Differenzen in der SP führen zum Umsturz an der Spitze

Ende Oktober traf sich die Parteileitung zu einer ersten Nachanalyse der eidgenössischen Wahlen. Grundsätzlich zufrieden zeigte man sich über das eigene Resultat, das bei einem leicht verbesserten Wähleranteil den Verlust von drei Nationalratssitzen gebracht hatte. In Zürich war Parteipräsidentin Koch mit einem Spitzenresultat neu in den Nationalrat gewählt worden. In verschiedenen Medien wurde der SP der Vorwurf gemacht, sie hätte einen wenig attraktiven Wahlkampf geführt. Kritische Stimmen ertönten auch aus den eigenen Reihen. Nationalrat Hämmerle (GR) sprach vom Scheitern der Wahlkampf-Leitung und Pressechef Peyer, der seinen Abgang bereits angekündigt hatte, griff die Parteiführung direkt an: Diese habe vor lauter Grundsatzdiskussionen keine Themen mehr in der Hand. Es herrsche ein Klima des Misstrauens innerhalb der Parteileitung und Kritik sei unerwünscht. Peyer wurde tags darauf von der Geschäftsleitung suspendiert. Ursula Koch bekräftigte an einer Pressekonferenz, sie habe keinerlei Zweifel, dass die Basis der Partei hinter der Parteipräsidentin stehe. Sie fühle sich nach der Aussprache mit der Geschäftsleitung bestärkt. Gerüchte um einen inszenierten Sturzversuch der Präsidentin wurden von Peyer zurückgewiesen und Tage später auch von Hämmerle bestritten.

Im Januar wählte der Zentralvorstand die Bernerin Ursula Dubois zur Zentralsekretärin und Pressesprecherin. Ihr Vorgänger, Peter Peyer, war vor Jahresende aus seinem Amt suspendiert worden, nachdem er die Parteileitung öffentlich kritisiert hatte.

Im Februar zog sich die SP-Geschäftsleitung zu einer Retraite nach Muri bei Bern zurück und beriet über die politischen Schwerpunkte der kommenden Legislatur aber auch über die parteiinternen Probleme. Die Partei verabschiedete ein Strategiepapier: Der „extreme“ Steuerföderalismus müsse überwunden, die Sozialversicherungen den veränderten Lebensbedingungen angepasst, KMU’s mit günstigem Risikokapital unter die Arme gegriffen werden und ein EU-Beitritt dürfe nicht aus den Augen verloren werden. Parteipräsidentin Koch und Generalsekretär Jean-François Steiert demonstrierten im Anschluss an die Gespräche Einigkeit. Aus internen Dokumenten ging jedoch hervor, dass der Geschäftsleitung ein viermonatiges Ultimatum gesetzt worden war. Bis zum Juni sollten die internen Differenzen beigelegt werden. Eine ganze Kette an Rücktrittsvermutungen und Rücktrittsforderungen machte die darauffolgenden Tage die Runde. Steiert brach als erster das Eis und erklärte, er stünde keiner Lösung im Wege. Koch beteuerte dagegen, sie werde auf keinen Fall zurücktreten.

Ende Februar traf sich die Fraktion ebenfalls zur Krisenberatung. Die Parlamentarier setzten mit Koch (ZH), Fraktionspräsident Cavalli (TI) und der Genfer Ständerätin Brunner eine dreiköpfige Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung von Strukturreformen ein. Versuche, Koch zu Fall zu bringen, wurden abgewiesen. Koch gab sich optimistisch und erklärte, dass sie unter den gegebenen Umständen am Parteitag vom Oktober wieder kandidieren wolle.

Die SP befand sich im vergangenen Jahr in einer ihrer schwersten finanziellen Krisen seit Bestehen. Zum Jahresbeginn gab ihre Finanzdelegation bekannt, dass die Partei aufgrund von Zahlungsrückständen grosser Kantonalsektionen in Zahlungsnot stecke. Die Sektionen schuldeten der Parteizentrale aus dem Vorjahr noch rund eine Million Franken. Allein aus Bern und Zürich standen Zahlungen über 700'000 Franken aus. Der Leiter der Finanzdelegation, Edwin Knuchel, erklärte, der Mitgliederrückgang und die Überalterung unter der Mitgliedschaft hätten Mindereinnahmen bei den meist progressiv nach Einkommen festgelegten Mitgliederbeiträgen zur Folge. Parteisekretär Jean-Philippe Jeannerat warnte, dass das Eigenkapital der Partei bis 2001 aufgebraucht sein werde, sollte keine nennenswerte Besserung eintreten. Als Sofortmassnahme wurde ein Fundraising-Konzept ausgearbeitet. Ende März versandte die Parteileitung 150'000 persönliche Briefe an ausgewählte Adressaten mit dem Aufruf, eine nicht näher definierte Kampagne „Soziale Schweiz“ mittels Spenden und Leserbriefen tatkräftig zu unterstützen.

Mitte April trat Ursula Koch aus gesundheitlichen Gründen mit sofortiger Wirkung als Parteipräsidentin und Nationalrätin zurück. Dies teilte sie dem SP-Parteivorstand in einem Brief mit und entzog sich sodann der Öffentlichkeit. Vizepräsident Pierre Aeby (FR) übernahm interimistisch das Präsidium.

Anfangs Mai brachte die Dreierkommission für die Strukturreform, in welcher Bundesrätin Ruth Dreifuss Ursula Koch ersetzt hatte, ihre Arbeit zum Abschluss. Sie schlug vor, die Führungsgremien (Geschäftsleitung und Parteivorstand) stark zu verkleinern und die Basis mit der Einführung einer Delegiertenversammlung (zusätzlich zum bisherigen Parteitag) konsequenter miteinzubeziehen. Als chancenreichste Nachfolgerin für das Parteipräsidium wurde inzwischen Ständerätin Brunner gehandelt. Generalsekretär Steiert trat noch im Mai aus seinem Amt zurück. Mit seinem Rücktritt wolle er die Personaldebatte entkrampfen und seiner Partei die Rückkehr zu den Sachthemen erleichtern.

Ende Mai bereinigte der SP-Vorstand die Anträge zur internen Strukturreform. Auf eine Streichung der Sitze von SP-Frauen und Jungsozialisten in der Geschäftsleitung wurde verzichtet, nachdem die Betroffenen harsche Kritik geübt hatten. Die Fraktion ist jedoch nur noch mit ihrem Präsidenten darin vertreten. Dieses Leitungsgremium wurde von bislang 18 auf neun Mitglieder halbiert. Der Vorstand hiess ausserdem die Einsetzung einer Delegiertenversammlungen gut. Im September beschloss dann der Parteivorstand, der mit seinen gut 100 Mitgliedern bisher als eine Art Mini- Parteiparlament wichtige Funktionen der neuen Delegiertenversammlung wahrgenommen hatte (z.B. Parolenfassung zu eidgenössischen Abstimmungen) sich abzuschaffen. Neu wurde eine ähnlich wie der alte Vorstand zusammengesetzte Koordinationskommission geschaffen, welche vor allem die Zusammenarbeit zwischen den Kantonalsektionen und der nationalen Partei verbessern soll.

An der Vorstandsitzung von Ende Mai hatte sich Christiane Brunner bereit erklärt, im Oktober den SP-Vorsitz zu übernehmen. Mitte Juli äusserten Nationalrat Hans-Jürg Fehr (SH) und seine Ratskollegin Christine Goll (ZH) Interesse am Vizepräsidium der Partei. Für das Präsidialamt war Brunner noch keine ernsthafte Konkurrenz erwachsen. Allein Hildegard Fässler (SG) stand lange im Gespräch, verzichtete aber Mitte August auf eine Kampfkandidatur. In der Vorstandssitzung vom September wurde das Dreierteam nominiert.

Erwartungsgemäss wurden Brunner, Goll und Fehr Mitte Oktober von den Delegierten als Dreierteam ins Parteipräsidium gewählt. Die neue Parteipräsidentin Brunner bekannte sich in ihrer Antrittsrede zum linken Kurs der SP. Es sei nicht die Aufgabe ihrer Partei, die Defizite in der politischen Mitte auszugleichen. Auch die Strukturreform der Partei wurde klar genehmigt. In die redimensionierte Geschäftleitung neu aufgenommen wurden der Berner Grossrat Michael Kaufmann, Rudolf Rechsteiner (BS) und der Waadtländer Jungsozialist Philipp Müller.

Im Dezember wurde der Urner Reto Gamma vom Parteivorstand zum neuen Generalsekretär gewählt. Der Journalist Gamma hatte das Amt im Herbst interimistisch vom zurückgetretenen Steiert übernommen, aber lange auf eine eigene Kandidatur verzichtet. Der Favorit von Präsidentin Brunner setzte sich in der Ausmarchung gegen Peter Bosshard, Sekretär bei der Erklärung von Bern, durch.

Hans-Jürg Fehr zum Nachfolger von Parteipräsidentin Christiane Brunner gwählt

Im November wählte die Gewerkschaft VPOD SP-Vizepräsidentin Christine Goll (ZH) zu ihrer neuen Präsidentin; Goll stellte ihr Amt in der SP auf Ende Jahr zur Verfügung. Ende Dezember gab Christiane Brunner bekannt, sie werde am 6. März 2004 als Parteipräsidentin zurücktreten. Sie hatte die Leitung der SP im Herbst 2000 übernommen, als die Partei nach dem Rücktritt von Ursula Koch heillos zerstritten war. Als aussichtsreichster Anwärter auf ihre Nachfolge galt SP-Vizepräsident Hans-Jürg Fehr (SH), Chancen wurden auch Preisüberwacher Werner Marti (GL) eingeräumt. Die Berner Nationalrätin Ursula Wyss wurde als Kandidatin fürs Vizepräsidium gehandelt.

Ende Januar kündigte der Glarner Nationalrat Werner Marti seinen Rücktritt als Preisüberwacher an. Gleichzeitig gab er seine Kandidatur für das SP-Präsidium bekannt, für das sich bisher einzig der Schaffhauser Nationalrat Hans-Jürg Fehr beworben hatte.

An ihrem ausserordentlichen Parteitag in Basel bestimmten die Sozialdemokraten den Schaffhauser Nationalrat Hans-Jürg Fehr zum Nachfolger von Parteipräsidentin Christiane Brunner (GE). Während der als kämpferisch geltende Glarner Werner Marti eher verkrampft und uninspiriert wirkte, vermochte Fehr die Delegierten mit einer beherzten Rede und sachpolitisch engagiertem, in eigener Sache bescheidenem und parteiintern integrativem Auftreten zu überzeugen. Auf Fehr entfielen 531 Stimmen, auf Marti 360. Zu Vizepräsidenten wurden der Gewerkschafter Pierre-Yves Maillard (VD) und Ursula Wyss (BE) gewählt. Im Hinblick auf die Abstimmungen vom Mai beschlossen die Sozialdemokraten ohne Gegenstimme die Ablehnung der 11. AHV-Revision und des Steuerpakets – für den Abstimmungskampf hatte die Geschäftsleitung einen Kredit von 500'000 Fr. gesprochen. Die Mehrwertsteuererhöhung wurde mit wenigen Gegenstimmen und Enthaltungen zur Annahme empfohlen. Nach rund dreistündiger Debatte, in der Bundesrätin Micheline Calmy-Rey ihre Partei zu einer in Sozialfragen forscheren Oppositionspolitik ermunterte, da Moritz Leuenberger und sie für diese Dossiers nicht zuständig seien, beschlossen die Delegierten einen pointierteren Linkskurs – der Antrag der Jusos, aus dem Bundesrat auszutreten, blieb chancenlos.

SP wählt Levrat als neuen Parteipräsidenten

Für Fehrs Nachfolge favorisiert wurden die Nationalräte Christian Levrat (FR), Ursula Wyss (BE) und Jacqueline Fehr (ZH). Levrat, Chef der Gewerkschaft Kommunikation, vertrat die Ansicht, die Mutterpartei solle vermehrt dem klassisch linken Kurs der westschweizerischen SP-Kantonalparteien folgen und vor allem auf das Thema der wirtschaftlichen und sozialen Gerechtigkeit setzen. Er nannte als seine Ziele für die SP, sollte er zum Parteipräsidenten gewählt werden, eine Belebung der internen Debatten, eine professionellere Kampagnenführung und eine grössere Präsenz auf der Strasse. Da alle anderen aussichtsreichen Kandidatinnen und Kandidaten für das Parteipräsidium verzichteten, blieb Levrat schliesslich der einzige Anwärter auf das Amt.

An einem ausserordentlichen Parteitag am 1. März wählten die SP-Delegierten den Freiburger Nationalrat Christian Levrat einstimmig zum neuen Parteipräsidenten. Er war der einzige Kandidat für das Amt. Auf einen Vorschlag Levrats hin beschloss die SP, ihr Parteipräsidium zu erweitern. Neben der Bisherigen Silvia Schenker (BS) wurden Pascale Bruderer (AG), Jacqueline Fehr (ZH), Marina Carobbio (TI) und Stéphane Rossini (VS) zu neuen VizepräsidentInnen der Partei gewählt. Pierre-Yves Maillard trat als Vizepräsident zurück. Der abtretende Parteipräsident Hans-Jürg Fehr hatte sich im Vorfeld geäussert, dass die bestehende SP-Geschäftsleitung als Organ für die operative Führung nicht mehr geeignet sei. Die 14-köpfige Geschäftsleitung solle sich vermehrt auf die strategische Planung konzentrieren, während ein erweitertes Präsidium die operative Leitung übernehmen solle. Levrat äusserte in seiner Rede die Überzeugung, dass die SP sich wieder stärker als soziale Bewegung verstehen müsse, um erfolgreich zu sein. Thematisch solle sich die SP auf wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit konzentrieren. Als Ziel nannte Levrat einen Wahlsieg bei den eidgenössischen Wahlen 2011. Die SP-Delegierten beschlossen die Nein-Parole zur Einbürgerungsinitiative der SVP, zur Initiative „Volkssouveränität statt Behördenpropaganda“ und zum Gesundheitsartikel.

Levrat bleibt trotz Wahl in den Ständerat Parteipräsident

Bei Ersatzwahlen für den Ständerat im Kanton Freiburg, die aufgrund der Wahl von Alain Berset in den Bundesrat nötig geworden waren, obsiegte Christian Levrat, der Präsident der SP, deutlich über den Herausforderer der FDP, Jacques Bourgois. Für Kritik bei den bürgerlichen Parteien sorgte der Umstand, dass Levrat trotz Ständeratsmandat sein Parteipräsidium behielt.

Im September wurde Christian Levrat an der Delegiertenversammlung in Lugano unter grossem Applaus als Parteipräsident bestätigt. Der im März zum Ständerat gekürte Freiburger hatte sich rasch entschieden, dass das Mandat in der kleinen Kammer mit dem Parteipräsidium vereinbar sei. Zwar sei der Arbeitsaufwand im Ständerat höher, als Berufspolitiker und unter Mithilfe des Vizepräsidiums sei das Doppelmandat, das ja auch schon von Christiane Brunner gestemmt worden war, aber kein Problem. Er könne sehr wohl zwischen Ständerat und Parteipräsidium unterscheiden; Sachpolitik und Parteipolitik kämen sich nur selten in die Quere, so Levrat.