<<>>
Grundlagen der Staatsordnung
Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
A part quelques travaux systématiques, ce sont les analyses de divers processus qui prédominent parmi les études sur les problèmes fondamentaux de la politique suisse — Nouvelles critiques touchant l'ordre politique et social établi — Le Conseil fédéral invite le parlement à lui donner le feu vert pour l'élaboration d'une nouvelle Constitution — Malgré le refus du peuple lucernois, les préparatifs en vue de manifestations commémoratives prévues en 1991 se poursuivent.
 
An grösseren zusammenfassenden Darstellungen zu Grundfragen der schweizerischen Politik war das Jahr 1985 weniger reich als seine Vorjahre. Im Zusammenhang mit dem ersten Band des «Handbuchs politisches System der Schweiz» veröffentlichte immerhin ein Mitverfasser eine Analyse der politischen Ideen. In dieser werden vier schon im Handbuch dargelegte Grundwerte — Sicherheit, Demokratie, Rechts- und Sozialstaat — durch die schweizerische Geschichte verfolgt und mit Hilfe einer wissenssoziologischen Theorie in das Spannungsfeld zwischen objektiver (rechtlicher, symbolischer) und subjektiver (bewusstseinsmässiger) Wirklichkeit gestellt. Es wird auch ins Betracht gezogen, dass sich mit der Ökologie möglicherweise ein neuer, fünfter Grundwert herausbildet [1]. Ein essayistisches und pragmatisches Gegenstück zu dieser Analyse lieferte der ehemalige Bundesrat und Historiker G.-A. Chevallaz, indem er Widerstandsgeist, Demokratie, Föderalismus, Konkordanz, Neutralität und Verteidigungswille als historische Konstanten der Schweiz bezeichnete [2]. Als grundlegende Übersicht über einen vielgestaltigen Teilbereich der schweizerischen Politik sei hier auch eine vòn der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der Schulen für Soziale Arbeit herausgegebene Einführung in die Sozialpolitik erwähnt, welche die verschiedenen Interventionsmethoden (Einfluss auf Einkommensentstehung, Einkommensverteilung und Einkommensverwendung) in einen systematischen Zusammenhang bringt und dazu die Probleme der Trägerschaft (Dezentralisierung, Privatisierung und Stärkung der Selbsthilfe) erörtert [3].
Von Bedeutung sind in der politikwissenschaftlichen Produktion des Berichtsjahres insbesondere Analysen von Entwicklungen und Prozessen. Hanspeter Kriesi legte eine Fortsetzung der 1981 veröffentlichten Untersuchung von politischen Aktivierungsereignissen vor und entwickelte darin anhand mehrerer Fallstudien eine Typologie politischer Potentiale der heutigen Schweiz. Die Analyse geht von der Annahme aus, dass die neuen politischen Mobilisierungen nicht eine Folge gesellschaftlicher Desorganisation, sondern Ausdruck neuer Integrationsstrukturen seien, die im sozialen Wandel entstanden sind. Kriesi unterscheidet auf dem Feld politischer Mobilisierung traditionelle, sozialistische und «neue, subkulturelle» Potentiale, wobei er die ersten primär im alten, ländlichen Mittelstand, die zweiten hauptsächlich in der organisierten Arbeiterschaft und die dritten vorwiegend in den neuen städtischen Mittelschichten lokalisiert. Soweit es sich bei dieser letzten Gruppe nicht um perspektivelose Vertreter einer «Anti-Kultur» handelt (Zürcher Bewegung von 1980), repräsentieren sie die auf eine neue Lebensweise ausgerichtete «Gegenkultur»; sie könnten nach Kriesi wie frühere Oppositionsbildungen in einem umstrukturierten Parteiensystem wieder besser Platz finden, sofern nicht eine zunehmende Polarisierung sie zum Aufbau einer oppositionellen Gegenmacht drängt [4].
Weitere Arbeiten galten institutionellen Entwicklungen. Auf eine Lausanner Studie, die das Wachstum der Bundesgesetzgebung quantitativ untersuchte, werden wir bei der Behandlung der Institutionen eingehen [5]. Hier sei auf eine ähnlich angelegte Analyse der Entwicklungstendenzen in der föderativen Struktur der Schweiz hingewiesen. Angeregt von den Auseinandersetzungen um eine Neuverteilung der Aufgaben von Bund und Kantonen versuchte diese quantitative Anhaltspunkte für die Beurteilung der Frage zu gewinnen, wieweit die landläufige Annahme einer fortschreitenden Zentralisierung und Verflechtung im schweizerischen Bundesstaat berechtigt sei. Das Ergebnis lässt erhebliche Unterschiede in den einzelnen Politikbereichen erkennen [6]. In diesem Zusammenhang ist ferner ein knapper analytischer Beitrag des Staatsrechtslehrers Kurt Eichenberger zu nennen, der die Überforderung zentraler Institutionen (Parlamente, Regierungen, Justiz und Volksrechte) betont und sie mit einer Veränderung des politischen Personals in Beziehung bringt. Die bei diesem um sich greifende Neigung zu wenig reflektierter Betriebsamkeit führt er zu einem wesentlichen Teil auf die Rolle der Massenmedien zurück; er sieht diese zu einer staatsgestaltenden Grösse aufsteigen, deren Prägekraft auch für Bürger, Parteien und Verbände bestimmend wird [7].
Wirkt sich wissenschaftliche Forschung auf die politische Praxis überhaupt aus? Mit der grundlegenden Problematik des erforderlichen Umsetzungsprozesses befasst sich eine Untersuchung, die im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Entscheidungsvorgänge in der schweizerischen Demokratie» ausgeführt worden ist. Sie enthält eine kritische Würdigung der zehnjährigen Geschichte der Nationalen Forschungsprogramme und bringt Vorschläge für ihre Weiterführung. Dabei stellt sie fest, dass diese Programme infolge der verschiedenartigen an sie gestellten Anforderungen sehr heterogen geworden sind, was ihre Wirksamkeit beeinträchtigt [8].
Das Fortbestehen dringlicher politischer und gesellschaftlicher Probleme gab weiterhin Anlass zu einer vielfältigen Kritik der Staats- und Sozialordnung sowie ihrer Entwicklung, die vor allem in journalistischer Form vorgebracht wurde. Ein Gesamtbild der Problematik entwarf ein junger Westschweizer Redaktor; er zeigt das Land in einer Entwicklungskrise, in welcher der nationale Konsens zerbrochen ist. Der Konzentration von Wirtschaft und Politik in den Händen einer Oligarchie steht die Isolierung und Entpolitisierung der Bürger gegenüber. In der föderalistischen und partizipativen Tradition der schweizerischen Demokratie findet der Autor jedoch die Ansätze, die zur Bewältigung der neuen Herausforderungen (Elektronik, Umweltkrise) entfaltet werden können [9]. Fragmentarischer und zugleich provokativer wirkt demgegenüber eine Sammlung von gesellschaftskritischen Beiträgen, welche Vertreter der nunmehr vierzigjährig gewordenen «68er Generation» verfasst haben. Sie beschlagen mit Protest und mit Alternativvorschlägen mehrere Bereiche der sozialen Wirklichkeit und reflektieren zum Teil auch das Schicksal jener Schicht von Gleichaltrigen, die sich einst gegen das Bestehende erhoben und sich seither auf sehr unterschiedliche Weise in ihm eingerichtet haben [10].
Totalrevision der Bundesverfassung
Zur Frage einer Totalrevision der Bundesverfassung legte der Bundesrat im Spätherbst den Bericht vor, den er 1983 angekündigt hatte, um dem Parlament den Entscheid über die Fortsetzung der Arbeiten zu überlassen. Dieser Bericht enthält eine Ubersicht über den bisherigen Gang der Revisionsbestrebungen, Hinweise auf Verfassungsrevisionen im Ausland und in den Kantonen, den Entwurf der Expertenkommission Furgler sowie eine «Modell-Studie» des EJPD, die auf dem Expertenentwurf aufbaut, ihn aber aufgrund des Vernehmlassungsverfahrens wesentlich modifiziert. So werden Eigentum und Wirtschaftsfreiheit ohne Vorbehalte gewährleistet und die Bundeskompetenzen abschliessend aufgezählt. Den Grundrechten stehen Grundpflichten (Schul-, Stimm-, Dienst- bzw. Wehr- und Steuerpflicht) gegenüber. Ein Katalog von Staatszielen wird von den Kompetenzbestimmungen getrennt. Bei den Volksrechten wird neben der (unformulierten) Einheitsinitiative, die von der Bundesversammlung auf Verfassungs- oder Gesetzesstufe auszugestalten ist, auch die ausgearbeitete Verfassungsinitiative aufgeführt. Die Organisation der Bundesbehörden bleibt praktisch unverändert, und die gerichtliche Anfechtbarkeit von Bundesgesetzen fällt dahin. Der Bundesrat bejaht aber nur den Grundsatz der Totalrevision; zum neuen Modell enthält er sich eines Urteils. Was das weitere Verfahren betrifft, so setzt er voraus, dass es nach einem zustimmenden Grundsatzentscheid der Bundesversammlung seine Sache wäre, einen Entwurf für die parlamentarische Behandlung vorzulegen [11].
Die Aufnahme von Bericht und Modellentwurf war gedämpft. Unter den ersten Erklärungen der Regierungsparteien lautete diejenige der CVP am positivsten. Die FDP begrüsste den Antrag, empfahl aber ein behutsames Vorgehen, das és dem Parlament erlauben würde, auch Wegmarken für die konkrete Ausgestaltung des Verfassungsentwurfs zu setzen. Die SP bestritt der Revision ihre Aktualität, und die SVP erklärte sie für überflüssig. Die Präsidenten der vier Fraktionen sprachen sich alle für eine Fortsetzung des Unternehmens aus, allerdings mit unterschiedlichen Zielvorstellungen. Sozialdemokratische Sprecher befürworteten eine weitergehende Reform, als sie die Modellstudie anbietet. Entschiedener äusserten sich Vertreter des Landesrings für eine Totalrevision, wobei sie den im Vorjahr veröffentlichten Entwurfder Juristen A. Kölz und J. P. Müller in den Vordergrund rückten. Die Kommentare der Presse waren dagegen überwiegend skeptisch gestimmt [12].
top
Nationalbewusstsein
Das Konzept für das nationale Jubiläum CH 91 erlitt irn Frühjahr eine Panne, als die Luzerner Stimmbürger den von Regierung und Parlament gewünschten Beitritt zur Trägerorganisation des Werks verweigerten. Während die beiden grossen Parteien, CVP und FDP, eine Beteiligung empfahlen, wurde diese von den Linksparteien; und den Gewerkschaften sowie von Umweltschützern und alternativen Gruppen bekämpft. Befürchtungen über eine enorme Verkehrszunahme, entsprechende Bauten und dadurch erzeugte Umweltbelastungen standen dabei im Vordergrund. Anderseits wandten sich konservative Kreise gegen die Idee einer dezentralisierten Veranstaltung, die oder Tradition der Landesausstellungen nicht entsprach [13]. Der Aufsichtsrat der Stiftung CH 91 liess sich aber durch das Fernbleiben Luzerns nicht von der Fortsetzung des Unternehmens abhalten. Er erweiterte die Organisation durch Beizug von Vertretern aus allen Landesteilen und setzte zur Beratung der sich mehrenden Projektgruppen eine Themenkommission unter dem Präsidium des Basler Publizisten Rudolf Schilling ein. Im Sommer wurde zur Ablösung von alt Nationalrat A. Hürlimann der in Public Relations erfahrene Zürcher W. Anderau als Direktor engagiert [14].
Um den engeren Kreis der innerschweizerischen Gründerkantone scharten sich in der Folge weitere eidgenössische Stände als einfache Stiftungsmitglieder mit reduzierten finanziellen Verpflichtungen; sogar die Luzerner Regierung äusserte die Absicht, sich in dieser bescheideneren Form noch anzuschliessen [15]. In verschiedenen Kantonen und Organisationen schritten Planung und Konkretisierung der thematischen Beiträge voran. Bekannt wurde vor allem das Projekt eines 35 km langen Wanderweges vom Rütli um den Urnersee bis nach Brunnen, dessen Ausbau und Gestaltung auf alle 26 Bundesglieder verteilt werden soll. Trotz nachdrücklichen Bemühungen um einen kritischen Gehalt und eine umweltverträgliche Ausführung der säkularen Veranstaltung verharrten linke und alternative Gruppen der Innerschweiz in Ablehnung [16].
top
 
[1] S. Möckli, Politische Ideen in der Schweiz. Versuch einer wissenssoziologischen Analyse, Diss. St. Gallen, Entlebuch 1985. Vgl. dazu Handbuch politisches System der Schweiz, Bd 1: Grundlagen; hg. v. A. Riklin, Bern 1983, sowie SPJ, 1983, S. 11.
[2] G.-A. Chevallaz, Constantes helvétiques, Identité vaudoise, Lausanne 1985.
[3] A. Wagner, Wohlfahrtsstaat Schweiz. Eine problemorientierte Einführung in die Sozialpolitik, Bern 1985.
[4] H. Kriesi (Hg.), Bewegung in der Schweizer Politik. Fallstudien zu politischen Mobilisierungsprozessen in der Schweiz, Frankfurt/New York 1985. Vgl. dazu H. Kriesi u.a., Politische Aktivierung in der Schweiz 1945-1978, Diessenhofen 1981 sowie SPJ, 1981, S. B.
[5] W. Linder / S. Schwager / F. Comandini, Inflation législative?, Lausanne 1985; vgl. unten, Teil I, 1c (Regierung).
[6] K. Nüssli, Föderalismus in der Schweiz. Konzepte, Indikatoren, Daten, Grüsch 1985. Vgl. dazu unten, Teil I, 1 d (Confédération et cantons).
[7] K. Eichenberger, «Lagebeurteilungen. Staatspolitische Diagnose-Bedürfnisse und der Hang zur Verschleierung», in Schweizer Monatshefte, 65/1985, S. 1039 ff.
[8] D. Freiburghaus / W. Zimmermann, Wie wird Forschung politisch relevant? Erfahrungen in und mit den Schweizerischen Nationalen Forschungsprogrammen, Bern 1985. Vgl. dazu SPJ, 1975, S. 146.
[9] B. Lempen, Un modéle en crise: la Suisse, Lausanne 1985.
[10] R. Blum u.a., Einspruch. 12 Vierzigjährige zur politischen Situation in der Schweiz, Zürich 1985.
[11] BBl, 1985, III, S. 1 ff. Vgl. dazu SPJ, 1976, S. 12; 1977, S. 12; 1983, S. 12.
[12] Regierungsparteien: NZZ, 27.11.85. Fraktionspräsidenten: Vat., 7.12.85. Sozialdemokraten: TA, 7.12.85 (Hubacher); Vat., 7.12.85 (D. Robbiani). Landesring: TA, 7.12.85 (F. Jaeger); Vat., 7.12.85 (S. Widmer); vgl. dazu SPJ, 1984, S. 13. Skeptische Kommentare: Presse vom 27.11.85; JdG, 28.11.85; Bund, 29.11.85. Revisionsfreundliche Kommentare : BaZ, 27.11.85; SGT, 27.11.85 ; TA, 27.11.85; Vat., 30.11.85. Vgl. auch Menschenrechte und katholische Soziallehre. Sozialethische Überlegungen zur Totalrevision der Bundesverfassung sowie zum Beitritt der Schweiz zur Europäischen Sozialcharta und zur UNO, hg. v. d. Schweiz. Nationalkommission Justitia et Pax, Freiburg 1985.
[13] Parlament: Vat., 30.1.85. Abstimmungsparolen: Vat., 4.5.85; vgl. ferner BZ, 6.3.85 (kleine Gruppen); LNN, 1.4.85 (SP); Vat., 13.4.85 (Gewerkschaftsbund). Konservative Kritik: BZ, 27.4.85; Vat., 3.5.85. Abstimmungsergebnis: LNN, 6.5.85; 7.5.85; Vat., 6.5.85 (27 300 Ja: 33 562 Nein). Vgl. SPJ, 1984, S. 14. Die eidgenössischen Räte bewilligten 5 Mio Fr. für die Grobplanung (BBl, 1984, II, S. 1431 ff. ; Amtl. Bull. NR, 1984, S. 1891 f. ; Amtl. Bull. StR, 1985, S. 223 f.).
[14] Aufsichtsrat: LNN, 18.5.85; Vat., 18.5.85. Direktor: NZZ, 6.7.85; Ww, 28, 11.7.85; L'Hebdo, 29, 18.7.85.
[15] AT, 23.12.85. Am Jahresende waren der Stiftung 9 Kantone und Halbkantone als einfache Mitglieder beigetreten (AG, AI, AR, BE, BL, BS, GL, TG und TI). Für LU vgl. LNN, 27.9.85; 14.11.85.
[16] Kantone: Vat., 4.10.85 (SZ); 20.12.85 (NW); 23.12.85 (ZG). Organisationen: NZZ, 7.2.85 (Kirchen); 27.9.85 (Pro Senectute); Bund, 4.3.85 (Bund Schweizer Architekten); Vat., 18.10.85 (Schweiz. Rotes Kreuz). Vgl. auch Vat., 30.9.85 (Innerschweizer Heimatschutz); LNN, 2.11.85 (Verein CH 91 Frauen). Wanderweg: NZZ, 23.10.85; Basler Magazin, 49, 7.12.85. Ablehnung: Vat., 9.12.85.
top