Am 15. März 2020 stand der «Super-Sunday» im Kanton Thurgau an, wie er von den Medien bezeichnet wurde: Zum ersten Mal fanden die Regierungsrats- und die Grossratswahlen am selben Tag statt. Auf die 130 Sitze des Grossen Rates bewarben sich insgesamt 988 Kandidierende, was einem Plus von 74 im Vergleich mit den Wahlen 2016 entsprach. Mit 363 weiblichen Kandidierenden war der Frauenanteil um 5.3 Prozentpunkte auf 36.7 Prozent gestiegen. Von den Kantonsrätinnen und Kantonsräten der laufenden Amtszeit traten 118 zur Wiederwahl an, darunter auch die beiden amtsältesten Mitglieder Max Brunner (TG, svp) und Max Vögeli (TG, fdp), welche bereits seit 1992 im Rat sassen. In den fünf Thurgauer Bezirken wurden insgesamt 51 Wahllisten eingereicht, wobei im ganzen Kanton 13 verschiedene Listen vorlagen.
Mit 44 Sitzen im Grossen Rat war die SVP bisher die mit Abstand stärkste Partei in der Thurgauer Kantonslegislative, gefolgt von der FDP und der CVP mit je 20 Sitzen, der SP mit 17 Sitzen, den Grünen mit 9 Sitzen, der GLP mit 7 Sitzen, der EDU und EVP mit jeweils 5 und schliesslich der BDP mit 3 Sitzen. Im Februar prognostizierte die Thurgauer Zeitung (TZ) basierend auf den eidgenössischen Wahlen im Oktober 2019, dass die SVP wohl mit Verlusten rechnen müsse. Umgekehrt stellte sie die Frage in den Raum, ob die Grüne Welle auch im Ostschweizer Kanton Eingang finden werde.
«Von der grünen Welle zum Tsunami», betitelte das Thurgauer Tagblatt nach dem Wahlsonntag den Wahlerfolg der Grünen. Die Partei konnte auf Kosten der SP stark an Wählerstärke (+3.8 PP; neu: 11.2%) zulegen und so einen Gewinn von sechs Sitzen verbuchen. Sie kam damit neu auf 15 Mandate im Grossen Rat. Mit Blick auf die Sitzzahl reihte sie sich damit künftig sogar vor der SP ein. Ihre Stärke ausbauen konnten auch die Grünliberalen; im Vergleich zu 2016 legten sie um 5.2 Prozentpunkte auf 7.5 Prozent zu, was sich in einen Sitzgewinn und neu 8 Parlamentssitze übersetzte. Im Nachgang der Wahlen zeigte sich der Parteipräsident der GLP allerdings enttäuscht, weil das Ziel von 10 Sitzen im Parlament verfehlt worden war. Auch die EVP konnte zulegen: Mit einem zusätzlichen Sitz verfügte sie künftig über 6 Mandate – trotz leichten Verlusts bei der Wählerstärke, die neu 4.8 Prozent betrug (-0.2 PP). Die SVP konnte entgegen den Prognosen ihre Stärke weitgehend halten und büsste lediglich 0.2 Prozentpunkte ein. Sie kam somit noch immer auf eine Wählerstärke von 32.4 Prozent. Trotz der minimalen Abnahme im Wähleranteil gewann auch sie zwei Sitze hinzu und konnte dadurch ihre Vormacht mit neu 46 Sitzen noch weiter ausbauen. Künftig wird die SVP also mehr als einen Drittel der Sitze auf sich vereinen.
Grosse Verliererin der Parlamentswahlen 2020 war die SP, welche unter die Räder des «grünen Vormarsches» gekommen war und drei Sitze eingebüsste, so das Fazit der TZ. Sie kam neu auf eine Wählerstärke von 11.6 Prozent (-1.5 PP) und wird in der kommenden Legislatur noch 14 Grossrätinnen und Grossräte stellen. Sowohl die CVP als auch die FDP verloren zwei Mandate im Grossen Rat und kamen neu auf je 18 Sitze. Während die FDP in Bezug auf den Wähleranteil mit 13.7 Prozent weiterhin an zweiter Stelle steht (-2.0 PP), konnte die CVP ihren Anteil um 0.2 PP leicht auf 13.6 Prozent erhöhen und blieb somit in Bezug auf die Wählerstärke auf Platz drei. Die EDU konnte keine Sitzgewinne verzeichnen und wird auch künftig fünf Mandate aufweisen (-0.2 PP; neu: 4.4%). Ein bitteres Ende nahm der Wahlsonntag schliesslich für die BDP, welche drei Sitze verlor und in der kommenden Legislatur nicht mehr im Grossen Rat vertreten sein wird. Die GLP verlor somit ihre Fraktionspartnerin, werde allerdings künftig eine eigene Fraktion bilden, so ihr Parteipräsident im Gespräch mit der TZ.
Positiv ging der Wahlsonntag für die Frauen aus: Das Parlament werde in der kommenden Legislatur so weiblich sein wie noch nie, schrieb die TZ. 41 Politikerinnen schafften die Wahl ins Kantonsparlament, womit ihr Anteil neu bei 31.5 Prozent lag (2016: 26%).
Da die Wahlbeteiligung bei den Thurgauer Wahlen 2016 mit 30.4 Prozent den schweizweiten Minusrekord erreicht hatte, war der «Super-Sonntag» auch mit der Hoffnung eingeführt worden, für eine grössere Partizipation zu sorgen. Der gewünschte Effekt trat bei den Wahlen 2020 allerdings nicht ein: Mit einem Plus von 2.6 Prozentpunkten stieg die Beteiligung nur leicht auf 32.6 Prozent an. Auch im Vergleich zu den Nationalratswahlen (42.4%) blieb sie also auf tiefem Niveau.
Thematisiert wurde in der Folge unter anderem der Effekt des Panaschierens: Am stärksten vom Panaschierstimmenaustausch profitiert hatte die SVP, da sie überdurchschnittlich viele Panaschierstimmen erhielt, die Wählenden ihrer eigenen Listen aber nur wenige Stimmen an andere Parteien abgaben. Während sich einerseits ein starker Strom von der FDP zur SVP zeigte, wählten zugleich auch viele hauptsächlich CVP-Wählende einzelne Kandidierende der FDP, wie die Auswertungen der Dienststelle für Statistik ergaben. Eine enge Panaschierbeziehung bestand ausserdem zwischen den Sozialdemokraten und den Grünen.
Für Schlagzeilen sorgte im Nachgang der Kantonsratswahlen 2020 der Vorwurf von Wahlbetrug. Nachdem die GLP, welche sich um einen Sitz betrogen fühlte, Beschwerde eingereicht hatte, brachte die Nachzählung im Wahlbüro der Stadt Frauenfeld Unregelmässigkeiten ans Licht. Nach weitergehenden Abklärungen zeigte sich schliesslich, dass eine Diskrepanz zwischen den vorhandenen Wahlzetteln und der am Wahlsonntag festgehaltenen Zahl für GLP und SVP vorlag. Es könne demnach nicht ausgeschlossen werden, dass rund hundert unveränderte Wahlzettel der GLP vernichtet und mit druckfrischen Wahlzetteln der SVP ersetzt und zusätzlich weitere hundert Wahlzettel der GLP auf den Stapel der SVP gelegt worden seien, lautete das Fazit der Thurgauer Staatskanzlei. Aufgrund der am Wahlsonntag festgehaltenen Zahlen stünde der GLP ein zusätzlicher Sitz auf Kosten der SVP zu, weshalb Severine Hänni (TG, svp) um ihren neu erlangten Sitz zittern musste und Marco Rüegg (TG, glp) noch auf einen Sitz hoffen konnte. Knapp zwei Wochen nach dem Wahlsonntag reichte die Staatskanzlei schliesslich Strafanzeige wegen Verdachts auf Wahlfälschung gegen Unbekannt ein. Anlässlich der ersten Sitzung des neuen Kantonsparlaments am 20. Mai 2020 hätte eigentlich die Wahl genehmigt werden sollen. Da sich der Verdacht inzwischen aber erhärtet hatte, genehmigte der Grosse Rat lediglich 129 von 130 Kantonsrätinnen und Kantonsräten. Ein Ratsmitglied, dessen Wahl bestritten sei, dürfe nicht an den Ratsverhandlungen teilnehmen, der umstrittene Stuhl müsse deshalb bis nach Vorliegen der Strafuntersuchungen leer bleiben, begründete das Büro des Grossen Rats den Entscheid. Ende Juni 2020 beantragte das Büro dem Parlament schliesslich, den noch nicht genehmigten Sitz der GLP und somit Marco Rüegg zuzusprechen, da der Wahlbetrug in der Zwischenzeit kriminaltechnisch erwiesen worden sei und sich das Strafverfahren seit Mitte Juni gegen eine namentlich bekannte Person richte. Der Grosse Rat stimmte diesem Antrag am 1. Juli 2020 zu, vereidigte Rüegg nachträglich und korrigierte so den Wahlbetrug der Wahlen vom 15. März. Die GLP stellte somit neu neun Kantonsrätinnen und Kantonsräte, während die Zahl der Mandate bei der SVP auf 45 sank.