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Parteien, Verbände und Interessengruppen
Verbände und übrige Interessenorganisationen
Sowohl der Vorort als auch der Gewerbeverband unterstützten die Einführung der Mehrwertsteuer. Der Gewerbeverband reichte aber auch eine Volksinitiative zur Abschaffung der direkten Bundessteuer ein. – Die VKMB lancierte eine Volksinitiative für eine neue Agrarpolitik. – Die Gewerkschaften lancierten zusammen mit Linksparteien in mehreren Kantonen Volksinitiativen für Konjunkturförderungsmassnahmen. – Der VCS war geprägt von internen Auseinandersetzungen über die zukünftige politische Strategie.
Unternehmer
Der Vorort übte mehrfach Kritik an den seines Erachtens zu zaghaften Bemühungen des Bundesrates um eine Verbesserung der Rahmenbedingungen des Wirtschaftsstandorts Schweiz. Sowohl in seinem Jahresbericht als auch in einem Brief an alle Parlamentsmitglieder forderte er eine spürbare Deregulierung und warnte vor der Zustimmung zu neuen sozialpolitischen Vorschriften im Rahmen der Swisslex. Im Gegensatz zu früheren Stellungnahmen äusserte er sich nicht mehr ablehnend zu einer Verschärfung des Kartellrechts; die Einführung einer Fusionskontrolle lehnte er freilich kategorisch ab [1]. Mit der vom Volk gutgeheissenen Umstellung von der Warenumsatz- zur Mehrwertsteuer – und damit der Eliminierung der taxe occulte – wurde im Berichtsjahr ein altes Anliegen des Vororts erfüllt. Da im Gegensatz zur Volksabstimmung von 1991 der Systemwechsel nicht mit anderen finanzpolitischen Massnahmen gekoppelt war, setzte sich der Vorort diesmal aktiv für ein Ja ein [2].
Die Schweizerische Handelskammer wählte am 9. September Andreas Leuenberger, Spitzenmanager beim Pharmakonzern Roche, zum neuen Präsidenten des Vororts; er wird am 1. Januar 1994 die Nachfolge des zurücktretenden Pierre Borgeaud antreten [3]. Beim Zentralverband schweizerischer Arbeitgeber-Organisationen trat auf den 1. Juli Peter Hasler die Nachfolge des zurücktretenden Verbandsdirektors Heinz Allenspach an. Der freisinnige Zürcher Nationalrat Allenspach hatte seine Funktion während 23 Jahren ausgeübt [4].
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Anfangs Mai konnte der Schweizerische Gewerbeverband (SGV) seine zusammen mit dem Redressement national lancierte Volksinitiative für die Abschaffung der direkten Bundessteuer bis zum Jahr 2003 einreichen. Das Sammeln der Unterschriften erwies sich nach Auskunft von Verbandsvertretern als wesentlich schwieriger als bei den vom SGV mit Regelmässigkeit lancierten oder mitgetragenen Referenden. Ein Grund dafür bestand sicher auch darin, dass die bürgerlichen Bundesratsparteien das Vorhaben nicht unterstützten [5].
Obwohl mit dem Wirte- und dem Coiffeurverband zwei Organisationen des SGV an vorderster Front gegen den Wechsel von der Warenumsatz- zur Mehrwertsteuer kämpften, gab der Dachverband die Ja-Parole zu diesem Systemwechsel aus; eine Satzerhöhung auf 6,5% lehnte er jedoch ab [6].
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Landwirtschaft
Die im Schweizerischen Bauernverband (SBV) zusammengeschlossenen Organisationen starteten eine Kampagne zur Verbesserung des Ansehens der Bauern in der Öffentlichkeit. Grossen Erfolg beim Publikum hatte insbesondere die Einladung zu einem Morgenessen am 1. August auf einem Bauernhof [7]. Gegen Jahresende legte eine Arbeitsgruppe des SBV ihren Bericht über eine Reorganisation des bäuerlichen Verbandswesens vor. Die auf eine Straffung und örtliche Konzentration hinzielenden Vorschläge wurden in eine verbandsinterne Vernehmlassung gegeben [8].
Der SBV kritisierte zwar die landwirtschaftspolitischen Ergebnisse der Uruguay-Runde des GATT, welche einen Verzicht auf nichttarifäre Importrestriktionen und einen Abbau des Zollschutzes und der Exportsubventionen bringen werden. Seine Führer versuchten die Basis aber zu überzeugen, dass das Exportland Schweiz ohne ein Mitmachen beim GATT in Zukunft seine Landwirtschaftspolitik nicht mehr würde finanzieren können. Sie äusserten sich deshalb dahingehend, dass der SBV — bei ausreichender Kompensation der Einkommensausfälle vor allem durch Direktzahlungen — das Referendum wohl nicht ergreifen werde [9]. Unter dem Namen "Neue Bauernkoordination Schweiz" machte gegen Jahresende eine grundsätzlich gegen die GATT-Beschlüsse opponierende Organisation auf sich aufmerksam. Diese führte unter Beteiligung von Aktivisten aus den USA und aus Deutschland in der Ostschweiz eine erste öffentliche Versammlung durch [10].
Die Vereinigung zum Schutz der kleinen und mittleren Bauern (VKMB) bestätigte am 6. Februar mit sehr deutlichem Mehr ihren Co-Präsidenten Ruedi Baumann in seinem Amt. Der grüne Berner Nationalrat war aus den eigenen Reihen wegen seines Engagements für den EWR und für eine Okologisierung der Landwirtschaft unter Beschuss geraten. Die Delegierten der VKMB beschlossen an dieser Versammlung auch die sofortige Lancierung einer neuen Volksinitiative "für preisgünstige Nahrung und ein gerechtes bäuerliches Einkommen“, mit welcher die Agrarpolitik grundlegend neu ausgerichtet werden soll : Für naturnah und tiergerecht produzierende Landwirte soll der Staat mit Direktzahlungen ein ausreichendes Einkommen garantieren, während im Gegenzug alle Agrarschutzmassnahmen und die Finanzierung der Überschussverwertung aufgehoben werden. Im Gegensatz zu der 1989 nur knapp vom Volk abgelehnten Volksinitiative der VKMB verzichtete diese bei ihrem neuen Begehren auf die Unterstützung durch die Detailhandelskette Denner AG, was letztere aber nicht hinderte, Zeitungsinserate zugunsten der Initiative zu publizieren [11]. Gegen den Beschluss des Parlaments, dass landwirtschaftliche Verbände von Nichtmitgliedern Solidarbeiträge zur Förderung des Absatzes der Produktion erheben können, lancierte die VKMB das Referendum; auch in diesem Fall fand sie dabei Unterstützung durch die Denner AG [12].
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Arbeitnehmer
Die anhaltende Wirtschaftskrise und auch die Deregulierungs- und Flexibilisierungsbestrebungen der Arbeitgeber veranlassten die Gewerkschaften, ihre Mitglieder vermehrt zu Demonstrationen gegen die Arbeitslosigkeit und gegen eine Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse aufzurufen. In Bern wurden im Februar und im März zwei nationale Kundgebungen durchgeführt, an denen sich 8000 resp. 15 000 Personen beteiligten. Die Kundgebungen zum 1. Mai waren aber nicht besser besucht als in den vergangenen Jahren [13].
Als wichtigste Rezepte gegen die Arbeitslosigkeit pries der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) kurzfristig staatliche Konjunkturspritzen (wie zum Beispiel das vom Parlament beschlossene Impulsprogramm) und langfristig eine ausgebaute Weiterbildung sowie radikale Arbeitszeitverkürzungen an. Bemerkenswert war, dass bei letzteren die Gewerkschaftsspitze auch die Inkaufnahme eines Reallohnabbaus – zumindest für mittlere und obere Lohnkategorien – nicht ausschloss [14]. In der Realität mussten die Gewerkschaften allerdings Verträge akzeptieren, welche in eine andere Richtung zeigten. Die Arbeitnehmerorganisationen der Maschinenindustrie stimmten, als Gegenleistung für Verbesserungen in anderen Bereichen (Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs, Bildungsurlaub etc.), der Aufnahme eines sogenannten Krisenartikels in den Gesamtarbeitsvertrag zu. Dieser sieht vor, dass in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckende Unternehmen mit dem Einverständnis der Belegschaft die Arbeitszeit vorübergehend auf maximal 45 Wochenstunden bei gleichem Lohn erhöhen können [15].
Für die Realisierung des kurzfristigen Ziels der Konjunkturbelebung nach keynesianischem Muster lancierten die Gewerkschaften zusammen mit linken Parteien und Organisationen in einer Reihe von Kantonen Volksinitiativen. Die darin vom Staat verlangten zusätzlichen Aktivitäten sollen mit einem Steuerzuschlag für die oberen Einkommensklassen finanziert werden [16].
Der SGB reichte zusammen mit der SP das Referendum gegen den dringlichen Bundesbeschluss zur Revision der Arbeitslosenversicherung ein. In der Volksabstimmung erlitt er aber eine herbe Niederlage, indem nur knapp 30% der Stimmenden seine Opposition unterstützten. Gemäss Vox-Analyse sprachen sich auch Gewerkschaftsmitglieder mit deutlichem Mehr für die vom SGB bekämpften Neuerungen aus [17]. Nicht ganz unumstritten war die vom SGB herausgegebene Ja-Parole zur Ersetzung der Umsatz- durch die Mehrwertsteuer; insbesondere von welscher Seite wurde der Systemwechsel als "Geschenk" an die Unternehmer kritisiert [18].
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Die im SGB zusammengeschlossenen Verbände verloren rund 5500 Mitglieder (–1,4%) und zählten somit zu Jahresende noch 431 052 Organisierte. Ohne den Beitritt des Schweizerischen Musikerverbandes mit seinen fast 2000 Mitgliedern wäre der Rückgang noch deutlicher ausgefallen. Die stärksten Einbussen erlitten die beiden grössten Verbände: die GBI und der SMUV mit 4180 resp. 2876 Personen. Die Gewerkschaften der öffentlichen Dienste und der Verwaltung – Bereiche, die ebenfalls vom Stellenabbau betroffen waren – konnten hingegen ihren Bestand halten und zum Teil sogar noch leicht vergrössern [19].
Die Delegiertenversammlung des rund 73 000 Mitglieder zählenden Kaufmännischen Verbands (SKV) wählte den Berner Nationalrat Tschäppät (sp) zum neuen Präsidenten [20].
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Andere Interessenorganisationen
Der politische Kurs des auf rund 125 000 Mitglieder angewachsenen Verkehrsclubs der Schweiz (VCS) blieb in eher unruhigen Gewässern. Bei der Volksabstimmung über die Treibstoffzollerhöhung musste er sich für eine Stimmfreigabe entscheiden, da er zwar die zusätzlichen Einnahmen für die Strassenbaukasse nicht gutheissen konnte, andererseits aber auch nicht zusammen mit dem ACS und der Auto-Partei für eine Ablehnung kämpfen wollte [21]. Die seit längerer Zeit ausgetragene Auseinandersetzung zwischen einer eher pragmatischen und einer mehr fundamentalistischen Linie konnte noch nicht beigelegt werden. Zusätzlich war man sich auch uneinig über das Ausmass der kommerziellen Dienstleistungen, welche der VCS seinen Mitgliedern anbieten soll. Ein Zeichen setzte der bisherige Zentralsekretär Markus Loosli, der wegen der seiner Ansicht nach mangelnden Diskussions- und Konfliktkultur in den Leitungsgremien im Mai von seinem Amt zurücktrat. Im Juni kam es bei den Wahlen für den Zentralvorstand — die nicht zuletzt wegen Rücktritten infolge der erwähnten Konflikte erforderlich geworden waren — zu einem Eklat: Der Kandidat der mitgliederstärksten Sektion Zürich, Beat Schweingruber, der als Gründungsmitglied seit langer Zeit auf verschiedenen Stufen im Verband aktiv war, wurde von der Delegiertenversammlung nicht gewählt [22]. Erfolgreich war der VCS bei der Unterschriftensammlung für das Referendum gegen die vom Parlament beschlossene Revision des Luftfahrtgesetzes [23].
Die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) erlitt, nach dem fulminanten Erfolg bei der Unterschriftensammlung im Vorjahr für die Volksinitiative gegen den Kauf von F/A-18-Flugzeugen, eine bittere Enttäuschung bei der Volksabstimmung, wo sie nur bei 42% der Stimmenden Unterstützung fand. Die Mitgliederzahl konnte zwar durch die Aktion um rund 10 000 auf 35 000 gesteigert werden, der Grossteil dieser Neumitglieder war aber bereits während der Unterschriftensammlung und nicht erst im Verlauf der Abstimmungskampagne beigetreten. Nach der Abstimmung war eine gewisse Ratlosigkeit über die zukünftige Strategie nicht zu verkennen. An einer Vollversammlung im September beschloss die GSoA, von weiteren Volksinitiativen für den Moment abzusehen und die Kräfte auf friedenspolitische Aktivitäten im ehemaligen Jugoslawien zu konzentrieren [24].
Der Hauseigentümerverband konnte seine im Vorjahr lancierte Volksinitiative "Wohneigentum für alle" im Oktober mit rund 160 000 Unterschriften einreichen. Bereits vorsorglich mit dem Referendum gedroht hat er gegen die vom Bundesrat im Rahmen einer Bodenrechtsreform in Aussicht gestellte Einführung eines Vorkaufsrechtes für Mieter und Gemeinden [25].
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Weiterführende Literatur
M. Giugni / F. Passy, «Une aporie de la démocratie: le blocage des politiques publiques par les nouveaux mouvements sociaux», in SJPW, 33/1993, S. 165 ff.
M. Giugni / F. Passy, «Etat et nouveaux mouvements sociaux, comparaison de deux cas contrastés: la France et la Suisse», in Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, 19/1993, S. 545 ff.
H. Zwicky, «Umweltaktivierung in den 80er Jahren», in SJPW, 33/1993, S. 185 ff.
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[1] SHIV (Vorort), Jahresbericht 1992, Zürich 1993; NZZ und JdG, 6.5.93. Siehe dazu auch oben, Teil I, 4a (Einleitung, Wettbewerbspolitik).
[2] Vgl. dazu oben, Teil I, 5 (Bundesfinanzordnung). Vgl. auch SPJ 1991, S. 357.
[3] NZZ, 14.7. und 11.9.93; SGT, 10.9.93. Zu Borgeaud siehe auch NZZ 31.12.93.
[4] NZZ, 30.6.93. Zu Hasler siehe auch SHZ, 19.8.93; zum Amtsantritt Allenspachs vgl. SPJ 1969, S. 172.
[5] Siehe dazu oben, Teil I, 5 (Bundesfinanzordnung). Vgl. SoZ, 8.8.93 sowie SPJ 1992, S. 351.
[6] AT, 14.10.93.
[7] NZZ, 28.7.93; BZ, 29.7.93; Presse vom 2.8.93; Blick, 10.8.93.
[8] BZ, 22.12.93.
[9] Bund, 19.11.93. Vgl. dazu oben, Teil I, 2 (Organisations internationales) und 4c (Politique agricole).
[10] TA, 27.12.93 (Leserbrief).
[11] TA, 8.2.93. Vgl. BZ, 4.2.93 sowie auch oben, Teil I, 4c (Politique agricole).
[12] SGT, 29.9.93; NZZ, 18.10.93; Gnueg Heu dune!, 1993, Nr. 4 und 5. Siehe auch oben, Teil I, 4c (Politique agricole).
[13] Bund, 22.2.93; Presse vom 29.3.93. Zu den 1. Mai-Kundgebungen siehe Presse vom 3.5.93.
[14] Presse vom 24.3.93; Ww, 25.3.93; siehe dazu auch oben, Teil I, 7a (Arbeitsmarkt).
[15] Krisenartikel: BZ, 28.6.93; siehe dazu oben, Teil I, 7a (Gesamtarbeitsverträge) sowie die gewerkschaftliche Kritik in Diskussion, 1993, Nr. 21, S. 20 f.
[16] WoZ, 26.3.93. Siehe zu den Initiativen oben, Teil II, 3a.
[17] Vgl. dazu oben, Teil I, 7c (Arbeitslosenversicherung) sowie Vox, Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 26. September 1993, Genf 1993.
[18] NZZ, 7.9. und 13.11.93; BZ, 7.9.93. Vgl. oben, Teil I, 5 (Bundesfinanzordnung).
[19] NZZ, 5.3.94. Vgl. auch SPJ 1992, S. 354 f.
[20] NZZ und Bund, 19.6.93.
[21] NZZ, 23.1.93. Vgl. oben, Teil I, 5 (Indirekte Steuern).
[22] BaZ, 21.4.93 und VCS-Zeitung, 1993, Nr. 6, S. 22 f. (Loosli); TA, 14.6.93 und VCS-Zeitung, 1993, Nr. 7, S. 2 und 4 f. (Schweingruber). Vgl. auch Ww, 25.3. und 17.6.93; VCS-Zeitung, 1993, Nr. 5, S. 10 f. (Replik) sowie NZZ, 23.7.93. Siehe auch SPJ 1992, S. 355.
[23] VCS-Zeitung, 1993, Nr. 11, S. 4. Vgl. dazu oben, Teil I, 6b (Trafic aérien).
[24] TA, 11.6. und 13.9.93. Vgl. auch GSoA-Zitig, 1993, Nr. 52 und 53 sowie SPJ 1992, S. 355. Zur Abstimmung siehe oben, Teil I, 3 (Grundsatzfragen, Rüstung).
[25] Initiative: siehe oben, Teil I, 6c (Wohnungsbau) sowie SPJ 1992, S. 355. Referendum: Bund, 28.6.93 sowie oben, Teil I, 6c (Bodenrecht).
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