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Sozialpolitik
Bevölkerung und Arbeit
Die Kontroverse um die Revision des Arbeitsgesetzes, deren Kernpunkt die Lockerung des Nacht- und Sonntagsarbeitsverbots für Frauen in der Industrie ist, dauerte unvermindert an. – Die Schweizer Demokraten (ehemals NA) reichten ihre Volksinitiative "für einen arbeitsfreien Bundesfeiertag" ein. Der Nationalrat stimmte einer gleichlautenden parlamentarischen Initiative zu. – Erstmals seit 1984 verzeichneten die Reallöhne einen leichten Rückgang.
Demographische Entwicklung
1990 verzeichnete die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz ihren grössten Zuwachs der letzten zwanzig Jahre. Sie nahm um 76 000 Personen oder 1,1% auf 6,75 Mio zu, wobei hier die ausländischen Niedergelassenen und Jahresaufenthalter mit einer Zunahme von rund 60 000 Personen besonders stark ins Gewicht fielen. Prozentual am meisten wuchs die Bevölkerung im Kanton Schwyz (+2,1°/o), gefolgt von Freiburg (+2%) sowie Thurgau und Waadt (je +1,9%). Am Schluss der Rangliste befanden sich Uri (+0,0%), Appenzell I.Rh. (+0,4%) sowie Zürich und Baselland (je +0,5%) [1].
Die fortschreitende Überalterung der Gesellschaft hatte den Bundesrat im Vorjahr veranlasst, einen zweiten Demographiebericht mit pessimistischeren Annahmen zum Wirtschaftswachstum erstellen zu lassen, welcher zu Beginn des Frühjahrs publiziert wurde und in gekürzter Form Bestandteil der Botschaft zur 10. AHV-Revision war (s. unten, Teil I, 7c, AHV). Allerdings liess auch diese Studie viele Fragen offen, was eine Gruppe bürgerlicher Parlamentarier veranlasste, mit einem im Herbst eingereichten Postulat den Bundesrat aufzufordern, den Räten sobald als möglich Bericht über seine künftige Alterspolitik zu erstatten und dabei grundsätzliche Lösungsansätze darzustellen. Das für den Demographiebericht federführende Bundesamt für Statistik kündigte bereits an, im Anschluss an die Volkszählung 1990 – welche mit dem Stichdatum 4. Dezember durchgeführt wurde – neue Szenarien der Bevölkerungsentwicklung berechnen zu wollen [2].
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Arbeitswelt
Zu Beginn der achtziger Jahre beauftragte der Bundesrat den Schweizerischen Nationalfonds mit der Erarbeitung und Durchführung eines Nationalen Forschungsprogramms (NFP 15) "Arbeitswelt: Humanisierung und technologische Entwicklung". Insgesamt wurde ein Betrag von 5 Mio Fr. zur Verfügung gestellt, der zwischen 1983 und 1989 die Realisierung von 20 Forschungsprojekten in fünf Schwerpunktbereichen ermöglichte. In ihrem Schlussbericht kamen die Forscher zum Schluss, dass Schweizer und Schweizerinnen gerne arbeiten, und die Arbeit für sie bei aller Diskussion um den Wertwandel nach wie vor wichtig ist, dass aber ihre Loyalität einem Patron oder einer Organisation gegenüber nicht mehr so uneingeschränkt ist wie früher. Der Wunsch der Arbeitnehmer nach grösserer Zeitautonomie kam in den Untersuchungen klar zum Ausdruck, ebenfalls die Möglichkeit, durch die Einführung neuer Technologien diesem Bedürfnis vermehrt entgegenzukommen. Nur wenige Betriebe zeigten sich aber bisher gewillt, hier Pionierarbeit zu leisten. Insgesamt wurde deutlich, dass die gegenwärtigen Veränderungen in der Arbeitswelt nicht nur technisch-organisatorische Problemstellungen sind, sondern auch soziale Innovation und neue Denkmuster erfordern [3].
Wie die Beschäftigten ihre eigene Arbeit empfinden, was sie bei ihrer Arbeit stört und welche Aspekte des Berufslebens für sie am wichtigsten sind, ging aus einer vom Biga veröffentlichten Repräsentativbefragung hervor. Unter 60 möglichen Störfaktoren nannte jeder dritte Erwerbstätige Lärm und zu wenig Zeit für Familie und Freunde. Jeweils jeder vierte bis fünfte beklagte sich über schlechte Luft, Zugluft, unangenehme Temperatur, zu hohe körperliche Beanspruchung, dauerndes Stehen, zu viel Uberzeitarbeit, unpassende Arbeitszeiten, ferner auch über Zeitdruck, zu starke Anforderungen an die Konzentration, Verantwortungsdruck, Erfolgszwang und mangelnde Anerkennung. Von jedem sechsten bis siebten Arbeitnehmer wurden dauerndes Sitzen, ungenügende Beleuchtung, Schmutz, unbefriedigende Ferienregelung sowie Sonntagsarbeit bzw. Arbeit am Samstagnachmittag beanstandet.
Bei der Beurteilung der eigenen Berufsarbeit überwogen indessen sehr deutlich die positiven Wertungen wie abwechslungsreich, interessant und persönlich befriedigend. Negative Beurteilungen wie abstumpfend oder eintönig wurden nur selten angegeben, etwas häufiger die Prädikate nervenaufreibend, stark ermüdend und anstrengend für die Augen. Als Faktoren des Berufslebens, auf welche die Befragten den grössten Wert legten, rangierten Anliegen wie interessanter Arbeitsinhalt, gute zwischenmenschliche Beziehungen, Schutz der Gesundheit und gute Arbeitsorganisation weit vor möglichst kurzer Arbeitszeit, guten Aufstiegschancen, viel Ferien, Mitbestimmung im Betrieb und sogar auch vor möglichst guter Besoldung [4].
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Arbeitsmarkt
Bis weit in die erste Jahreshälfte 1990 war die Arbeitsmarktlage durch eine beträchtliche Übernachfrage nach Arbeitskräften charakterisiert, die sich in einem überdurchschnittlichen Beschäftigungswachstum – 1,7% gegenüber dem ersten Quartal 1989 – manifestierte. Die Nachfrage überstieg das inländische Arbeitsangebot bei weitem und konnte wie in den Vorjahren nur durch die Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte einigermassen abgedeckt werden. Der Arbeitslosenbestand reduzierte sich auf ein äusserst tiefes Niveau und umfasste schliesslich zur Hauptsache nur mehr sehr schwer vermittelbare stellenlose Arbeitssuchende.
Die einsetzende konjunkturelle Verflachung widerspiegelte sich dann aber rasch in der Entwicklung der Arbeitsnachfrage. Seit dem zweiten Quartal schwächte sich das Wachstum der Beschäftigung wenn nicht deutlich, so doch sukzessive ab. Im 4. Quartal war die Beschäftigung in der Industrie gar leicht rückläufig, während im Dienstleistungssektor eine gegenüber 1989 leicht verminderte Zunahme anhielt. Gleichzeitig beschleunigte sich der im April erstmals festgestellte Rückgang der Zahl der offenen Stellen auf das Jahresende hin.. Von der beschleunigten Zunahme der Arbeitslosigkeit waren vor allem die Westschweizer Kantone Genf, Wallis, Neuenburg, Waadt und etwas abgeschwächter der Jura sowie der Kanton Tessin betroffen [5].
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Arbeitszeit
Die mehrheitlich über Gesamtarbeitsverträge geregelte Wochenarbeitszeit sank seit 1985 um durchschnittlich 1,2 Stunden. 1990 lag sie im Mittel bei 42,2 Stunden, was gegenüber dem Vorjahr einer Reduktion um 0,2 Stunden entspricht. Die verarbeitende Produktion war dabei mit 41,6 Wochenstunden der Bereich mit der tiefsten Arbeitszeit. Im Dienstleistungssektor lag sie bei durchschnittlich 42,3 Stunden, und im Baugewerbe wurde im Schnitt während 43,5 Stunden gearbeitet. Weniger als 41 Stunden in der Woche arbeiteten die Arbeitnehmer im grafischen Gewerbe (40,5), in der Uhren- und Chemie-Industrie (40,8) sowie im Maschinen- und Fahrzeugbau (40,9). Im Vergleich dazu lagen die wöchentlichen Arbeitszeiten in der EG 1987 zwischen 35,7 und 41,2 Stunden [6].
Ende 1990 arbeiteten in der Schweiz 17,6% der Beschäftigten (ohne Landwirtschaft) teilzeitlich. Ein Jahr zuvor waren es 16,9% und 1985 gar erst 14,5%. Ungefähr die Hälfte der Teilzeitbeschäftigten leistete Ende 1990 ein Pensum zwischen 50 und 90%. Stark verbreitet ist die Teilzeitarbeit im Dienstleistungssektor, wo sich ihr Gewicht in den vergangenen fünf Jahren von 20,2 auf 24,4% erhöhte. In der Industrie und im verarbeitenden Gewerbe ist ihr Anteil wesentlich tiefer. Er legte im selben Zeitraum von 8,3 auf 9,6% zu. Dies hängt unter anderem mit dem Übergewicht der männlichen Arbeitskräfte im produzierenden Sektor zusammen. Bei den Männern belief sich der Prozentsatz der Teilzeitbeschäftigten Ende 1990 insgesamt auf lediglich 6,6%, bei den Frauen jedoch auf 36,6% [7].
Obgleich sich die sogenannt prekären Arbeitsformen (Teilzeit- und Temporärarbeit) bei den Arbeitnehmern steigender Beliebtheit erfreuen, stehen Sozialpolitiker und Gewerkschaften diesem Trend eher reserviert gegenüber, da sie für die Betroffenen Einbussen bei der Karriere und im Bereich der Sozialversicherungen – zum Beispiel durch Nichterreichen des Koordinationsabzugs bei der 2. Säule – befürchten. Auch das Bundesamt für Konjunkturfragen warnte davor, dass die Flexibilisierung der Arbeitszeit die in den Gesamtarbeitsverträgen verankerten Sicherheiten unterlaufen könnte, weil sich im Zuge der Individualisierung die vielen grundlegend verschiedenen Modelle nicht mehr für alle verbindlich regeln liessen [8].
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Die Kontroverse um die Revision des Arbeitsgesetzes, deren Kernpunkt die Lockerung des Nacht- und Sonntagsarbeitsverbots für Frauen in der Industrie ist, verlor auch im Berichtsjahr nichts von ihrer Heftigkeit. Während die Arbeitgeberorganisationen die Vorschläge zwar begrüssten, aber als zu wenig weit gehend bezeichneten, stiess der Entwurf bei den Gewerkschaften, in kirchlichen Kreisen und bei den Frauenorganisationen auf scharfe Ablehnung. Ahnlich gespalten waren die Bundesratsparteien. FDP und SVP zeigten sich mit der Lockerung grundsätzlich einverstanden, SP und CVP wollten hingegen an den geltenden Schutzmassnahmen festhalten [9].
Im Juni kam etwas Bewegung in die starren Fronten, als die Internationale Arbeitsorganisation ILO ein Zusatzprotokoll zum Übereinkommen 89 verabschiedete, welches die Bedingungen für Ausnahmen vom Frauen-Nachtarbeitsverbot regelt. Die neuen Lockerungen werden dabei nur gewährt, wenn die Sozialpartner in einer Branche oder einem Beruf zustimmen; sie kann auch für einzelne Betriebe nach Konsultation der Sozialpartner von einer staatlichen Behörde bewilligt werden, sofern der Betrieb punkto Sicherheit, Gesundheitsschutz und Chancengleichheit für Frau und Mann die nötige Gewähr bietet; Schwangere und Wöchnerinnen sollen weiterhin einen besonderen Schutz geniessen. Für die Gewerkschaften schien sich hier ein gangbarer Kompromiss anzubahnen, umso mehr als die ILO gleichzeitig ein allgemeines Abkommen über die Nachtarbeit (Übereinkommen 171) annahm, in welchem die gesundheitliche Schädlichkeit der Nachtarbeit erneut bekräftigt und zu grösster Vorsicht bei der Erteilung von Ausnahmebewilligungen gemahnt wurde. Anders als ihre ausländischen Kollegen, die zuletzt Einlenken auf den Kompromissvorschlag beschlossen, verweigerten hingegen die schweizerischen Arbeitgeber dem Zusatzprotokoll ihre Zustimmung. In den folgenden Monaten drängten sie immer wieder darauf, die Schweiz solle das Abkommen 89 innerhalb der dafür vorgesehenen Frist (Ende Februar 1992) aufkündigen [10].
Der Bundesrat entschied bis Ende Jahr nicht in dieser Frage. Im Nationalrat darauf angesprochen, erinnerte er zwar daran, dass 97 der insgesamt 158 ILO-Mitgliedstaaten diese Konvention nicht unterzeichnet haben – darunter so bedeutende wie Australien, die USA, Kanada, Japan, Dänemark, Finnland, Schweden und Grossbritannien – versprach aber, keine voreiligen Schritte unternehmen und vor einer allfälligen Kündigung des Übereinkommens die Meinung der interessierten Kreise einholen zu wollen. Aus dem Biga war verschiedentlich zu vernehmen, der Bundesrat könnte seinen Entscheid über eine Aufkündigung des Abkommens beziehungsweise über eine Unterzeichnung des Zusatzprotokolls von der Haltung der EG-Staaten abhängig machen. Nachdem der EG-Kommissionspräsident Delors im Januar den Willen bekundet hatte, auch den Bereich der Nachtarbeit im Rahmen des europäischen Binnenmarktes einheitlich zu regeln, stellte sich die Frage, ob es nicht sinnvoller sei, mit den Revisionsarbeiten am Arbeitsgesetz so lange zuzuwarten, bis die angekündigte EG-Richtlinie vorliegt [11].
Das Bundesgericht gab zwei Beschwerden der Gewerkschaften gegen vom Biga erteilte Sonderbewilligungen für Sonntagsarbeit ganz oder zumindest in wichtigen Punkten statt. Im Fall einer Spinnerei in Murg (SG) erachteten die Lausanner Richter die für die Einführung von Nacht- und Sonntagsarbeit geltend gemachten wirtschaftlichen Überlegungen als unzureichend und hob die Bewilligung auf. Einem Hersteller von Mikrochips in Marin (NE) gestand das Bundesgericht zwar zu, dass eine ununterbrochene siebentägige Produktionsweise technisch und ökonomisch unentbehrlich sei, doch verweigerte sie ihm den sonntäglichen Einsatz von Frauen, da die Herstellung integrierter Schaltungen keine frauenspezifische Arbeit darstelle und die Frau im Arbeitsgesetz gerade deshalb einen besonderen Schutz geniessen müsse, weil ihr nach traditionellem Rollenverständnis im Familienleben eine besondere Funktion zukomme. Die Richter anerkannten zwar, dass hier ein Widerspruch zum Gleichheitsartikel der Bundesverfassung bestehe, argumentierten aber, dass in diesem Bereich eine Berufung auf Art. 4 Abs. 2 BV erst dann.zulässig wäre, wenn alle Ungleichheiten zwischen Mann und Frau, insbesondere die Lohndifferenzen, beseitigt wären [12]..
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Mit dem knappsten je registrierten Resultat seit der Einführung des Quorums von 100 000 Unterschriften kam die Volksinitiative der SD (ehemals NA) "für einen arbeitsfreien Bundesfeiertag" (" 1. August-Initiative") formell zustande. Von den Ende September nach völliger Ausschöpfung der Sammelfrist eingereichten 104 022 Unterschriften erklärte die Bundeskanzlei nach der Überprüfung 102 660 für gültig. In der Herbstsession stimmte der Nationalrat einer im Inhalt identischen parlamentarischen Initiative des Berner SD-Vertreters Ruf zu, nachdem ein analoger Vorstoss zwei Jahre zuvor noch klar abgelehnt worden war [13]..
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Löhne
Die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erlitten im Berichtsjahr Lohneinbussen. Zwischen Oktober 1989 und Oktober 1990 stiegen die Löhne im Durchschnitt zwar um 5,9%, doch entstand bei einer gleichzeitigen Teuerung von 6,4% ein Verlust von 0,5 %. Frauen mussten eine Reallohneinbusse von 0,7%, Männer eine solche von 0,5% hinnehmen. Dieser Rückgang der Reallöhne aufgrund einer in ihrem Umfang nicht voraussehbaren Teuerung bezeichnete das Biga als aussergewöhnliche Entwicklung, die sich kaum wiederholen werde. Für 1991 handelten die Sozialpartner Lohnerhöhungen zwischen 6 und 10% aus. Reallohnerhöhungen zusätzlich zum Teuerungsausgleich wurden vielerorts in Form von individuellen und leistungsbezogenen Aufbesserungen gewährt [14].
Nachdem sich der Bundesrat mit der von der Petititons- und Gewährleistungskommission vorgeschlagenen Änderung von Art. 325 OR einverstanden erklärt hatte, stand deren einstimmiger Annahme in den Räten nichts mehr im Wege. Die Vorlage ging auf eine parlamentarische Initiative von Nationalrat Eggli (sp, ZH) aus dem Jahr 1986 zurück. Der inzwischen aus dem Parlament ausgeschiedene Abgeordnete wollte in Art. 325 OR ein generelles Verbot von Abtretungen und Verpfändungen künftiger Lohnforderungen verankern, wobei er vor allem Lohnzessionen bei Abzahlungsund Kleinkreditgeschäften im Visier hatte. Der Nationalrat hatte 1988 diskussionslos beschlossen, dieser Initiative grundsätzlich stattzugeben, doch schwächte die ausarbeitende Kommission die Vorlage in dem Sinn ab, dass die Abtretung oder Verpfändung künftiger Lohnforderungen bei allen obligationenrechtlichen Rechtsgeschäften ausgeschlossen, zur Sicherung familienrechtlicher Unterhalts- und Unterstützungspflichten aber weiterhin zugelassen wird [15].
Da bei der Revision des Beamtengesetzes dem Prinzip eines schrittweisen Abbaus der zivilstandsabhängigen Ausgestaltung der Anspruchsberechtigung für Lohnbestandteile und Sozialabgaben Rechnung getragen wurde, zog Nationalrätin Haller (sp, BE) ihre 1988 eingereichte diesbezügliche parlamentarische Initiative zurück [16]..
Für die Besoldungsrevision des Bundespersonals siehe oben, Teil I, 1c (Verwaltung).
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Gesamtarbeitsverträge
Der wichtigste im Berichtsjahr erneuerte Gesamtarbeitsvertrag (GAV) war zweifellos der Landesmantelvertrag, den die Gewerkschaft Bau und Holz (GBH) und der Schweizerische Baumeisterverband für das Bauhauptgewerbe abschlossen. Obgleich sich die Arbeitgeber in einzeln Punkten (Lehrlingsferien, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall) unnachgiebig zeigten, konnte der neue Vertrag als Erfolg für die Arbeitnehmer und die Gewerkschaft gewertet werden. Substantielle Errungenschaften waren bei der gestaffelten Erhöhung der Reallöhne und bei der schrittweisen Reduktion der Arbeitszeit zu verzeichnen [17].
Weitere GAV konnten unter anderem in der Schuh- und der Textilindustrie sowie in der Schokoladeproduktion abgeschlossen werden, während die Lithographen und die Schreiner das neue Jahr in vertragslosem Zustand beginnen mussten. Im Buchbindergewerbe unternahm die Frauenkommission der Gewerkschaft Druck und Papier (GDP) rechtliche Schritt gegen die eigene Gewerkschaft, da diese einem GAV zustimmen wollte, welcher unterschiedliche Mindestlöhne für Frauen und Männer vorsieht [18].
Drei Jahre vor Ablauf des geltenden Friedensabkommens veröffentlichte der Arbeitgeberverband der Schweizer Maschinen- und Metallindustrie (AMS) seine Vorstellungen von dessen Erneuerung. Er regte an, die Verhandlungen rationeller zu gestalten, den Vertrag nicht mehr zu befristen und neue Themen wie die Arbeitsgestaltung zu behandeln, die quantitativen Fragen (Löhne, Arbeitszeit, Sozialversicherungen etc.) hingegen den einzelnen Betriebskommissionen zu überlassen. Die Gewerkschaften kritisierten das einseitige Vorprellen der Arbeitnehmer. Sie zeigten sich zwar bereit, neue Themen in die Diskussionen einzubeziehen, lehnten aber jede Verwässerung des GAV ab und wehrten sich gegen einen 'Arbeitsfrieden zum Nulltarif [19].
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Arbeitskonflikte
Für 1990 registrierte das Biga fünf kollektive Arbeitsstreitigkeiten, wobei jedoch nur zwei zu einer Arbeitsniederlegung von mindestens einem Tag führten, während sich der Arbeitsausfall der drei anderen Bewegungen (Protest- und Warnstreiks) auf einige Stunden beschränkte. Von den beiden Streikfällen (1989 ebenfalls zwei), die im Berichtsjahr ihren Abschluss fanden und mindestens einen Tag dauerten, wurde je ein Betrieb im grafischen Gewerbe und im sozialen Bereich betroffen; die Zahl der beteiligten Arbeitnehmer belief sich auf 578 (22) und jene der verlorenen Arbeitstage auf 4090 (265). Eine der Streitigkeiten hatte Änderungen der Arbeitszeiten, die andere Neuzuweisungen von Arbeitsplätzen als hauptsächlichsten Streikgegenstand [20].
Aus einer Übersicht über die jedes Jahr vom Arbeitgeberverband durchgeführte Repräsentativumfrage zum Friedensabkommen geht hervor, dass sich dessen Einschätzung in der Bevölkerung in den letzten zehn Jahren kaum verändert hat: nach wie vor stehen ihm rund zwei Drittel der Befragten positiv gegenüber, wobei allerdings die Meinung, eine Weiterführung des Friedensabkommens sei sehr sinnvoll, etwas rückläufig erscheint, während der Prozentsatz der prinzipiellen Gegner inden Jahren 1989 und 1990 leicht steigende Tendenz aufweist [21].
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Schutz der Arbeitnehmer
Beide Kammern nahmen•vom Bericht des Bundesrates über die 1988 an der 75. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz angenommenen Ubereinkommen und Empfehlungen Kenntnis. Einstimmig wurde der Regierung grünes Licht für diò Ratifizierung des Ubereinkommens Nr. 168 über Beschäftigungsförderung und den Schutz gegen Arbeitslosigkeit erteilt. Dieses Ubereinkommen revidiert das Abkommen Nr. 44 über Arbeitslosigkeit und hat zum Ziel, die Koordination der Systeme zum Schutz gegen Arbeitslosigkeit und der Beschäftigungspolitik sicherzustellen und das Problem der Arbeitslosigkeit nicht nur mit reaktiven, sondern auch mit vorbeugenden Massnahmen anzugehen.
Gleich wie der Bundesrat bedauerten die Räte hingegen, dass die Schweiz das bei gleicher Gelegenheit angenommene Ubereinkommen Nr. 167, welches die Förderung der Sicherheit und Gesundheit auf den Baustellen beinhaltet, nicht unterzeichnen kann, da die selbständigen Erwerbstätigen in der Schweiz nicht vom Geltungsbereich der Unfallverhütungsgesetzgebung erfasst werden. Nationalrat Leuenberger (sp, SO) versuchte mit einer Motion, eine Ausdehnung des Geltungsbereiches des Versicherungsobligatoriums und damit zusammenhängend der Unfallverhütungsvorschriften auf Selbständigerwerbende zu erreichen. Der Bundesrat war bereit, die Motion als Postulat entgegenzunehmen, doch wurde sie von Allenspach (fdp, ZH) bekämpft und konnte deshalb nicht abschliessend behandelt werden [22].
Ein postulat Carobbio (sp, TI), welches eine Überprüfung der unterschiedlichen Grenzwerte für den Umgang mit schädlichen Substanzen (NO, NO2, SO2 und 03) in den Suva-Bestimmungen und in der Luftreinhalte-Verordnung (LRV) und eine Herabsetzung der Suva-Richtwerte verlangte, wurde oppositionslos überwiesen [23].
Auf die Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes wird an anderer Stelle eingegangen (unten, Teil I, 7c, Arbeitslosenversicherung).
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Mitbestimmung der Arbeitnehmer
Die vorbereitende Kommission beantragte dem Nationalrat, die drei zum Teil noch aus den siebziger Jahren zu stammenden parlamentarischen Initiativen Morel (sp, FR), Egli (cvp, LU) und Biderbost (cvp, VS) für eine Mitbestimmung der Arbeitnehmer bzw. für ein Mitwirkungsgesetz abzuschreiben. In ihrem schriftlichen Bericht würdigte die Kommission die wechselvolle Geschichte dieser drei Vorstösse und erinnerte daran, dass sie selber einen Beschlussentwurf zu Art. 34octies BV ausgearbeitet hatte, den sie nun ebenfalls zur Abschreibung empfahl. Um das Thema nicht gänzlich ausser Traktanden fallen zu lassen, unterbreitete sie dem Rat ein Postulat, mit welchem der Bundesrat ersucht wird, im Hinblick auf den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) einen Bericht über die Mitbestimmungsregelungen in anderen europäischen Staaten und über die Auswirkungen auf die Schweiz zu erstatten.
Dieses Vorgehen wurde von den politischen Gruppierungen unterschiedlich bewertet. FDP und SVP erinnerten an ihre traditionelle Abneigung gegenüber gesetzlichen Regelungen in diesem Bereich und fanden es an der Zeit, einen definitiven Schlussstrich unter diese Diskussion zu ziehen. SP, LdU/EVP und CVP betonten, dass sie nur zur Entkrampfung der Situation und als Eingeständnis eines Misserfolges der Kommission der Abschreibung zustimmten, dass damit für sie aber das Thema Mitbestimmung ganz klar nicht vom Tisch sei. Im Sinn einer Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner wurden die parlamentarischen Initiativen abgeschrieben und das Postulat überwiesen [24].
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Weiterführende Literatur
A. Alioth / M. Iten (Hg.), Menschen an der Arbeit. Ergebnisse aus dem Nationalen Forschungsprogramm (NFP 15) "Arbeitswelt: Humanisierung und technologische Entwicklung", Bern 1990.
A. Bergmann et al., La culture d'entreprise suisse, élément constitutif et reflet de la culture nationale, Lausanne 1990.
P. Bohley / A. Jens, Einführung in die Wirtschafts- und Sozialstatistik der Schweiz, Zürich 1990.
J. Buchberger, Arbeitsbedingungen und gesundheitliches Befinden: Beurteilung durch Erwerbstätige in der Schweiz, Bern 1990 (Studie im Auftrag des Biga).
J.-P. Ghelfi, Innovation technique et innovation sociale: nouvelles technologies et participation des travailleurs, Lausanne 1990.
Ch. Lalive d'Epinay, Les Suisses et le travail: des certitudes du passé aux interrogations de l'avenir, Lausanne 1990.
B. Stalder, Verkäuferinnen: Arbeitssituation und Gesundheit, eine empirische Untersuchung in einem Berner Warenhaus, Bern 1990.
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P. Ammann, "Beschäftigung: markantes Wachstum 1985-1990 – Abschwächung 1991", in Die Volkswirtschaft, 64/ 1991, Nr. 4, S. 25 ff.
A. E. Calonder Gerster, Zur Situation der erwerbstätigen Frau: Ursachen und Hintergründe der besonderen Probleme bei Berufseintritt, Berufsunterbrechung und Rückkehr in den Beruf Bern 1990 (Studie im Auftrag des Biga).
M. Franck, "Arbeitsmarkt Schweiz: drohende Arbeitslosigkeit", in Die Volkswirtschaft, 64/1991, Nr. 5, S. 18 ff.
K. Hug, "Wandel und Perspektiven des Schweizerischen Arbeitsmarktes", in Documenta, 1990, Nr. 2, S. 19 ff.
K. Hug, "Konjunkturelle Abkühlung – Langfristig beschleunigte Dynamik", in Die Volkswirtschaft, 64/1991, Nr. 1, S. 9 ff.
R.A. Müller, "Schweizerisches Beschäftigungswunder", in Die Volkswirtschaft, 64/1991, Nr. 1, S, 15 ff.
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P. Beaud (Hg.), Travail de nuit et autres formes d'horaires atypiques. Conséquences sur le travail, la santé, la vie privée et les relations sociales, Lausanne 1990.
J.-J. Elmiger, "Das Nachtarbeitsverbot für Frauen gemäss den Normen der Internationalen Arbeitsorganisation", in Die Volkswirtschaft, 64/1991, Nr. 6, S. 20 ff.
H. Ineichen, Voraussetzungen und Effekte der Arbeitsflexibilität beim Einsatz neuer Technologien in Klein- und Mittelunternehmungen, Steinhausen 1990.
R. Levy, "Der Preis von Nacht- und Sonntagsarbeit", in Plädoyer, 8/1990, Nr. 5, S. 28 ff.
G. et J. Rodgers, Les emplois précaires dans la régulation du marché du travail: la croissance du travail atypique en Europe de l'Ouest, Genève 1990.
Schweiz. Evangelischer Kirchenbund, Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund zur Revision des Arbeitsgesetzes, Bern 1990.
Schweiz. Nationalkommission Justitia et Pax, Zeit, Zeitgestaltung und Zeitpolitik: eine Thesenreihe zur Arbeitszeit, Bern 1990.
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F. Zurbrügg, Einkommensentwicklung im Lebenszyklus, Bern 1990.
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Ch. Brunner / J.-M. Bühler / J.-B. Waeber, Kommentar zum Arbeitsvertrag, Bern 1990.
Ch. Brunner, "Der Gesamtarbeitsvertrag: Stagnations- oder Fortschrittsfaktor?", in Die Volkswirtschaft, 63/1990, Nr. 10, S. 5 ff.
J.-F. Stöckli, Der Inhalt des Gesamtarbeitsvertrages, Bern 1990.
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[1] Die Volkswirtschaft, 64/1991, Nr. 6, S. 6*; Presse vom 29.1.91; wf, K/, 18.2.91.
[2] SPJ 1989, S. 184; Presse vom 19.4.90; Verhandl. B.vers., 1990, V, S. 127. Zur Volkszählung siehe oben, Teil I, lb (Datenschutz).
[3] Lit. Alioth / Iten.
[4] Lit. Buchberger; J. Buchberger, "Arbeit und Gesundheit aus der Sicht der Erwerbstätigen", in Die Volkswirtschaft, 64/1991, Nr. 1, S. 19 ff. (Zusammenfassung der Studie). Für die Ergebnisse einer ähnlichen Befragung im grafischen Gewerbe, siehe Bund und TW, 5.12.90.
[5] Lit. Franck; siehe auch oben, Teil 1, 4a (Konjunkturlage). Für die Weiterbildungsoffensive des Bundes, welche unter anderem zu einem verstärkten Einbezug der Frauen in die Arbeitswelt führen soll, siehe unten, Teil I, 8a (Formation professionnelle).
[6] Suisse, 16.6.90; BZ, 12.4.91.
[7] wf, KI, 2.4.91.
[8] Lit. Alioth / Iten, Lit. Beaud und Lit. Rodgers; JdG, 10.5. und 24.11.90; TA, 11.5.90; VHTL-Zeitung, 20.6.90; SP/VPOD, 21.6. und 4.10.90; TW, 15.1 1.90.
[9] SPJ 1989, S. 186 f.; Presse vom 19.1.90; NZZ, 28.2., 9.3., 27.3., 29.3., 3.4.und 6.4.90; SHZ, 15.3.90; Vr, 16.11.90; Frauenfragen, 1990, Nr. 2, S. 3 ff. (Eidg. Kommission für Frauenfragen); Diskussion, 1990, Nr. 11, S. 29 f. Beide Parteien publizierten eine Reihe von Umfragen und wissenschaftlichen Studien, um ihren jeweiligen Standpunkt zu begründen: TW, 1.3., 12.9. und 7.12.90; Aktiv, 5.4., 19.4. und 28.6.90; wf, Dok., 9.4.90; Coop-Zeitung, 26.4.90; siehe auch Lit. Beaud und "Travail de nuit: la recherche phosphore", in Femmes suisses, 1990, Nr. 6-7, S. 5 ff.
[10] Lit. Elmiger; Presse vom 28.6.90; NZZ, 19.7. und 6.12.90.
[11] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1055 und 2111; BaZ, 7.4.90; Suisse, 17.11.90. Die Mitglieder der SP-Fraktion möchten vom BR Auskunft über den Umfang der Nacht- und Sonntagsarbeit im Dienstleistungssektor; ein entsprechendes Postulat Borel (NE) wurde in der Herbstsession überwiesen (Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1921 f.).
[12] Presse vom 29.9.90.
[13] BBI, 1990, III, S. 1275 ff.; Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1607 ff.; NZZ, 7.12.90;
[14] Presse vom 31.8.90; BZ, 22.9.90 und 12.4.91; SGT, 3.11. und 5.11.90; Bund, 29.11.90; TA, 19.12.90; Presse vom 13.7.91. Das von den Arbeitgebern regelmässig ins Feld geführte Argument, die hohen Lohnkosten würden die internationale Konkurrenzfähigkeit der Schweizer Wirtschaft beeinträchtigen, wurde durch eine Untersuchung der Konjunkturforschungsstelle der ETH entkräftet, welche zum Schluss kam, dass das Lohnniveau nicht nur nicht überrissen sei, sondern zudem einen positiven Strukturwandel unterstütze (BZ, 30.3.90).
[15] SPJ 1989, S. 188; NZZ, 9.1.91; Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1233 f. und 2496; Amtl. Bull. StR, 1990, S. 1044 f. und 1101.
[16] Verhandl. B.vers., 1990, V, S. 26.
[17] NZZ, 10.5., 17.11. und 26.11.90; FOBB, 4.12. und 11.12.90.
[18] NZZ, 14.4. und 20.11.90; Suisse, 5.7.90; SN, 10.11.90; Vat., 27.11.90; TW, 18.12.90. Für die GDP-Frauen siehe unten, Teil I, 7d (Stellung der Frau).
[19] Presse vom 4.7. und 6.7.90.
[20] G. Steffen, "Kollektive Arbeitsstreitigkeiten 1990", in Die Volkswirtschaft, 64/1991, Nr. 4, S. 41 f.
[21] SAZ, 1990, S. 363 ff.
[22] BBI, 1989, III, S. 1592 ff.; Amtl. Bull. StR, 1990, S. 85 f.; Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1176 f. und 2421 f.; NZZ, 20.9.90 (Ratifizierung Abkommen Nr. 168). Mit der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz befassen sich auch zwei weitere Motionen, die im Berichtsjahr nicht behandelt wurden: Verhandl. B.vers., 1990, V, S. 104 (Leuenberger, sp, SO) und 128 (Spielmann, pda, GE).
[23] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 704.
[24] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 896 ff.
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