und Deregulierung traten in den letzten Jahren mehrmals Interessengegensätze zwischen den Vertreterinnen des Konsumentenschutzes und den Gewerkschaftsfunktionären zu Tage. So etwa bei der Volksabstimmung über das neue Elektrizitätsmarktgesetz im Jahre 2002 oder bei der Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten in grossen Bahnhöfen, welche im Herbst 2005 dem Volk vorgelegt wurde. Beide Vorlagen hatte der Schweizerische Gewerkschaftsbund mit einem Referendum bekämpft. Diese potentiellen Konflikte waren der Hintergrund dafür, dass der SGB sein finanzielles Engagement bei der von ihm 1964 mitbegründeten Stiftung für Konsumentenschutz stark abbaute. Er büsste damit aber auch an Einfluss auf diese von der Sozialdemokratin Sommaruga (BE) präsidierte Organisation ein [11].
An der Delegiertenversammlung des Verkehrs-Clubs der Schweiz (VCS) bestätigte die Mehrheit der Delegierten ihre Unterstützung für die von der Zürcherin Gabi Petri repräsentierte kompromisslose Politik, namentlich bei der Ausübung des Beschwerderechts gegen grosse und verkehrsintensive Bauprojekte. Bei der Erneuerung des Zentralvorstandes wurden vorwiegend Kandidierende dieser Richtung gewählt. Zudem konnten die Sektionen beim Entscheid über den Weiterzug eines Rekurses ihren Einfluss zu Lasten der Verbandszentrale verstärken. Präsidentin blieb freilich die einen gemässigteren Kurs vertretende Nationalrätin Franziska Teuscher (gp, BE) [12].
Die Umweltschutzorganisationen konnten gemeinsam mit dem Bauernverband einen grossen politischen Erfolg feiern. Ihre Volksinitiative für ein Moratorium bei der Verwendung von gentechnisch manipulierten Produkten in der Landwirtschaft fand nicht nur bei den Stimmenden insgesamt, sondern auch in allen Kantonen eine Mehrheit [13]. Der Schweizerische Fischerei-Verband lancierte seinerseits eine Volksinitiative. Diese soll die Kantone verpflichten, das Bundesgesetz über Restwassermengen strikte durchzusetzen und einen Renaturierungsfonds zur Wiederherstellung von natürlichen Wasserläufen einzurichten. Der Fischerei-Verband verzichtete bei der Unterschriftensammlung auf die Hilfe der Umweltschutzverbände, obwohl diese dem Anliegen sehr positiv gegenüberstehen und es in der Volksabstimmung unterstützen wollen. Er begründete den Alleingang mit Berührungsängsten eines Teils seiner Mitglieder gegenüber diesen politisch den Grünen und der SP nahe stehenden Organisationen [14].
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Weiterführende Literatur
Meyer, Max, Wirtschaftsverbände pragmatisch führen, Zürich 2005.
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[1] Siehe dazu u.a. den Direktor des Arbeitgeberverbandes, Peter Hasler, in Ww, 17.3.05. Vgl. auch BZ, 11.1.05 (Kritik von Hasler an der SVP wegen ihrer Ablehnung der bilateralen Abkommen). Zu den Volksabstimmungen siehe oben, Teil I, 2 (Europe: UE).
[2] SGT, 13.10.05.
[3] Economiesuisse: TA, 29.11. und 30.11.05. Arbeitgeberverband: TA, 27.8. und 3.11.05; NZZ, 2.12.05. Siehe auch TA, 2.12.05 (zu Daum) sowie SHZ, 7.12.05.
[4] Siehe dazu oben, Teil I, 4c (Produits alimentaires). Vgl. zur Allianz des SBV mit der Linken auch TA, 29.11.05.
[5] Siehe dazu oben, Teil I, 4c (Politique agricole). Zur Demonstration von 1996 siehe SPJ 1996, S. 25.
[6] Siehe dazu oben, Teil I, 4a (Wettbewerb).
[7] Bund, 25.5.05 (Eisenbahnerverband ); Bund, 27.5.05 und TA, 13.6.05 (Baugewerbe). Siehe auch oben, Teil I, 7a (Kollektive Arbeitsbeziehungen).
[8] Initiative: Presse vom 10.5.05 sowie oben, Teil I, 7c (AHV). AHV-Ausbau: AZ und Bund, 5.4.05.
[9] Bund, 6.4.06.
[10] Siehe dazu oben, Teil I, 2 (Europe: UE) sowie AUNS, 20. Geschäftsbericht, Bern.
[11] SoZ, 12.6.05; TA, 21.9.05.
[12] SoZ, 12.6.05; Presse vom 13.6.05. Zu den Bestrebungen für eine Einschränkung des Verbandsbeschwerderechts siehe oben, Teil I, 6d (Protection des sites et de la nature). Siehe dazu auch SPJ 2004, S. 306 f.
[13] Siehe dazu oben, Teil I, 4c (Produits alimentaires).
[14] TA, 22.1.05. Siehe dazu auch oben, Teil I, 6d (Protection des sites et de la nature).
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