Grundlagen der Staatsordnung
Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
Im Rahmen verschiedener Tagungen zur Identität und Zukunft der Schweiz stand die Frage der Abgrenzung oder Öffnung zur EG häufig im Vordergrund. – Die Totalrevision der Bundesverfassung hat neue Impulse erhalten. – Die Vorbereitungen zu den Festanlässen zur 700-Jahr-Feier sind von einem Teil der Kulturschaffenden wegen der Staatsschutzkrise boykottiert worden.
Nationale Identität
Die Fragen der nationalen Identität, der soziokulturellen und politischen Vorstellungen im kollektiven Bewusstsein sowie deren Bedeutung für ein modernes Staatswesen in einem sich wandelnden Kontext wurden im Berichtsjahr in vielfältiger Weise aufgeworfen. Unter anderem war dies auch das Thema eines Kolloquiums auf Schloss Lenzburg (AG), an welchem z.B. der Geschichtsprofessor Ulrich Im Hof in seiner Rede die Vaterlandsliebe als Liebe des Esels zum Stall charakterisierte. Gemäss seinen Ausführungen berge die Selbstgenügsamkeit vieler Bürgerinnen und Bürger in der heimatlichen Geborgenheit die Gefahr in sich, die
Herausforderungen einer sich öffnenden, komplexen Welt, welche andere Wertvorstellungen repräsentiere, zu ignorieren
[1].
Eine ähnliche Problematik kam am Forum "
Störfall Heimat – Störfall Schweiz", organisiert vom Zürcher Institut für angewandte Psychologie, zur Sprache. Thematisiert wurde das Ende des 'Sonderfalls' sowie das Spannungsfeld von verunsichertem Selbstverständnis und europäischer Herausforderung. Die Referenten unterschieden verschiedene Ebenen von Identität und deren mögliche Konsequenzen wie Provinzialismus, Fremdenfeindlichkeit, aber auch Kooperations- und Integrationsfähigkeit. Die These, wonach die übermässige Beschäftigung mit sich selber als Zeichen einer allgemeinen Verunsicherung wie auch einer Schweiz im Umbruch zu deuten sei, wurde ebenfalls diskutiert. Im Spannungsfeld zwischen Öffnung und Heimatbezogenheit plädierten die einen für eine verstärkte Integration der Schweiz in ein übergeordnetes Europa, während andere die Idee Heimat in der Region, auch in der staatenübergreifenden, als erstrebenswert erachteten
[2].
Auch der Schriftsteller
Adolf Muschg, der unter dem Titel "Die Schweiz am Ende – am Ende die Schweiz" Aufsätze, Reden und Artikel über die Schweiz der 70er und 80er Jahre veröffentlichte, thematisierte den 'Sonderfall' Schweiz und dessen Ende. Mit der Kopp-Affäre, den Enthüllungen zur Geldwäscherei und dem Fichen-Skandal sei das Ende des 'Sonderfalles' deutlich zu Bewusstsein gekommen. Eine neue Auseinandersetzung sowohl mit der Vergangenheit als auch mit den Problemen der Zukunft sollte gemäss Muschg unbedingt einsetzen. Was die Vergangenheit anbelangt, müsste die Schweiz sich vermehrt mit der Bundesstaatsgründung 1848 – ein Markstein der. Integration der Schweiz – auseinandersetzen; für die Zukunft ist für Muschg die Erhaltung kleiner, überblickbarer Strukturen relevant, ohne dass jedoch das Fremde und Ausländische einfach ausgegrenzt und aus dem Bewusstsein ausgelöscht wird
[3].
Für die Geschichtsprofessorin Beatrix Mesmer bedeutet die Phase der Offenlegung verschiedenster Missstände, welche in der Schweiz in den letzten Jahren aufgedeckt worden sind, auch eine Chance der Läuterung, einer
Katharsis, mit deren Hilfe das Land ein neues Geschichtsbild und damit vielleicht auch einen neuen politischen Stil aufbauen könnte. Die aussenpolitische Herausforderung der europäischen Integration könnte in dieser Situation helvetischen Umbruchs auch eine neue Staatskultur hervorbringen
[4].
Die
französische Wochenzeitschrift "Le Canard enchaîné" hat im Frühjahr ein Dossier Schweiz, "La Suisse noir sur blanc", zusammengestellt, in welchem verschiedenste – unter anderem auch welsche – Journalisten Aufsätze zu einem differenzierten Bild der Schweiz beitrugen. Die Artikel reichten von idealisierenden Klischeebildern bis zur harten Kritik an der Drogengeldwäscherei und dem Fichenskandal. Die Publikation zeigte, dass das Ausland die aktuellen Probleme der Schweiz durchaus wahrnimmt
[5].
Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogrammes "
Kulturelle Vielfalt und nationale Identität" (NFP 21) ergab eine repräsentative Befragung der Bevölkerung über die territoriale Identifikation, dass sich die Bewohner der französischen und der italienischen Schweiz stärker mit der Region und weniger mit der ganzen Schweiz identifizieren als jene der deutschen Schweiz; letztere identifizieren sich aber gleichzeitig stärker mit der Gemeinde. Ausserdem zeigte die Studie auf, dass einem tiefen Bildungsgrad eine hohe kommunale Bindung und geringe übernationale Bindung entspricht. Aus den Abstimmungsresultaten zum Freihandelsabkommen von 1972 und zum UNO-Beitritt 1986 leitete eine Studie ab, dass im Hinblick auf eine europapolitische Abstimmung zum EWR-Vertrag oder zu einem EG-Beitritt mit drei Lagern zu rechnen sei, die sich etwa folgendermassen zusammensetzen: ein Viertel "harte Isolationisten" (vor allem in ländlichen Gebieten), ein Viertel "harte Integrationisten" (eher in städtischen Siedlungen mit hohem Linkswähleranteil) und etwa die Hälfte "weiche Integrationisten" (eher in Arbeitergemeinden und kleinbürgerlicher Umgebung), wobei letztere vor allem am wirtschaftlichen Nutzen einer Öffnung interessiert sind
[6].
Über das "Panorama der Schweizer Geschichte" und die Bestrebungen, den 1. August zu einem arbeitsfreien Feiertag zu machen, orientieren wir an anderer Stelle
[7].
Ein parlamentarischer Vorstoss für die
Ausarbeitung eines politischen Leitbildes für die Schweiz in einem gewandelten europäischen Kontext wurde von Ständerat Rhinow (fdp, BL) in Form eines Postulats eingereicht. Der von 30 Standesvertretern unterschriebene Text fordert den Bundesrat auf, die Stellung der Schweiz in bezug auf ihre Position in Europa und in der Welt neu zu definieren und einen breiten Dialog über die Identität unseres Landes, über die tragenden und verbindenden, überlieferten und neuen Werte, über Optionen und Ziele unseres Landes sowie die Wiederbelebung der gegenseitigen Verständigung in Gesellschaft und Politik zu initiieren
[8].
Totalrevision der Bundesverfassung
Ursprünglich war das Projekt Totalrevision
vor 25 Jahren, nach der letzten grossen Staatskrise, der sogenannten Mirage-Affäre,
an die Hand genommen worden. 1977 hatte die Expertenkommission Furgler einen Verfassungsentwurf präsentiert, der im anschliessenden Vernehmlassungsverfahren sehr unterschiedlich beurteilt wurde. Der Bundesrat hielt, wie auch die Mehrheit der Vernehmlassungsantworten, eine Totalrevision der Bundesverfassung für notwendig und beantragte der Bundesversammlung, die förmliche Einleitung des Verfahrens zu beschliessen. Seinem Bericht an die Bundesversammlung legte er eine Modellstudie des EJPD bei. Diese Studie, welche aufgrund des Schlussberichts der Arbeitsgruppe Wahlen, der bisherigen Verfassungsentwürfe sowie von totalrevidierten Kantonsverfassungen erarbeitet worden war, sollte die wichtigsten Züge einer neuen Verfassung aufzeigen. Die eidgenössischen Räte beschlossen 1987 die Totalrevision der Bundesverfassung und beauftragten den Bundesrat, einen Entwurf mit einer allerdings nur formalen Revision, welche das geltende Recht systematisch ordnet, vereinheitlicht und verständlicher darstellt, zu erarbeiten. Der Auftrag einer rein formalen Revision hatte zur Folge, dass sich niemand mehr enthusiastisch hinter das Projekt stellen konnte
[9].
Die Staatsschutzkrise, aber auch die Diskussionen um die Annäherung an die Europäische Gemeinschaft verliehen dem Prozess der Totalrevision neuen Aufwind. Zuerst reichten die grüne, darauf die sozialdemokratische Fraktion und zuletzt die Freisinnige Nabholz (ZH) Motionen bezüglich einer
materiellen Totalrevision der Bundesverfassung ein. Die Motionen der GP und der SP verlangen eine Revision in demokratischer, ökologischer, föderalistischer und sozialer Hinsicht und fordern Massnahmen, welche die Entwicklungen in Europa und die daraus abzuleitenden Konsequenzen für die Schweiz mitberücksichtigen; eine derartige Totalrevision würde nach Ansicht beider Parteien einen wesentlichen Schritt zur Überwindung der gegenwärtigen Staatskrise bedeuten. In der Motion Nabholz geht es weniger um sachpolitische Ziele als um eine Verbesserung der Innovationsfähigkeit des politischen Systems, wozu insbesondere eine Parlaments- und Regierungsreform im Sinne der Vorschläge der Motion Rhinow (fdp, BL) gehören würde. Die Motion Nabholz sowie jene der SP-Fraktion sehen einen
Verfassungsrat zur Ausarbeitung des Revisionsentwurfs vor; hierzu müsste in die bestehende Verfassung zuerst ein entsprechender Artikel eingefügt werden
[10].
Die Staatsrechtsprofessoren Kölz und Müller haben im Juli eine gründlich
überarbeitete Fassung ihres 1984 erstmals veröffentlichten Entwurfs für eine totalrevidierte Bundesverfassung vorgelegt, welcher als Erweiterung neben einem Ausbau des Persönlichkeitsschutzes auch ein Kapitel über die Beziehungen zu Europa enthält. Ohne konkret zum Abschluss eines EWR-Vertrags oder zu einem EG-Beitritt Stellung zu nehmen, hielten sie fest, dass sie die Instrumente der direkten Demokratie so weit wie möglich beibehalten möchten. Die Bundesversammlung sollte allerdings die Kompetenz haben, die Unvereinbarkeit einer vom Volk angenommenen Gesetzes- oder Verfassungsinitiative mit einer Verfassungsbestimmung oder europäischem Integrationsrecht in einem begründeten und vor Bundesgericht anfechtbaren Entscheid festzustellen
[11].
Gleichzeitig mit dem Erscheinen des neuen Entwurfs wurde auch die 1984 gegründete "
Vereinigung für Verfassungsreform (VVR)", welcher Jugend-, Frauen-, Konsumenten-, Kultur- und Umweltschutzorganisationen angehören, reaktiviert. Diese forderte im November den Bundesrat und die Bundesversammlung auf, die Totalrevision im Sinne des Entwurfs Kölz/Müller möglichst rasch an die Hand zu nehmen und als Sofortmassnahme die verfassungsmässige Grundlage für einen Verfassungsrat zu schaffen. Ausserdem verlangte sie die Einführung der Gesetzesinitiative
[12].
Der
Bundesrat nahm im Herbst Stellung zur Problematik der Verfassungsreform und betonte, zuerst müsse ein EWR-Vertrag ausgehandelt, genehmigt und die damit notwendige Anpassung der schweizerischen Rechtsordnung vollzogen werden. Erst nach einem positiven Entscheid über den EWR-Beitritt könnte eine europagerechte Vorlage für eine neue Bundesverfassung unterbreitet werden
[13].
Totalrevision von Kantonsverfassungen
Im Kanton Bern hat die 35köpfige Verfassungskommission des Grossen Rates die Beratungen zu dem vom Regierungsrat überarbeiteten Entwurf einer neuen Staatsverfassung weitergeführt. Wesentliche Neuerungen betrafen die Transparenz der öffentlichen Verwaltung — künftig soll der Grundsatz Öffentlichkeit mit Geheimhaltungsvorbehalt gelten —, die Einschränkung der Bedeutung des Dekrets (Rechtssetzungsstufe zwischen Gesetz und Verordnung) sowie den
Ausbau der Volksrechte. Bei letzteren entschied sich die Kommission für die Einführung des Referendums zu allen Parlamentsbeschlüssen und für die Ausweitung des Initiativrechts auf den gesamten Kompetenzbereich des Parlamentes. Im Mai präsentierte die Kommission den überarbeiteten Entwurf als Zwischenbericht dem Regierungsrat. Dieser stellte sich insbesondere gegen den vorgesehenen Ausbau der Volksrechte und gegen die Neuformulierung des Minderheitenschutzes, wonach nicht nur den Bedürfnissen der französischsprachigen Minderheit, sondern allgemein denjenigen von allen sprachlichen, kulturellen und regionalen Minderheiten Rechnung zu tragen sei. Diese Einwände wurden von der Kommission, in welcher nach den Berner Wahlen 16 neue Mitglieder sassen, bei der Detailberatung berücksichtigt. Die Mitwirkung des Volkes bei wichtigen Entscheiden des Parlaments soll durch sogenannte Teilgeneralklauseln (referendumsfähige Planungsentscheide, Konzessionsbeschlüsse etc.) geregelt werden; vorgesehen sind aber auch abschliessende Kompetenzen des Parlaments (Ausgabenbeschlüsse bis 1 Mio Fr.). Zudem soll ein Parlamentsbeschluss dem Referendum unterstellt werden, wenn dies 70 der 200 Mitglieder des Grossen Rates verlangen. In bezug auf die Minderheiten gab die Kommission der Regierung ebenfalls nach. Eine zweite Vernehmlassung ist für Mitte 1991 angekündigt worden
[14].
Im Kanton
St. Gallen hat die 15köpfige Kommission ihre Vorprüfung einer eventuellen Totalrevision der 100jährigen Verfassung abgeschlossen. Der Regierungsrat hat sich aber im Berichtsjahr noch nicht dazu geäussert
[15].
Nachdem sich der Regierungsrat von
Appenzell-Ausserrhoden für die Totalrevision der aus dem Jahre 1908 stammenden Verfassung ausgesprochen hatte, befürwortete auch der Kantonsrat diesen Entscheid. Wichtigste Fragen einer allfälligen Totalrevision, über deren Durchführung die Landsgemeinde 1991 entscheiden soll, wären die Beibehaltung der Landsgemeinde, die Einführung des Proporzwahlrechts, die Einführung kultureller und umweltschützerischer Anliegen sowie die vollamtliche Regierungstätigkeit
[16].
In
Graubünden reichte der Sozialdemokrat Jäger eine Motion ein, in welcher er — unterstützt von 70 Mitunterzeichnern — eine Totalrevision der seit 1894 gültigen Kantonsverfassung forderte. Der SP gelang es, viele bürgerliche Parlamentarier hinter sich zu scharen und gegen den Willen des Regierungsrates eine Überweisung durchzusetzen. Damit wurde die Exekutive beauftragt, einen Bericht über eine Totalrevision zuhanden des Grossen Rates auszuarbeiten
[17].
Die Regierung des Kantons
Luzern unternahm mit einem sogenannten Planungsbericht einen ersten Schritt, um das Gesetz über die Organisation von Regierung und Verwaltung aus dem Jahre 1899 zu ändern und gleichzeitig eine Teil-, später eventuell eine Totalrevision der Staatsverfassung von 1875 an die Hand zu nehmen
[18].
Im Kanton
Zug verabschiedete das Parlament eine umfassende Teilrevision der Staatsverfassung in zehn Teilbereichen, welche wichtige Punkte wie Gewaltentrennung, Rechtspflege, Notrecht und die Volksrechte betrafen. Sämtliche Vorlagen wurden in der Volksabstimmung angenommen, obwohl SP und Gewerkschaftsbund zur Neuregelung der Volksrechte und zum Notrecht die Nein-Parole herausgegeben hatten
[19]. Im Kanton
Schwyz bestellte der Kantonsrat eine Kommission zur Vorberatung einer Teilrevision der Kantonsverfassung
[20].
Bei der Planung der 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft, entwickelte sich aus der Zusammenarbeit des Delegierten des Bundesrates, Marco Solari, mit den Kantonen und privaten Organisationen ein dichtes Netz vielfältigster Projekte. Unter dem Leitmotiv der Begegnung hat die von über 90 Organisationen getragene "
Aktion Begegnung 91", welche als Informations- und Koordinationsstelle dient, Schwerpunktprojekte wie "Begegnung am Heimatort", das für Auslandschweizer bestimmte Programm " 1991 die Schweiz besuchen" sowie einen Lehrlingsaustausch zwischen den Sprachregionen vorbereitet. Andere Aktionen wie "Begegnen im Sport", getragen von den wichtigsten Sportorganisationen des Landes, und "Stern 91 ", eine Sternwanderung von verschiedenen Punkten der Landesgrenze bis in die Urschweiz als Beitrag der Schweizer Wanderwege gehören ebenso zu den Schwerpunkten der Begegnungsaktionen
[21].
Eine weitere private Koordinationsorganisation, "
Chance 700", setzte sich zum Ziel, Gegenakzente zu den offiziellen Feierlichkeiten zu setzen. Die Auseinandersetzung mit den Benachteiligten unserer Gesellschaft sollen den Schwerpunkt dieser Veranstaltungen bilden; so wurden denn Projekte wie eine therapeutische landwirtschaftliche Wohngemeinschaft, die Ausstellung "Altitudes" zur Entwicklung des Berggebiets, die Musikanimationsveranstaltung "Pop Schwiz" und eine Sternwanderung mit Menschen aus der dritten Welt geplant
[22].
Auch die Bundesversammlung will ihren eigenen Beitrag an die Feierlichkeiten leisten. Die von den Büros der beiden Räte eingesetzte Arbeitsgruppe sprach sich für eine
Frauensession, eine
Sondersession mit der Aufführung eines Theaterstücks im Nationalratssaal und eine
Jugendsession aus
[23].
Da der Delegierte für die 700-Jahr-Feier auf keinen Fall das Budget von 65 Mio Fr. überschreiten durfte, fielen seine Beiträge an die Kantone, welche aussergewöhnliche Aktionen planten, relativ niedrig aus. In
Graubünden hatte ein
Finanzreferendum gegen einen kantonalen Kredit von 3,2 Mio Fr. Erfolg, worauf die Regierung sämtliche Projekte des geplanten "Bündner Fest 91" ersatzlos strich; das "Fest der Solidarität" des Bundes im Kanton Graubünden wird davon allerdings nicht tangiert. In
Baselland hingegen scheiterte das von den Grünen und der GSoA ergriffene Referendum gegen einen Kredit von 1,7 Mio Fr. in der Volksabstimmung
[24].
Ein Jahr vor den Feiern wurde aber auch die
Privatwirtschaft aktiv und sicherte die Summe von ungefähr 10 Mio Fr. zu, welche für kantonale und private Projekte noch gefehlt hatten. So unterstützte Nestlé mit 3 Mio Fr. das Projekt "L'épopée de l'Europe", eine multimediale Präsentation der Schweiz aus europäischer Sicht, und Hoffmann-La Roche spendete 1,5 Mio Fr. für den Film "Switzerland". Auch die Migros und die SMH befinden sich unter den Sponsoren
[25].
Um den Feierlichkeiten auch eine Öffnung nach aussen zu ermöglichen, wurden neben dem privat organisierten internationalen Jugendtreffen auch
grenzüberschreitende Projekte der Kantone sowie grossangelegte Veranstaltungen von schweizerischen Botschaften im Ausland geplant
[26].
Im Rahmen der Enthüllungen der Parlamentarischen Untersuchungskommission zu den Vorkommnissen im EJPD sowie den weiteren Nachforschungen zur
Fichenaffäre innerhalb des EMD stellten sich bei vielen Kulturschaffenden Zweifel ein, ob sie sich an Kulturprojekten im Rahmen der 700-Jahr-Feierlichkeiten aktiv beteiligen sollen oder nicht. Bereits am Jahresanfang zog der Schriftsteller Gerold Späth aus Protest gegen den "Schnüffelstaat" sein für eine 700-Jahr-Feier-Serie von Radio DRS geschriebenes Hörspiel "Lasst hören aus alter Zeit" zurück. Die Diskussion um einen Kulturboykott wurde nun vor allem innerhalb der Autoren- und Autorinnen-Gruppe Olten geführt, ohne dass vorerst jedoch ein kollektiver Boykottentscheid zustandekam
[27].
In der Folge unterzeichneten über 700 Kulturschaffende aus der ganzen Schweiz die Erklärung "
Keine Kultur zur Feier des Schnüffelstaates". Sie machten die Abschaffung der politischen Polizei und die vollständige Offenlegung von allen Fichen und Dossiers bis Ende Jahr zur Bedingung für die Mitarbeit an kulturellen Veranstaltungen anlässlich der 700-Jahr-Feier
[28]. Nachdem diese Erklärung ohne wahrnehmbare Wirkung bei Regierung und Parlament geblieben war, gingen die Initianten einen Schritt weiter und liessen im April der Boykottdrohung den Boykottbeschluss folgen. Bis zum Juli unterschrieben über 500 Kulturschaffende die Boykotterklärung
[29].
Die
Gruppe Olten, welche sich 1989 noch grundsätzlich gegen einen Boykottaufruf ausgesprochen hatte, stimmte im Juni an ihrer Generalversammlung mit 22 Ja gegen 17 Nein bei 5 Enthaltungen
für die Unterstützung des Boykotts. Dass sich Gegner und Befürworter des Boykotts praktisch die Waage hielten, zeigte, wie umstritten diese Frage war. Einerseits betonten die Befürworter den Grundsatzcharakter der Boykottfrage. Kulturschaffende sollten dem Uberwacherstaat nicht durch konstruktive Kritik im Rahmen der Zentenarfeiern dienen, weil sie damit bloss eine Alibifunktion übernehmen und das bestehende Machtgefüge legitimieren würden. Gegner betonten, dass die Mitarbeit an den kulturellen Veranstaltungen eine einmalige Gelegenheit der Mitsprache und Mitgestaltung am kulturellen und politischen Geschehen in der Schweiz sei, die es nicht zu verpassen gelte
[30].
Die Debatte zum Kulturboykott und zum Verhältnis zwischen Staat und Kultur erfasste aber auch Organisationen, die nicht zum Kultursektor im engeren Sinn gehören. So haben Mitglieder verschiedener Aktionsgruppen das
Komitee "700 Jahre sind genug" gegründet; mit einem Manifest "Schweiz 1991: kein Grund zum Feiern" soll der Protest gegen die staatlich inszenierten Feierlichkeiten ausgedrückt werden. Als Gegenmanifestation zu den offiziellen Anlässen der Eidgenossenschaft plante das Komitee ein grosses Festival, das im Sommer 1991 in Saignelégier (JU) stattfinden und die "andere Schweiz" repräsentieren soll. Andere Veranstaltungen zu Themen wie Umweltschutz, Asylpolitik, Dienstverweigerung oder Bankenpolitik sind ebenfalls vorgesehen
[31].
Weiterführende Literatur
S. Borner / A. Brunetti / T. Straubhaar, Schweiz AG: Vom Sonderfall zum Sanierungsfall, Zürich 1990.
K. Eichenberger, "Staatsfähigkeit", in Schweizer Monatshefte, 69/1990, S. 1011 .ff.
U. Im Hof, "Nationale Identität der Schweiz: Konstanten und Wandel" in Schweizer Monatshefte, 69/1990, S. 917 ff.
H. Karasek, Nationale Identität und europäische Gemeinsamkeit (Referat vom 14.12.89 an der Hochschule St. Gallen), St. Gallen 1990.
H.-P. Meier Dallach / R. Ritschard / R. Nef, Nationale Identität - ein Fass ohne empirischen Boden?, Zürich 1990.
A. Muschg, Die Schweiz am Ende. Am Ende die Schweiz, Erinnerungen an mein Land vor 1991, Frankfurt 1990. Schnüffelstaat Schweiz: hundert Jahre sind genug, hg. vom Komitee "Schluss mit dem Schnüffelstaat", mit Beiträgen von D. Blanc e. a. und Texten von M. Frisch e. a., Zürich 1990.
"La Suisse noir sur blanc", Dossier du Canard enchaîné, Paris 1990.
P. Rüegg, Uber den Verfassungsrat in der heutigen Schweiz. Eine Untersuchung anhand der Verfassungsräte der Kantone Aargau, Solothurn, Basel-Landschaft und Uri, Zürich 1989.
Bundesverfassung:
R. Germann, Bundesverfassung und "Europafähigkeit" der Schweiz, Cahiers de l'IDHEAP Nr. 62, Lausanne 1990.
A. Kölz / J. P. Müller, Entwurf für eine Bundesverfassung vom 16. Mai 1984, zweite überarbeitete Auflage vom 14. Juli 1990, Basel 1990.
Bern:
Chancen und Grenzen der Totalrevision. Vortragsserie der Verfassungskommission, hg. vom Verfassungssekretariat, Bern 1989.
Vernehmlassungsbericht der Justizdirektion des Kantons Bern zum Verfassungsentwurf vom 25. September 1987 (Entwurf Zaugg), hg. vom Verfassungssekretariat, Bern 1989.
Zwischenbericht der Verfassungskommission. Ergebnisse der Beratungen August 1989-April 1990, hg. vom Verfassungssekretariat, Bern 1990.
Zürich:
R. Dünki, Verfassungsgeschichte und politische Entwicklung Zürichs 1814-1893, Zürich 1990.
R. Gamma, "Der erfolgreiche CH 91 Boykott", in Bresche, 1990, Nr. 12, S. 25 f.
A. Krättli, "Der Kulturboykott - ein Bumerang", in Schweizer Monatshefte, 69/1990, S. 561 ff.
[1]AT, 14.9. und 21.9.90; BaZ, 25.9.90.
[2] TA, 12.6.90; NZZ, 15.6.90; AT, 25.7.90.
[3] WoZ, 5.10.90; vgl. Lit. Muschg.
[4] Interview in TA, 31.12.90.
[5] Lib., 20.3.90; BaZ, 26.3.90; vgl. Lit. La Suisse noir sur blanc.
[6] NZZ, 10.7.90; SGT, 2.8.90; zu NFP 21 allgemein siehe TA, 11.7.90; vgl. Lit. Meier/Ritschard/Nef.
[7] Siehe unten, Teil 1, 7a (Arbeitszeit) und 8b (Kulturpolitik).
[8] VerhandL B. vers., 1990, V, S. 147 f.; NZZ und BZ, 19.9.90. Der Bericht zu einem Postulat Ott (sp, BL) mit ähnlicher Zielsetzung, 1987 eingereicht, sollte im Verlaufe des Jahres 1991 dem Parlament vorgelegt werden.
[9] TA, 24.3.90; NZZ, 15.5.90; vgl. SPJ 1986, S. 12 f. und SPJ 1987, S.14f.
[10] Verhandl. B.vers., 1991, I/II, S. 61 (GP), 65 (SP) und 117 (Nabholz). Zur Motion Rhinow siehe unten, Teil I, lc (Regierung, Parlament). Allgemeines in NZZ und BZ, 12.10.90. Zum Verfassungsrat vgl. auch NZZ, 15. I.90 sowie O. Reck, "Gesucht wird eine andere Schweiz", in Ww, 29.3.90 und Lit. Rüegg.
[11] SGT, 31.7.90; Presse vom 1.8.90; NZZ und TA, 12.10.90; DP, 29.11.90; vgl. auch die Interviews mit Kölz in TA, 12.10.90 und mit Müller in Bund, 20.10.90. Zum ursprünglichen Entwurf Kölz/ Müller siehe SPJ 1984, S. 13. Siehe auch Lit. Kölz/ Müller.
[12] Presse vom 1.8.90 und 21.11.90. Zur Gründung siehe SPJ 1984, S. 13.
[13] Gesch.ber. 1990, S. 193; NZZ, 26.9.90.
[14] Bund, 9.2. und 23.3.90; BZ und Bund, 30.5.90 (Kommissionsarbeit und Zwischenbericht); NZZ, 16.8.90; BZ, 14.9.90; Bund, 21.9.90 (Antwort der Regierung); Bund, 2.11.90 (Überarbeitung Kommission). Siehe auch Lit. Zwischenbericht und SPJ 1989, S. 16 f.
[15] SGT, 17.7. und 16.11.90; vgl. SPJ 1989, S. 17.
[16] NZZ, 26.9.90; SGT, 26.9.und 30.10.90; vgl. SPJ 1989, S. 17.
[17] BüZ, 1.6. und 4.10.90.
[18] LNN und Vat., 6.1 1.90.
[19] LNN, 21.4., 9.10., 28.11. und 3.12.90; Vat., 27.4. und 24.11.90. Vgl. auch SPJ 1989, S. 17 und 268.
[21] AT, 5.1.90; BüZ, 30.1.90 (Begegnung am Heimatort); NZZ, 30.3. (Begegnunng 91) und 6.4.90 (Sternmarsch). Vgl. auch die Ubersichten in SGT, 26.9.90 und SN, 28.12.90. Zu Aktionen in der Romandie: DP, 8.11.90.
[22] NZZ, 23.1.90. Vgl. auch Info 700, 1990, Nr. 11, S. 21.
[23] NZZ, 27.3.90; WoZ, 6.4.90.
[24] GR: BüZ, 20.3., 21.4., 8.6. und 24.9.90; WoZ, 28.9.90. BL: BaZ, 19.7., 5.9. und 24.9.90.
[25] Ww, 31.5.90; BZ und Vat., 26.7.90.
[26] BZ, 23.1.90; NZZ, 19.4.90; Ww, 24.5.90; 24 Heures, 28.12.90.
[27] Bund, 26.1.90; WoZ, 2.2.90. Vgl. auch SPJ 1989, S. 18.
[28] BaZ und WoZ, 2.2.90; Bund, 3.2.90.
[30] WoZ, 8.6.90; TA, 11.6.90.
[31] NZZ, 1.11.90; WoZ, 2.11.90.