Massnahmenpaket zur Drogenpolitik: Ärztlich kontrollierter Zugang zu Heroin (1991–1997)

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Bedeutend umstrittener als die Bekämpfung des Drogenhandels war nach wie vor die Frage nach dem Umgang mit den Drogensüchtigen. Neu lanciert wurde die Debatte durch die Publikation des Berichtes «Aspekte der Drogensituation und der Drogenpolitik in der Schweiz», der im Auftrag des Bundesrates von der Subkommission Drogenfragen der Eidg. Betäubungsmittelkommission erstellt worden war. Die Autoren des Berichts befürworteten eine generelle Straffreiheit für den Drogenkonsum und den Besitz von Kleinstmengen zum Eigengebrauch sowie ein niedrigeres Strafmass für süchtige Dealer, empfahlen aber eine schärfere Verfolgung des Handels. Eine generelle Unterscheidung zwischen «harten» und «weichen» Drogen lehnten sie aus fachlichen Gründen ab, ebenso die staatlich kontrollierte Abgabe von Heroin an Süchtige; dafür wurden Ersatzprogramme, in erster Linie mit Methadon, und die Schaffung von geeigneten Auffangstrukturen befürwortet.

Dossier: Bundesbeschluss über die ärztliche Verschreibung von Heroin

In der anschliessenden Vernehmlassung in den Kantonen zeigte sich, dass der traditionelle «Röstigraben» nun auch von einen «Haschischgraben» überlagert wird. Während sich die deutschsprachigen Kantone – zum Teil zwar mit gewissen Vorbehalten in bezug auf die Straffreiheit beim Konsum von «harten» Drogen, vereinzelt aber auch mit weitergehenden Empfehlungen, z.B. der Abgabe von Heroin an Süchtige – für die im Drogenbericht enthaltenen Vorschläge aussprachen, lehnten die welschen Kantone und der Tessin jegliche Straffreiheit kategorisch ab. Interessant war dabei die Haltung der Zürcher Kantonsregierung, die sich für eine Liberalisierung bei den «weichen» Drogen aussprach, den Handel und Konsum von «harten» Drogen aber weiterhin unter Strafe stellen möchte und die Abgabe von Heroin an Süchtige ablehnte. Sie stellte sich damit in einen gewissen Widerspruch zum Zürcher Kantonsrat, der im September die Regierung aufgefordert hatte, eine Standesinitiative einzureichen, welche eine Liberalisierung des Betäubungsmittelgesetzes in dem Sinne verlangen sollte, dass der Handel und Konsum von Drogen geringer Gefährlichkeit und der Konsum sowie die Beschaffung der übrigen Drogen zum Eigengebrauch straffrei werden sollten.

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In diesem Klima der allgemeinen Verunsicherung wäre ein klärendes Wort des Bundesrates besonders nötig gewesen. Doch darauf wartete man bis Ende 1990 vergeblich, obgleich die Landesregierung bereits im Mai anlässlich einer Klausurtagung von der Auswertung der Vernehmlassung zum Drogenbericht Kenntnis nahm und Bundesrat Cotti verschiedentlich eine baldige Stellungnahme versprach. Als Hauptgrund für diese Verzögerung wurde der Umstand angesehen, dass die Vernehmlassung zwar eine deutliche Mehrheit für die Entkriminalisierung des Drogenkonsums ergeben hatte – 15 Kantone und fünf Parteien (FDP, GB, GP, LdU und SP) waren dafür –, dass sich aber die welschen Kantone und der Tessin vehement dagegen aussprachen und sich zwei der vier Bundesratsparteien (CVP und SVP) ebenfalls deutlich reserviert zeigten.

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Im Februar 1991 verabschiedete der Bundesrat das längst erwartete Massnahmenpaket zur Drogenpolitik, mit dem er ein deutlich stärkeres Engagement des Bundes zur Verminderung der Drogenprobleme in der Schweiz signalisieren wollte. Dabei hielt sich die Landesregierung aber weiterhin an die Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen gemäss geltendem Betäubungsmittelgesetz (BetmG), wonach die Kantone für Aufklärung, Beratung und Betreuung zuständig sind und dem Bund nur Unterstützungs- und Koordinationsaufgaben zukommen. Um diese Funktionen inskünftig besser wahrnehmen zu können, erhöhte der Bundesrat die finanziellen Mittel in diesem Bereich von CHF 200'000 auf CHF 8.5 Mio. für 1992 und CHF 8.7 Mio. für 1993; der für Drogenfragen zuständige Personaletat des BAG wurde von 1.6 auf 10 Stellen angehoben. Mit seinem Massnahmenpaket setzte sich der Bundesrat zum Ziel, bis 1993 eine Stabilisierung der Anzahl Drogenabhängiger und bis 1996 eine Reduktion um 20 Prozent zu erreichen.

Prävention, Ausbildung, Therapie und Forschung bilden die Hauptpunkte der bundesrätlichen Strategie. So beschloss die Landesregierung, ab Herbst eine gesamtschweizerische Medienkampagne durchzuführen, um einerseits das allgemeine Verständnis für die Ursachen und Probleme der Drogensucht, für die Prävention, die Therapie und die Betreuung zu fördern, andererseits zielgruppenspezifisch die potentiell Gefährdeten, insbesondere die Jugendlichen direkt anzusprechen. Als zweiter Schwerpunkt will der Bundesrat Ausbildungsprogramme der Kantone für Fachpersonal im präventiven Bereich oder zur Betreuung und Behandlung von Drogenabhängigen unterstützen. Bei den Forschungsaktivitäten wurde das Hauptgewicht auf Begleitforschung gelegt. So soll zum Beispiel abgeklärt werden, ob Präventionsmassnahmen die in sie gesteckten Erwartungen erfüllen. Auch wurde vorgesehen, die medizinisch verordnete Abgabe von Betäubungsmitteln an Abhängige sowie die sogenannten Fixerräume im Rahmen von wissenschaftlich abgestützten Pilotprojekten auf ihre Zweckmässigkeit hin zu untersuchen.

Entgegen den Empfehlungen, welche die Subkommission «Drogenfragen» der Eidgenössischen Betäubungsmittelkommission 1989 abgegeben hatte, und denen sich in der Folge 15 Kantone, vier Parteien (FDP, GPS, LdU, SPS) sowie die Landeskirchen anschlossen, konnte sich der Bundesrat zu keiner Entkriminalisierung des Drogenkonsums durchringen. Bundespräsident Cotti betonte, es sei nicht primär die von der Romandie und dem Tessin verfochtene harte Haltung, die den Bundesrat zu einem Verzicht auf eine Revision des BetmG bewogen habe, sondern der Umstand, dass auch die Nachbarländer ausnahmslos den Konsum und Kleinhandel bestraften und die Empfehlungen der internationalen Organisationen in die gleiche Richtung zielten.

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Das Massnahmenpaket des Bundesrates vermochte weder die Verfechter einer harten noch die Vertreter einer liberalen Drogenpolitik zu überzeugen. Hauptpunkt der Kritik war, dass sich der Bundesrat nicht imstande gezeigt habe, eine klare Linie einzunehmen. Einerseits, so wurde bedauert, erteile die Regierung mit ihrer Weigerung, das BetmG im Sinn einer Entkriminalisierung zu revidieren, all jenen eine Absage, die neue Wege bei der Bewältigung des Drogenelends suchten; andererseits sei er aber offenbar auch nicht gewillt, das bestehende Gesetz voll anzuwenden und entziehe so jenen Behörden den Boden unter den Füssen, welche sich von der harten Repression eine Lösung des Drogenproblems erhofften; anstatt zur längst notwendigen Klärung trage der Bundesrat so zur Verfestigung der Orientierungslosigkeit bei und zementiere eine Drogenpolitik des ständigen Zögerns, deren vorprogrammiertes Scheitern eigentlich allen klar sein müsste.

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Der einzig neue Ansatzpunkt schien die Bereitschaft des Bundesrates zu sein, die Auswirkungen einer diversifizierten Drogenabgabe an Abhängige zu prüfen. Allgemein wurde dies als Zustimmung des Bundes zu den vor allem in den Städten Basel, Bern und Zürich seit längerem geforderten gezielten Versuchen mit der medizinisch kontrollierten Abgabe von Heroin verstanden, welche ein Gutachten des EJPD vom Vorjahr als rechtlich nicht ganz unbedenklich, aber doch zulässig eingestuft hatte. Im Kanton Bern und in der Stadt Zürich gaben die Legislativen bereits grünes Licht für derartige Versuche.

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Politisch Verantwortliche der vom Drogenelend besonders betroffenen Städte sowie Drogenfachleute reagierten mit Unverständnis und Enttäuschung auf die in der Fragestunde der Wintersession 1991 erfolgte Ankündigung Cottis, bei den geplanten Versuchen Heroin nicht zulassen zu wollen. Als Alternative nannte der Vorsteher des EDI Morphin, welches als anerkanntes Medikament problemlos und in guter Qualität erhältlich sei. Er begründete seinen Entscheid mit den Bedenken, durch eine ärztlich verordnete Heroinabgabe könnte das BetmG ausgehöhlt werden. Seine Kritiker hielten ihm entgegen, die Versuche seien ja gerade geplant worden, um Erfahrungen im Hinblick auf eine Änderung der Betäubungsmittelgesetzgebung zu sammeln; Heroin von diesem Versuch auszuschliessen, bedeute, dass wirkliche Erkenntnisse nun gar nicht mehr möglich seien. Sie wiesen auch darauf hin, dass die Kantone für Versuche mit Morphin nicht der Zustimmung des Bundes bedurft hätten; da Morphin im Rahmen der kantonalen Gesundheitsgesetze mit Einwilligung der Kantonsärzte verschrieben werden kann, sei dies ein Schritt in die falsche Richtung, nämlich hin zu einem noch grösseren Föderalismus, wodurch die gravierenden regionalen Unterschiede noch verschärft würden.

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Die von Politikern, Medien und Fachleuten immer lauter geforderte Koordinationsaufgabe des Bundes bei der Definition einer gesamtschweizerischen Drogenpolitik versuchte die Regierung durch die Einberufung einer nationalen Drogenkonferenz am 1. Oktober wahrzunehmen, an welcher unter dem Vorsitz von Bundespräsident Cotti Mitglieder der Kantonsregierungen, Vertreter interkantonaler Gremien und des Städteverbandes sowie Beamte des EDI, des EJPD und des EDA das Massnahmenpaket des Bundes diskutierten. Die Arbeitstagung vermochte die bekannten Meinungsverschiedenheiten – so etwa zwischen einer mehr dem Liberalismus verpflichteten Deutschschweiz und einer der Repression zuneigenden Romandie – nicht auszuräumen und brachte ausser einem recht vagen Bekenntnis zu verstärkter Zusammenarbeit nichts grundsätzlich Neues.

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Anfangs Jahr gab das BAG eine Verordnung in die Vernehmlassung, welche die Betreuungs-, Präventions- und Ausbildungsprogramme auf nationaler Ebene regelt und die Rahmenbedingungen für die vom Bund übernommene wissenschaftliche Begleitforschung absteckt. Eine Neuausrichtung erfuhr die Drogenpolitik insofern, als Versuche mit der ärztlich kontrollierten und von therapeutischen Massnahmen flankierten Abgabe von injizierbaren Betäubungsmitteln zugelassen werden sollten. Wie bereits zu Ende des Vorjahres von Bundesrat Cotti angedeutet, wurden dafür Morphin und Methadon vorgesehen, nicht aber Heroin, da dieses nach geltendem Betäubungsmittelgesetz nicht zu den verschreibbaren Medikamenten gehört. Drogenfachleute und Verantwortliche der vom Drogenproblem besonders betroffenen Städte und Kantone distanzierten sich von diesem Entscheid. Sie kritisierten, dass ohne Einbezug von Heroin die wissenschaftlichen Versuche nicht aussagekräftig seien. In einer mehrheitlich vom Heroinkonsum geprägten Drogenszene sei die Untersuchung der Auswirkungen einer medizinischen Abgabe auf die Verelendung oder die AIDS-Prophylaxe nur relevant, wenn dafür auch die am meisten konsumierte Droge eingesetzt werden könne. Zudem sei es wenig sinnvoll, ein Betäubungsmittel (Morphium) zusätzlich einzuführen, welches heute kaum gehandelt und konsumiert werde.

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Als die Vernehmlassung klar zeigte, dass mit Ausnahme der SVP alle Bundesratsparteien und eine Mehrheit der Kantone sowie der Städteverband Versuche mit der medizinisch indizierten Abgabe von Heroin befürworten, begann sich ein Sinneswandel Cottis abzuzeichnen. Nun war es aber der Gesamtbundesrat, der sich mit einem Entscheid schwer tat und diesen deshalb wiederholt vertagte. Mitte Mai 1992 gab der Bundesrat dann doch noch grünes Licht für die Heroinversuche, wenn auch unter sehr strengen Rahmenbedingungen: Die bis Ende 1996 befristeten wissenschaftlichen Versuche brauchen eine Bewilligung des Bundes sowie des jeweiligen Kantons und sind auf 50 Personen zu beschränken. Das BAG rechnete damit, dass ungefähr zehn Projekte durchgeführt werden, davon maximal fünf mit Heroin, die restlichen mit Morphin oder injiziertem Methadon.

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Die Drogenfachleute reagierten erleichtert, bedauerten aber die geringe Teilnehmerzahl, da damit kaum schlüssige Resultate erreicht werden könnten. Die Städte Basel, Bern, Freiburg, St. Gallen, Solothurn, Zug und Zürich meldeten umgehend ihr Interesse an, mindestens einen Versuch mit harten Drogen durchzuführen. Der Beginn der Versuche wurde auf Herbst 1992 in Aussicht gestellt. Der Erlass der entsprechenden Verordnung verzögerte sich jedoch bis Ende Oktober, so dass frühestens 1993 damit gestartet werden kann. Die vom Bundesrat gesetzten Rahmenbedingungen lassen 13 Versuche zu, fünf davon mit Heroin. In die Heroinversuche können nur schwerstabhängige, verelendete oder sich prostituierende Drogensüchtige einbezogen werden, welche volljährig und seit mindestens zwei Jahren nachweisbar drogenabhängig sind sowie mindestens zwei gescheiterte Entzüge hinter sich haben und für andere Therapieprogramme nicht in Frage kommen.

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Die ebenfalls zum Massnahmenpaket des Bundes gehörende Informationskampagne zur Drogensuchtprävention kam in der Bevölkerung gut an und konnte im Laufe des Sommers in eine zweite; vertiefende Phase treten, in welcher das BAG seine Zusammenarbeit mit Beratungsstellen und Hilfsorganisationen auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene verstärken will, um zu gewährleisten, dass gefährdeten Menschen eine Beratung und Betreuung in der näheren Umgebung zur Verfügung steht.

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Ende Juni 1993 gab das BAG bekannt, welche Projekte beim Versuch einer kontrollierten Drogenabgabe an Süchtige bewilligt werden. In acht Städten sollen 700 Drogensüchtige unter ärztlicher Kontrolle Heroin, Morphin oder injizierbares Methadon erhalten. 250 Drogenkranken in Bern, Thun, Olten, Zürich und Basel wird Heroin zur Verfügung gestellt, 250 Süchtige in Bern, Thun, Olten, Basel, Schaffhausen, Zug und Zürich bekommen Morphin und weitere 200 Drogenabhängige in Bern, Freiburg, Basel und Zürich injizierbares Methadon. Da die politisch Verantwortlichen der Romandie (mit Ausnahme des Kantons Freiburg) jede Liberalisierung in der Drogenpolitik ablehnen, ist die Westschweiz an den Projekten nicht beteiligt. Angesichts der geringen Anzahl von Versuchsteilnehmern – 700 von den auf rund 30'000 geschätzten Drogensüchtigen in der Schweiz – warnte das BAG vor zu hohen Erwartungen bezüglich der Bewältigung des Drogenproblems. Im Zentrum des therapeutischen Interesses steht die Beobachtung der individuellen biographischen Entwicklung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Ziel der Versuche ist es, eine Verbesserung des körperlichen und psychischen Gesundheitszustandes, eine Erleichterung der sozialen Integration und Arbeitsfähigkeit, eine Distanzierung von der Drogenszene und einen Abbau des deliktischen Verhaltens zu erreichen. Die Ergebnisse sollen die nötigen Grundlagen zur Formulierung einer neuen Drogenpolitik liefern. Die Versuche laufen bis Ende 1996 und sind weltweit die ersten dieser Art. Begonnen wurde Ende Jahr mit einem ersten Projekt in Zürich, welches sich ausschliesslich an drogensüchtige Frauen mit ihren spezifischen Problemen richtet.

Das BAG trug zudem der von Drogenfachleuten vielfach geäusserten Kritik an seinen Vorgaben Rechnung und revidierte die Rahmenbedingungen für die Versuche. Der Begriff der Schwerstabhängigkeit wurde durch jenen der Drogensucht mit negativen gesundheitlichen oder sozialen Folgen ersetzt, die untere Altersgrenze von 20 Jahren nur noch als Richtlinie definiert und der Nachweis von zwei gescheiterten Entzugsversuchen nicht mehr als Bedingung vorgeschrieben. Entscheidend für die Teilnahme an den Versuchen ist, dass beim Probanden bisherige Behandlungen versagt haben oder aus nachweisbaren Gründen nicht in Frage kommen. Finanziell kam der Bund den ausführenden Kantonen insofern entgegen, als er – neben der Beschaffung des Heroins bei einer Pharmafirma in Frankreich und der auf CHF 2.2 Mio. veranschlagten Begleitforschung – seinen Beitrag pro Versuchsteilnehmer von CHF 1000 auf CHF 3000 erhöhte. Das Schweizer Projekt ist insofern einzigartig, als in England, wo seit Jahren mit Erfolg das «Liverpooler Modell» der medizinisch überwachten Drogenabgabe funktioniert, der Staat diese Abgabe zwar toleriert, dabei aber keine aktive Rolle spielt.

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Dennoch bekundeten einzelne Kantone grosse Schwierigkeiten mit der Finanzierung, insbesondere auch, da sich die Krankenkassen weigerten, einen Beitrag an die Projekte auszurichten, obgleich sie vom BAG dazu aufgefordert worden waren. Vor allem in Kantonen, welche für grössere Ausgaben das Finanzreferendum kennen, stellte sich die Frage, wie die vielfach umstrittenen Versuche einer Volksabstimmung entzogen werden könnten. In Bern entschloss man sich schliesslich dazu, die Projekte in einzelne Vorlagen aufzusplitten, um damit unter der für das Finanzreferendum massgeblichen Grenze zu bleiben. In Basel-Stadt wies der anbegehrte Kredit nur die Nettobelastung des Kantons aus und blieb damit ebenfalls unterhalb der Referendumslimite.

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Das Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Lausanne zog 1993 im Auftrag des BAG eine erste Bilanz der Massnahmen des Bundes zur Verminderung der Drogenprobleme und machte dabei vor allem Lücken in den auf ganz junge Menschen ausgerichteten Präventionsmassnahmen aus.

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In die Drogenpolitik des Bundes kam im Berichtsjahr 1994 neue Bewegung. Die Landesregierung bekundete ihr zunehmendes Engagement durch die Schaffung einer Drogendelegation, bestehend aus Bundesrätin Dreifuss (Vorsitz) und den Bundesräten Koller und Villiger, sowie durch die Einsetzung einer interdepartementalen Arbeitsgruppe für Drogenfragen auf Verwaltungsebene. Gleichzeitig bekräftigte sie ihren Willen, mit der seit 1992 eingeschlagenen Drogenpolitik fortzufahren und insbesondere die Versuche mit der medizinisch kontrollierten Abgabe von harten Drogen zu intensivieren.

Anfangs Oktober 1994 zog Dreifuss eine erste positive Zwischenbilanz der verschiedenen Projekte. Sie führte aus, der Gesundheitszustand der in den Versuchen betreuten Patientinnen und Patienten habe sich deutlich gebessert, und es sei gelungen, mit marginalisierten, desintegrierten und verelendeten Süchtigen den Kontakt aufzunehmen und sie in einen therapeutischen Prozess mit strengen Regeln einzugliedern. Aus diesem Grund – und weil die Verabreichung von Morphin vor allem bei Frauen starke Nebenwirkungen gezeigt hatte – beschloss der Bundesrat, die Heroinversuche mittelfristig auf rund 1000 Probandinnnen und Probanden auszudehnen und gleichzeitig die 250 bestehenden Morphin- in Heroinplätze umzuwandeln. Allein in Zürich sollen rund 300 Schwerstabhängige Heroin erhalten.

Andererseits will der Bundesrat seine Anstrengungen im Bereich Therapie und Rehabilitation von Drogensüchtigen ausbauen und die Kantone bei der Schaffung eines qualitativ hochstehenden Therapieangebots unterstützen sowie die dafür notwendigen Mittel zur Verfügung stellen. Insbesondere sollen Startbeiträge für neue Angebote in der stationären Drogentherapie ausgerichtet werden. Zwischen 1994 und 1998 ist so die Inbetriebnahme von jährlich fünf bis sieben Projekten mit rund 380 zusätzlichen Behandlungsplätzen vorgesehen, womit das gesamtschweizerische Angebot um etwa ein Viertel vergrössert würde. Bis ins Jahr 2000 rechnet der Bundesrat dafür mit Ausgaben von CHF 13.3 Mio., welche noch der Zustimmung des Parlaments bedürfen.

Als dritte Massnahme setzte der Bundesrat eine Expertenkommission ein, welche bis Ende 1995 Vorschläge für eine Revision des Betäubungsmittelgesetzes ausarbeiten soll. Im Zentrum der Diskussionen stehen dabei die Regelungen des fürsorgerischen Freiheitsentzugs (FFE) zur Einleitung einer Therapie, die Entkriminalisierung des Drogenkonsums und seiner Vorbereitungshandlungen sowie die Ausdehnung der ärztlich kontrollierten Verschreibung von Betäubungsmitteln an Drogenabhängige.

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Gestützt auf die Empfehlungen der Praktiker beschloss der Bundesrat Ende Januar 1995, die Versuchsprogramme mit der medizinisch kontrollierten Drogenabgabe deutlich umzugewichten. Wegen der relativ schlechten Akzeptanz der intravenösen Verabreichung von Morphin und Methadon wurden diese Versuchsplätze von je 225 auf 100 reduziert, die Zahl der Patientinnen und Patienten, die Heroin erhalten, dagegen gesamtschweizerisch auf 500 erhöht. Die weitgehende Konzentration auf Heroinprogramme war im Vorjahr vom Bundesrat bereits angekündigt und von der Überregionalen Ethikkommission der Akademie der Medizinischen Wissenschaften bejaht worden. Obgleich das International Narcotic Control Board der UNO (INCB) die Versuche mit der kontrollierten Abgabe weiterhin argwöhnisch beobachtete, stimmte es doch indirekt der Umwandlung der Projektanlage zu und gestattete der Schweiz eine Erhöhung der jährlichen Importmenge an Heroin von 117 auf 200 Kilo. Sowohl auf Druck von Kantonen und Gemeinden als auch aus wissenschaftlichen Gründen – die Wissenschaft erhoffte sich davon breiteres Datenmaterial – erhöhte der Bundesrat im Mai die Anzahl der Heroinplätze um weitere 300 auf 800. Neu bewilligt wurden insbesondere Programme im Grossraum Zürich und in den Städten Biel, Genf, Luzern, St. Gallen und Solothurn sowie in einer Strafanstalt im Kanton Solothurn. Da das Gesamtprojekt Ende 1996 abgeschlossen sein muss, erklärte der Bundesrat gleichzeitig, dass es sich dabei um die letzte Ausdehnung der Heroinplätze im Rahmen dieser Versuchsreihe handelt. Die von der UNO Anfang März bewilligten Heroinimporte genügen für die Belieferung der zusätzlichen Therapieplätze, weshalb die Bundesbehörden für diesen Schritt nicht der Zustimmung des INCB bedurften.

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Als erster welscher Kanton will sich auch Genf an den Versuchen mit der medizinisch kontrollierten Heroinabgabe beteiligen. Der Genfer Grosse Rat nahm eine entsprechende – von allen Parteien mit Ausnahme der LP unterstützte – Motion ohne grosse Diskussionen an. Der Staatsrat stimmte ebenfalls zu, worauf Genf in die Liste der Teilnehmer an den ausgeweiteten Heroinprogrammen aufgenommen wurde. Aber auch in den anderen Westschweizer Kantonen weichten sich die starren Fronten – zumindest was die Methadon- und Spritzenabgabe anbelangt – allmählich auf.

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Die Kantone Basel-Stadt und Solothurn beantragten beim BAG, versuchsweise in ausgewählten Strafanstalten Heroin an Häftlinge abgeben zu dürfen. Das BAG erteilte dem weltweit einmaligen Projekt grünes Licht und auch Bundesrätin Dreifuss stellte sich ausdrücklich hinter das brisante Vorhaben. Ab Mitte Jahr wurden daraufhin in der solothurnischen Strafanstalt Oberschöngrün Heroinprogrammplätze geschaffen, wobei die Bedingungen zur Teilnahme gleich definiert wurden wie in den Drogenversuchen des Bundes. Auch dieses Projekt wird wissenschaftlich begleitet und ausgewertet.

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Das BAG und die Wissenschafter, welche die Versuche mit der kontrollierten Drogenabgabe im Auftrag des Bundes begleiten und evaluieren, zogen Ende Jahr eine mehrheitlich positive Zwischenbilanz. Nach ihren Erkenntnissen verbessert die ärztliche Verschreibung von Betäubungsmitteln die gesundheitliche und psychosoziale Situation schwerstabhängiger Patientinnen und Patienten erheblich. 82 Prozent der Probanden blieben mindestens sechs Monate in Behandlung, was gegenüber den traditionellen Therapieformen (Entzug oder Methadon) eine sehr hohe «Haltequote» bedeutet. Als akzeptierteste Therapieform erwies sich dabei die Abgabe von oralem Methadon mit einer täglichen Heroininjektion. Auch die Lebensumstände der Betroffenen verbesserten sich wesentlich. Während des ersten halben Jahres ihrer Teilnahme an den Versuchen stabilisierte sich bei 89 Prozent die Wohnsituation; die Obdachlosigkeit ging von 15 Prozent auf 3 Prozent zurück. Statt 18 Prozent gingen nach sechs Monaten 46 Prozent der Versuchsteilnehmer einer einigermassen geregelten Erwerbstätigkeit nach. Die Kriminalität ging rapide zurück und der Gesundheitszustand machte markante Fortschritte. Nach Meinung der Experten wäre deshalb eine dauerhafte Abgabe von Heroin durchaus geeignet, jene stark marginalisierte Gruppe von langjährigen Heroinabhängigen zu erreichen, die in allen anderen Behandlungsformen gescheitert sind. Problematisch wurde allerdings von allen Beteiligten der Ausschluss von Kokain aus dem Therapieangebot erachtet, da dieses von den Süchtigen häufig in Ergänzung zu Heroin konsumiert wird.

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