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Grundlagen der Staatsordnung
Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
Der Nationalrat will die Idee der Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit überprüfen. – Der Bundesrat schlug ein neues Gesetz über den Schutz des Schweizerwappens vor. – Die Angst vor Arbeitslosigkeit war weiterhin die grösste Sorge der Bevölkerung.
Grundsatzfragen
Der Nationalrat befasste sich mit einer 2005 eingereichten parlamentarischen Initiative Studer (evp, AG), welche die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene verlangt. Gegen den Widerstand einer primär aus SVP-Abgeordneten gebildeten Minderheit empfahl die Kommission für Rechtsfragen, dem Vorstoss Folge zu geben. Die Kommissionsmehrheit war freilich nicht uneingeschränkt für die Einführung einer allgemeinen Überprüfung von Bundesgesetzen auf ihre Vereinbarkeit mit Verfassungsbestimmungen. Diese parlamentarische Initiative würde aber Gelegenheit bieten, die Wünschbarkeit der Einführung eines Verfassungsgerichtes und allfällige dabei entstehende Probleme im Detail abzuklären. Gemäss Kommissionssprecher Fluri (fdp, SO) habe zum Beispiel die Vereinheitlichung der kantonalen Prozessordnungen einen Rechtsabbau zur Folge gehabt. Diese wurden bisher von den Kantonen beschlossen und konnten vom Bundesgericht auf ihre Grundrechtskonformität überprüft werden. Heute sind sie als eidgenössische Erlasse von dieser Kontrolle befreit. Die Mehrheit des Plenums liess sich von den Argumenten der Rechtskommission überzeugen und gab der Initiative mit 80 zu 67 Stimmen Folge [1].
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Relativ knapp, mit 93 zu 83 Stimmen, lehnte der Nationalrat eine Motion Esthermann (svp, LU) ab, die ihn gezwungen hätte, jeweils zur Sessionseröffnung die Nationalhymne zu singen. Die erst seit einigen Jahren eingebürgerte Motionärin hatte sich von diesem patriotischen Akt eine Stärkung des nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls versprochen. Mit dieser Ablehnung war die Sache aber nicht erledigt. Gleichentags reichte die Sozialdemokratin Marra (VD) eine Motion ein, welche die instrumentale Darbietung der Nationalhymne zu Beginn einer neuen Legislaturperiode (nach der Vereidigungszeremonie des neugewählten Parlaments) fordert. In der Wintersession hiess der Nationalrat diesen Vorstoss diskussions- und oppositionslos gut [2].
Die Luzerner Behörden sahen vorerst noch keinen Anlass, das Konzept für die Feier der Schlacht von Sempach zu ändern. Diese wurde auch dieses Jahr wieder von Rechtsradikalen für einen Grossaufmarsch benutzt. Ihren rund 250 Personen standen, von der Polizei abgetrennt, rund 100 dagegen protestierende Jungsozialisten gegenüber. Die eigentliche Feier fand witterungsbedingt in einer Kirche und ohne die Rechtsradikalen statt; letztere marschierten anschliessend allein zum Schlachtgelände. Nach der Kundgebung kündigte die Luzerner Kantonsregierung die Ausarbeitung eines neuen Konzepts für die Durchführung dieses Anlasses an [3].
Als Zweitrat stimmte auch der Ständerat dem Gesetz über die Rehabilitierung der schweizerischen Kämpfer auf republikanischer Seite im Spanischen Bürgerkrieg von 1936-39 zu. In der Schlussabstimmung hiess die grosse Kammer die Rehabilitierung der Spanienkämpfer gegen den Widerstand der SVP mit 133 zu 50 Stimmen gut, der Ständerat mit 35 zu 4 Stimmen. Im Berichtsjahr publizierte eine Fachkommission einen Bericht über den Vollzug des 2004 in Kraft getretenen Gesetzes über die Aufhebung von Strafurteilen gegen Flüchtlingshelfer zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland [4].
Im November publizierte der Bundesrat seine Botschaft zur Änderung des Markenschutzgesetzes und zu einem neuen Bundesgesetz über den Schutz des Schweizerwappens und anderer öffentlicher Zeichen (so genannte Swissness-Vorlage). Über die doch primär wirtschaftspolitischen Aspekte dieser Vorlage, insbesondere die präzise Definition des Merkmals „schweizerisch“, berichten wir unten (Teil I, 4a, Strukturpolitik). Das neue Bundesgesetz über den Schutz des Schweizerwappens und anderer öffentlicher Zeichen will eine klar definierte Unterscheidung einführen: Das Wappen (Schweizerkreuz in einem Wappenschild) der Eidgenossenschaft darf grundsätzlich nur noch von dieser selbst oder von ihren Einheiten (Bundesämter, Bundesbetriebe etc.) verwendet werden. Den wenigen Firmen, welche dieses Schweizerwappen seit Jahrzehnten für ihre Waren und Dienstleistungen aus der Schweiz verwenden, kann das EJPD ein Weiterbenutzungsrecht erteilen. Die Schweizerfahne und das Schweizerkreuz hingegen sollen künftig von allen Herstellern von Produkten und Anbietern von Dienstleistungen verwendet werden dürfen, welche die Voraussetzungen zur Verwendung der Markenbezeichnung «Schweiz» erfüllen [5].
Sowohl die Kantonsregierungen der Nordostschweiz als auch diejenigen des Gotthardraums beschlossen, die Idee einer schweizerischen Landesausstellung in ihrer Region vertieft analysieren zu lassen. Als Zeithorizont für die Durchführung der Ausstellung steht für die Gebirgskantone das Jahr 2020, für die Nordostschweiz das Zeitfenster 2022-2032 im Vordergrund [6].
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Die von der GfS-Bern im Auftrag der Crédit Suisse jährlich durchgeführte repräsentative Befragung über die wichtigsten Sorgen der Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz ergab erneut keine markanten Veränderungen gegenüber dem Vorjahr. Die Wirtschaftkrise wirkte sich nun aber voll aus und die Angst vor Arbeitslosigkeit, die seit 2003 immer an der Spitze gelegen hatte, legte nochmals um dreizehn Prozentpunkte auf 71% zu. Auf den nächsten Rängen der Sorgenliste folgten weiterhin das Gesundheitswesen und die Altersvorsorge. Die Angst vor Inflation, welche im Vorjahr im Zusammenhang mit der Preisexplosion auf dem Erdölmarkt und den stark ansteigenden Lebensmittelpreisen prominent auf dem vierten Rang aufgetaucht war, verschwand wieder in der Versenkung (Position 13) [7].
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Kantonale Verfassungsrevisionen
Im Kanton Genf nahm der im Vorjahr gewählte Verfassungsrat im Februar seine auf rund drei Jahre veranschlagte Arbeit auf [8].
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Weiterführende Literatur
Ackermann Oettinger, Christine, "Die Schweiz ist ein politisches Versuchsfeld ...": Die Bedeutung Deutschlands und Frankreichs im Lernprozess nationaler Identität 1870-1900, s.l. (Diss phil. I Zürich) 2009.
Huber, Peter / Hug, Ralph, Die Schweizer Spanienfreiwilligen, Zürich 2009.
Mazzoleni, Oscar / Ratti, Remigio, Identità nella globalità : le sfide della Svizzera italiana, Lugano 2009.
Schürer, Stefan, Die Verfassung im Zeichen historischer Gerechtigkeit: Schweizer Vergangenheitsbewältigung zwischen Wiedergutmachung und Politik mit der Geschichte, Zürich (Diss.) 2009.
Schürer, Stefan, „Staatliche Vergangenheitsbewältigung zwischen später Wiedergutmachung und Politik mit der Geschichte“, in Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht, 2009, S. 649-75.
Suter, Christian e.a. (Hg.), Sozialbericht 2008, Zürich 2009.
Villiger, Kaspar, Eine Willensnation muss wollen: Die politische Kultur der Schweiz: Ein Zukunfts- oder Auslaufsmodell?, Zürich 2009.
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Ehrenzeller, Bernhard / Nobs, Roger, „Gemeinsamkeiten und Unterschiede der totalrevidierten Kantonsverfassungen“, in Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht, 2009, S. 1-31.
Haller, Walter, The Swiss constitution in a comparative context, Zurich 2009.
Kreis, Georg (Hg.), Erprobt und entwicklungsfähig: Zehn Jahre neue Bundesverfassung, Zürich 2009.
Nef, Robert, „Soll Völkerrecht Landesrecht brechen?“, in Schweizer Monatshefte, Sonderthema (Nr. 4) 2009.
Rhinow, René / Schefer, Markus, Schweizerisches Verfassungsrecht, Basel 2009 (2. erw. Aufl.).
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[1] AB NR, 2009, S. 689 ff. Zur Überprüfung von Volksinitiativen auf ihre Übereinstimmung mit Grund- und Menschenrechtsprinzipien siehe unten, Teil I, 1c (Volksrechte).
[2] AB NR, 2009, S. 1795 f. (Esthermann) und 2332 (Marra). Eine mit der Motion Marra praktisch identische Motion der SVP-Fraktion wurde von Sommaruga (sp, GE) bekämpft und ihre Behandlung verschoben (AB NR, 2009, S. 2332).
[3] NLZ, 20.1., 13.6. und 29.6.09; TA, 29.6.09. Siehe SPJ 2008, S. 15. Zum vom BR vorgeschlagenen Verbot für die Zurschaustellung rechtsradikaler Insignien siehe unten, Teil I, 1b (Grundrechte).
[4] Spanienkämpfer: AB SR, 2009, S. 174 ff. und 280; AB NR, 2009, S. 594; BBl, 2009, S. 1987 f. Siehe dazu auch Lit. Huber / Hug. Flüchtlingshelfer: BBl, 2009, S. 3323 ff. Siehe SPJ 2003, S. 14 f. resp. 2008, S. 15 f.
[5] BBl, 2009, S. 8533 ff. Reaktionen: BaZ und BüZ, 19.11.09. Zu den Firmen, welche das Wappen bisher benutzt haben, siehe NLZ, 8.8.09. Siehe SPJ 2008, S. 16 und 99.
[6] Nordostschweiz: SGT, 11.4.09. Gotthard: BüZ, 10.11.09. Siehe SPJ 2008, S. 16.
[7] NLZ und NZZ, 15.12.09. Es wurde nach den fünf wichtigsten Sorgen gefragt, Mehrfachnennungen waren also erlaubt. Vgl. SPJ 2008, S. 16.
[8] LT, 3.2., 27.3. und 29.5.09. Siehe SPJ 2008, S. 17.
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