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Grundlagen der Staatsordnung
Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
Die Kopp-Affäre und die Enthüllungen der Parlamentarischen Untersuchungskommission lösten in einem Teil der Bevölkerung eine Vertrauenskrise in bezug auf unsere demokratischen Institutionen aus. – Im Rahmen der Vorbereitungen zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft gestaltete sich die Diskussion um Heimat, Identität und Armee sehr kontrovers. – In linken Kulturkreisen wurde die Frage diskutiert, ob ein Boykott gegen die Jahrhundertfeier organisiert werden sollte.
Grundsatzfragen
Das schweizerische politische Jahr 1989 war geprägt von Skandalen und den Versuchen zu ihrer Bewältigung. Gleich zu Jahresbeginn trat Bundesrätin Kopp sofort von ihrem Amt zurück, als die volle Wahrheit über das ominöse Telefongespräch mit ihrem Mann an die Öffentlichkeit kam. Kurz darauf stellte auch Bundesanwalt Gerber sein Amt zur Verfügung. Als schliesslich im Herbst die parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) das Ausmass der von der Bundesanwaltschaft betriebenen politischen Überwachung und Bespitzelung enthüllte, sprachen nicht nur oppositionelle Politiker, sondern auch weite Teile der Bevölkerung und sogar üblicherweise betont zurückhaltende Kommentatoren von skandalösen Zuständen. Politische Skandale hatten bisher in der Schweiz – zumindest auf Bundesebene – grossen Seltenheitswert. Der Umgang mit Skandalen, ihre politische Bewältigung und auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen steckt deshalb noch in den Kinderschuhen. Was die wissenschaftliche Auseinandersetzung anbetrifft, scheint allerdings das Ausland auch nicht viel weiter zu sein. In ihrem Beitrag zu einem im Berichtsjahr publizierten Sammelband zu diesem Thema konstatierten die amerikanischen Politologen Markovits und Silverstein, dass es zwar "zahlreiche Untersuchungen über Geschichte und Anatomie einzelner Skandale" gebe, dass aber "vergleichende Untersuchungen, die sich bemühen, politische Skandale im grösseren Kontext gesellschaftlicher und politischer Strukturen sowie menschlichen Verhaltens zu begreifen", weitgehend fehlten [1].
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Im Rahmen der Diskussionen um eine schweizerische Identität, welche im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen über die 700-Jahr-Feier, über die Gedenkfeiern zur Kriegsmobilmachung von 1939 sowie über die Armeeabschaffungsinitiative geführt wurden, erhielt der Begriff der Heimat eine zentrale Stellung. Der Schriftsteller Max Frisch thematisierte die Problematik in, seinem Buch "Schweiz ohne Armee? Ein Palaver" auf literarische Weise für eine breite Öffentlichkeit [2].
Neben den Arbeiten des laufenden Forschungsprogramms NFP 21 zur "kulturellen Vielfalt und nationalen Identität" wurden auch noch andere Studien zu diesem Thema durchgeführt. So stellte der Soziologe Peter Bucher eine Untersuchung zum Heimatbild von Abschlussschülern verschiedener Gemeinden vor. Diese ergab, dass die wichtigste Komponente für die Ausformung des Heimatbildes die Schulbildung sei. Bei Personen mit geringer Schulbildung herrschte im allgemeinen ein raumorientiertes (z.B. Berge oder Kanton), bei höherer Schulbildung ein sozialorientiertes (z.B. Familie oder Freundeskreis) Heimatbild vor. Unabhängig von der Bildung war bei Mädchen die sozialorientierte Ausrichtung des Heimatbegriffs doppelt so stark ausgeprägt wie bei den Knaben. Ausserdem kam ein Unterschied zwischen Stadt und Land klar zum Ausdruck: je näher der Wohnort bei einem städtischen Zentrum liegt, desto stärker fühlen sich dessen Einwohner nicht ihrem Wohnort, sondern dieser nächstgrösseren Einheit verbunden [3].
Nachdem der Nationalrat 1988 eine parlamentarische Initiative von Markus Ruf (na, BE) für einen arbeitsfreien 1. August abgelehnt hatte, lancierte die Nationale Aktion im Frühjahr 1989 eine entsprechende Volksinitiative. Damit sollen die Voraussetzungen geschaffen werden, um den schweizerischen Nationalfeiertag feierlich begehen zu können. Der Bundesrat gab noch vor dem Zustandekommen des Volksbegehrens eine Revision der diesbezüglichen Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes in die Vernehmlassung [4].
Im übrigen beantragte der Bundesrat einen Objektkredit von 13 Mio Fr. für die Errichtung eines Panoramas der Schweizer Geschichte als Aussenstelle des Landesmuseums in Schwyz. Die Vorlage wurde von National- und Ständerat prinzipiell gutgeheissen; eine Differenz in bezug auf Betriebs- oder Errichtungskosten blieb indessen bestehen [5].
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In Erfüllung eines vom Nationalrat im Vorjahr überwiesenen Postulats Ott (sp, BL), setzte der Bundesrat eine Expertenkommission ein, welche verschiedene Szenarien zur Entwicklung der Schweiz nach dem Jahre 2000 erarbeiten soll. Diese Expertenkommission "Schweiz morgen" vereinigt 16 Persönlichkeiten aus Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft unter dem Vorsitz von Christian Lutz, Direktor des Gottlieb Duttweiler-Instituts in Rüschlikon. Die Szenarien sollen mögliche Entwicklungen der Schweiz im kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bereich nach der Jahrtausendwende aufzeigen. Im weitern erhofft sich der Bundesrat von dieser Studie, deren erste Ergebnisse für 1991 erwartet werden, Entscheidungsgrundlagen und einen Beitrag zur Diskussion über die Beziehungen zur EG. Die Kommission kann bei ihrer Arbeit an den Bericht einer früheren Expertenkommission, "Qualitatives Wachstum", anknüpfen [6].
Zukunftsvisionen werden aber auch auf regionaler Ebene erarbeitet: Das Basler Regio-Forum veranstaltete zum zweiten Mal eine Plattform zum Thema Gestaltbarkeit der Zukunft im Dreiländereck. Die Idee eines solchen Forums war nach der Chemiekatastrophe von Schweizerhalle, welche die Gefahren des Lebens in der Risikogesellschaft deutlich hatte ins Bewusstsein treten lassen, entstanden. Träger des Projekts waren die "Christoph Merian Stiftung", der Verein "Regio Basiliensis" und die Universität Basel. Im Gegensatz zum ersten Podium von 1988 fand dieses Jahr die breite Öffentlichkeit Zugang zu den Veranstaltungen. Als Resultat aus den zwei Foren und den drei Szenarien ("Die grosse Ruhe", "Der kleine Aufbruch", "Ein anderer Einstieg") lagen am Schluss etwa 40 Projektideen vor, so etwa das "Regionale Zukunftsparlament", das "Regio-Zukunftshaus", der "Innovationsrisikofonds" oder der "Verein für Wohntausch" [7].
Im Kanton Bern erstellten drei Professoren der Universität Bern im Auftrag der Staatskanzlei als Ergänzung zu den offiziellen Regierungsrichtlinien ein Gutachten zur Entwicklungspolitik des Kantons im nächsten Jahrzehnt. Der Bericht "Bern 2000" legte die Rahmenbedingungen und Entwicklungsvoraussetzungen in den Bereichen Wirtschaft, Umweltschutz, Gesellschaft und Politik dar, zeigte die Stärken und die Schwächen des Kantons auf und schlug Handlungsmöglichkeiten in bezug auf die zukünftigen Herausforderungen vor. Dieser Expertenarbeit wurde in ihrer Art Pioniercharakter für die kantonale Entwicklungspolitik zugesprochen [8].
Unter dem Namen "Agir pour demain" ist am 1. Dezember in Bern eine neue überparteiliche Organisation gegründet worden. Unter den Gründungsmitgliedern befanden sich verschiedene "grüne" und progressive Freisinnige wie Gilles Petitpierre (GE), Lili Nabholz (ZH) und René Rhinow (BS); auch die CVP war vertreten mit Judith Stamm (LU), Rosemarie Simmen (SO) und Fulvio Caccia (TI). Von sozialdemokratischer Seite machten Otto Piller (FR), Yvette Jaggi (VD), Thomas Onken (TG) und René Longet (GE) mit. Ein SVP-Vertreter, Ulrich Zimmerli (BE), und Verena Grendelmeier (ZH) vom Landesring ergänzten die Liste der eidgenössischen Parlamentarier, auf welcher hingegen Vertreter der Grünen Partei fehlen. Daneben finden sich unter den gut fünfzig Gründungsmitgliedern Personen aus Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Kirche und Kultur. Die neue Gruppierung setzte sich zum Ziel, den zum Teil abhanden gekommenen Gemeinschaftssinn der Bürgerinnen und Bürger wieder zu beleben und die Bereitschaft zur gemeinsamen Lösung der grossen Zukunftsprobleme zu fördern. Zu diesem Zweck will sie verantwortungsbewusstes, solidarisches und zukunftsorientiertes Handeln propagieren und den Dialog zwischen Interessengruppen, aber namentlich auch zwischen den Generationen, stärken [9].
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Totalrevision von Verfassungen
Im Kanton Bern fand das 1988 eröffnete und breit angelegte Vernehmlassungsverfahren über den Vorschlag des Experten Aldo Zaugg zur Totalrevision der Kantonsverfassung seinen Abschluss. Neben Parteien, Interessenorganisationen, Verwaltungsstellen und Gemeinden hatten sich auch knapp 400 Einzelpersonen und Firmen daran beteiligt. Das Resultat der Vernehmlassung zeigte relativ klare Fronten auf: Linke, Grüne und die Gewerkschaften stimmten dem Entwurf grundsätzlich zu. Die beiden grossen bürgerlichen Parteien SVP und FDP, der Bauernverband und die Arbeitgeberorganisationen aus Gewerbe-, Handel- und Industrie fanden den Entwurf wirtschaftsfeindlich und staatsdirigistisch und lehnten ihn deshalb rundweg ab. Die Volksrechte, ein relativierter Freiheitsbegriff und die Verfassungsgerichtsbarkeit bildeten zentrale Punkte der Auseinandersetzung [10].
Der Regierungsrat arbeitete unter Berücksichtigung der Vernehmlassung einen eigenen Entwurf aus und stellte diesen am 5. Juli der Öffentlichkeit vor. Seine Version orientiert sich zwar am Expertenvorschlag, sie ist aber formal straffer und weist auch wesentliche inhaltliche Unterschiede auf. So ist etwa die in der Vernehmlassung besonders heftig kritisierte Schaffung eines kantonalen Verfassungsgerichts oder die detaillierte und abschliessende Aufzählung der Staatstätigkeiten fallengelassen worden. Eine 35köpfige Verfassungskommission des Grossen Rates nahm die Beratung der Vorlage auf, wobei sie sich im Berichtsjahr vorwiegend mit Grundsatzfragen befasste [11].
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Im Kanton St. Gallen beriet eine 15köpfige Kommission über eine allfällige Totalrevision der Kantonsverfassung. Die Einsetzung dieser Kommission, in welcher neben Politikern auch Fachleute aus Verwaltung und Wissenschaft vertreten sind, war durch ein 1988 überwiesenes Postulat der bürgerlichen Kantonsratsfraktionen angeregt worden. Die Kommissionsaufgabe besteht vorerst in der Ausarbeitung eines Berichtes zuhanden des Parlamentes über die Schwerpunkte und Zielsetzungen einer eventuellen Revision [12].
In Appenzell-Ausserrhoden möchte namentlich die Regierung die aus dem Jahre 1908 stammende Verfassung einer Totalrevision unterziehen. Deren Bestimmungen sind nach Ansicht der Behörden zu sehr geprägt vom Leitgedanken der Versammlungsdemokratie und würden den heutigen Anforderungen an ein modernes Staatswesen nicht mehr genügen. Vorerst sollen verwaltungsintern die nötigen Vorarbeiten geleistet werden. Die eigentlichen Arbeiten werden erst nach dem spätestens 1993 fälligen Grundsatzentscheid über die Beibehaltung der Landsgemeinde in Angriff genommen werden [13].
Die Vorarbeiten zu einer eventuellen Totalrevision der Verfassung des Kantons Tessin wurden weitergeführt. Anfangs November fand in Locarno unter dem Patronat des Föderalismusinstituts der Universität Freiburg ein interdisziplinäres Seminar zur Frage der Integration der Sozialrechte in die Verfassung statt [14].
Nicht zu einer Totalrevision der Verfassung, aber zu einer sehr gewichtigen Teilrevision unternahm die Regierung des Kantons Zug konkrete Schritte. Sie legte dem Parlament neun separate Vorlagen vor und beantragte darin vor allem die Revision von Bestimmungen in den Bereichen Volksrechte, Gewaltentrennung und Notrecht [15].
Im Kanton Freiburg ist der Anlauf zu einer Totalrevision der aus dem Jahre 1857 stammenden Kantonsverfassung gescheitert. Der Grosse Rat lehnte mit 59 gegen 36 Stimmen eine von der SP unterstützte Motion ab. Die Gegner meinten, eine Totalrevision sei nicht vordringlich und zur Lösung brennender Probleme eigneten sich Teilrevisionen besser [16].
Die eidgenössischen Räte haben auf Antrag des Bundesrates die 1988 totalrevidierten Verfassungen der Kantone Glarus und Thurgau einstimmig gewährleistet [17].
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Nationalbewusstsein
Nach Ablauf der Referendumsfrist gegen den 1988 erfolgten Bundesbeschluss über die Gestaltung der 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft informierte der Delegierte des Bundesrates Marco Solari in einer Medienkonferenz zum Stand der Planung. Insgesamt strebe das Fest neben Geschichts- und Kulturpflege, Förderung der Solidarität und der Weltoffenheit auch die Skizzierung von Zukunftsperspektiven der Schweiz in der Welt an. An einer späteren Orientierung gab Solari bekannt, dass geplant sei, die offizielle Eröffnungszeremonie am 10. Januar 1991 in Bellinzona durchzuführen [18]. Die im Vorjahr ins Leben gerufene Arbeitsgemeinschaft "Aktion Begegnung 91 (AB 91)" erfreute sich des Zuspruchs von breiten Bevölkerungskreisen, vertreten durch eine Vielzahl von Verbänden und Institutionen aus der ganzen Schweiz. Sie stellt ein Forum dar, in dem Projekte für Begegnungen über sprachliche und soziale Schranken hinweg verwirklicht werden können [19].
Die Kantonsregierungen hatten bereits 1988 in der Vernehmlassung positiv auf die neuen Pläne der Festlichkeiten reagiert; die meisten Kantone erklärten sich auch bereit, am Projekt "Weg der Schweiz" entlang des Urnersees (Teil des Vierwaldstättersees) teilzunehmen. Vorgesehen ist hier eine Darstellung des Werdeganges der Schweiz, bei welchem die Kantone weitgehend freie Hand bei der Ausgestaltung haben. Jeder Kanton kann auf der 35 Kilometer langen Wegstrecke ein Stück, das in der Länge proportional zu seiner Wohnbevölkerung ist, mitgestalten [20].
Im Kanton Jura entstand allerdings eine rege Polemik zwischen der Regierung und dem Rassemblement jurassien (RJ) über die Beteiligung an den Jubiläumsfeiern. Das RJ und ihm nahestehende Organisationen und Personen aus dem Kanton Jura und dem Berner Jura verlangten, dass der von der Kantonsregierung beantragte Kredit von 300 000 Fr. nicht für die Teilnahme an der 700-Jahr-Feier der Schweiz eingesetzt werden dürfe, sondern vielmehr für die Bemühungen um die Integration der bernisch gebliebenen Bezirke in den neuen Kanton. Schliesslich stimmte das jurassische Parlament unter Namensaufruf mit 42 zu 13 Stimmen und 5 Enthaltungen dem Kredit für die Teilnahme an der 700-Jahr-Feier zu, jedoch unter der Bedingung, bei der Gestaltung des "Wegs der Schweiz" dem Wunsch nach einer Wiedervereinigung frei Ausdruck verleihen zu können [21].
In seinem Engagement für möglichst volksnahe Feiern ging der Delegierte für die Jubiläumsfeiern wohl etwas zu weit, als er sich bereit erklärte, das Patronat einer Jassweltmeisterschaft zu übernehmen, deren Endspiel 1991 auf dem Rütli stattfinden sollte. Nachdem die Luzerner Ständerätin Josi Meier (cvp) ihrer Empörung über den geplanten Rummel auf der symbolträchtigen Wiese öffentlich Ausdruck gegeben hatte, unternahm Solari die nötigen Schritte, um die Organisatoren des Wettkampfs umzustimmen [22].
Probleme und Kritik haben die Promotoren der Jubiläumsveranstaltungen vermehrt in den Kreisen der Linken und der Kulturschaffenden angetroffen. Diese kritisierten die "CH 700" sowohl auf konzeptioneller wie auch auf inhaltlicher Ebene. Was die konzeptionelle Kritik anbelangt, so argumentierten die Gegner ähnlich wie sie dies anlässlich der Diskussionen um die "CH 91" getan hatten: Eine Jubiläumsfeier mit dazugehörigen Ausstellungen müsste elementare Bestandteile unserer Gesellschaft wie Demokratieanspruch und Föderalismus, die bisher als Idealisierungen unter mythischem Verschluss geblieben seien, ins kollektive Bewusstsein rücken und kritisch hinterfragen können. Laut den Kritikern besteht das Paradox darin, dass eine Entmythologisierung der Entstehung, der Entwicklung und des Zustandes unserer Gesellschaft nicht gleichzeitig stattfinden könne wie die staatlich gewünschte Reproduktion von Denk- und Verhaltensmustern, die auf eben diesen Mythen beruhen und somit eigentlich Staatserhaltungsfunktion hätten. Somit sei es geradewegs pervers, wenn der Staat selbst eine solche Jubiläumsveranstaltung organisiere und finanziere [23].
Die inhaltlichen Kritiken richteten sich vor allem gegen den in der Innerschweiz geplanten Festteil: Zu viel sei vorbestimmt, die Definition von Kultur und Utopie sei einseitig auf die Kultur des bürgerlichen Staates ausgerichtet. Mit der Durchführung eines militärischen Defilees und der Organisation von Flugdemonstrationen, historischen Wehrschauen und Rütliwanderungen würde bloss die Fassade eines Zusammengehörigkeitsgefühls aufgebaut. Auf der Strecke bleibe dabei jedoch die Förderung der Solidarität zwischen Männern und Frauen, Jung und Alt, Armen und Wohlhabenden, Schweizern und Ausländern [24].
Diese Fragen beschäftigten auch die in der Gruppe Olten zusammengeschlossenen Schriftsteller an ihrer Jahresversammlung. .Verschiedene Autorinnen und Autoren brachten zum Ausdruck, ihre Zunft sei während 700 Jahren ignoriert worden und sie selbst wären jetzt, wo man sie als Sprachrohr benützen wolle, nicht bereit, diese Aufgabe zu übernehmen. Nach der Diskussion über einen Boykott und unterschiedliche Formen einer Teilnahme vertagte die Versammlung den Entscheid über das zu wählende Vorgehen [25],
Im Kontext der Diskussionen über die Mobilmachungsfeiern und die Armeeabschaffungsinitiative wurden die kritischen Stimmen gegenüber dem Programm der 700-Jahr-Feier immer lauter. Zusätzlich präsentierte im November die Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) ihren Bericht über die Affäre Kopp und die übrigen Vorkommnisse im EJPD. Die Enthüllungen dieses Berichts über die Überwachungstätigkeit der politischen Polizei bestätigte viele Kulturschaffende in ihrem Misstrauen gegenüber den schweizerischen Institutionen. Ihre Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit sank und gegen Ende Jahr machte sich bei einigen, die schon an bestimmten Projekten im Bereich Theater und Literatur zu arbeiten begonnen hatten, erste Anzeichen eines Meinungsumschwunges bemerkbar. In den verschiedenen Verbänden und Vereinigungen des Kultursektors wurden im Berichtsjahr aber noch keine prinzipiellen Entscheidungen über eine eventuelle Verweigerung der Mitarbeit an den Jubiläumsfeierlichkeiten getroffen [26].
Als einmalige Solidaritätsaktion lancierten sechs schweizerische Hilfswerke eine Petition mit dem Titel "Entwicklung braucht Entschuldung", in welcher sie den Bundesrat und das Parlament aufforderten, zum 700jährigen Bestehen der Eidgenossenschaft einen Fonds mit mindestens 700 Mio Fr. zur Übernahme von Schulden der ärmeren Entwicklungsländer zu errichten. Die begünstigten Staaten hätten sich zu verpflichten, den Gegenwert der betreffenden Forderungen in Entwicklungsprojekte zu investieren [27].
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Weiterführende Literatur
R. Ebbighausen / S. Neckel (Hg.), Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt 1989.
H. Moser (Hg.), L'Eclat c'est moi. Zur Faszination unserer Skandale, Weinheim 1989.
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H. Arras / W. Bierter, Welche Zukunft wollen wir? Drei Scenarien im Gespräch. Ein Beitrag des "Basler Regio Forum ", Basel und Liestal 1989.
W. Linder / P. Messerli / G. Stephan, Bern 2000. Kantonale Perspektiven für die 90er Jahre, Bern 1989.
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J.-C. Courvoisier, La Suisse jubilaire et l'Europe naissante, Lausanne 1989.
C. Guanzini / P. Wegelin, Kritischer Patriotismus – Patriotisme critique – Patriottismo critico, Bern 1989 (Selbstdarstellung, kritische Würdigung und Rückblick auf 75 Jahre des Bestehens der Neuen Helvetischen Gesellschaft).
«Images de la Suisse», in Equinoxe (Revue romande des sciences humaines), no 1, 1989.
A. Iten, Vorbei am Landesstolz: Ergründung des Neins zum Projekt CH 91, Luzern 1988.
A. Künzli, Rettet die Freiheit – vor ihren Beschützern! Kritische Gedanken zur Politik, Basel 1989.
J. Steiner, Fremdes Land, Frankfurt 1989. (literarische Darstellung der Thematik der nationalen Identität und des Nationalbewusstseins. Vgl. dazu auch die Rezension in Schweizer Monatshefte, 69/1989, S. 419 ff.).
W. van den Wyenbergh, "Auf der Suche nach einem zutreffenden Bild der Schweiz", in Schweizer Monatshefte, 69/1989, S. 795 ff. (Bild der Schweiz eines ausländischen Korrespondenten).
Zum Thema Identität und Armee siehe Widerspruch, Beiträge zur sozialistischen Politik, Heft 17, Juli 1989 ; siehe dazu auch Literaturanhang von Teil I, 3 (Défense nationale).
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[1] A. S. Markovits / M. Silverstein, "Die Geburt des politischen Skandals aus der Widersprüchlichkeit liberaler Demokratien", in Ebbighausen / Necket (siehe Lit.), S. 151 ff. (Zitat S. 151). Vgl. auch P. Ziegler, "Skandal und Heuchelei" in BaZ, 18.2.89 und T. Lienhard, "Skandalbewältigung nach Schema F", in TA, 5.12.89. Zu den Skandalen selbst siehe unten, Teil I, 1b (Öffentliche Ordnung) und 1c (Regierung, Verwaltung und Parlament).
[2] M. Frisch, Schweiz ohne Armee? Ein Palaver, Zürich 1989. Vgl. dazu u.a. R. Reich, "Schweiz ohne Volk", in Schweizer Monatshefte, 69/ 1989, S. 659 f. Siehe auch unten, 700-Jahr-Feier sowie Teil I, 3 (Défense nationale et société).
[3] LNN, 1.8.89. Zum NFP 21 siehe SPJ 1988, S. 20.
[4] BBl, 1989, 1, S. 1343 ff.; Blick, 18.4.89. Zur Vernehmlassung siehe unten, Teil I, 7a (Arbeitszeit).
[5] BBl, 1989, III, S. 857 ff.; Amtl. Bull. StR, 1989, S. 786 ff.; Amtl. Bull. NR, 1989, S. 2107 ff.; Vat., 12.9.89; NZZ, 7.9., 12.9., 13.12. und 14.12.89; vgl. auch unten Teil I, 8b (Kultur).
[6] NZZ, 26.5.89; SZ, 27.5.89. Zu den Protesten von Nationalrätinnen gegen die Zusammensetzung dieser Kommission siehe unten, Teil I, 7d (Stellung der Frau). Zum Bericht "Qualitatives Wachstum" siehe SPJ 1986, S. 64 f.
[7] Ww, 8.6.89; BaZ, 15.6. und 4.9.89; NZZ, 5.9.89; vgl. Lit. Arras / Bierter.
[8] Vgl. Lit. Linder / Messerli / Stephan.
[9] Presse vom 2.12.89; Ww, 7.12.89.
[10] Bund, 17.2., 28.3., 9.5., 10.5. und 13.6.89; BZ, 1.2. und 10.5.89; TW, 13.5.89. Siehe auch SPJ 1988, S. 20 und 266.
[11] Bund, 6.7. und 3.10.89 ; BZ, 6.7, 25.8, 31.8. und 12.12.89.
[12] SGT, 18.1.89. Siehe SPJ 1988, S. 267.
[13] SGT, 12.12.89; BaZ, 28.12.89. Zur Einführung des Frauenstimmrechts siehe unten, Teil I, 1b (Stimm- und Bürgerecht).
[14] CdT, 5.10., 2.11. und 4.11.89. Zum Tessiner Staatsrecht vgl. Giuseppe Lepori, Diritto Costituzionale Ticinese, Bellinzona 1988 (siehe Zusammenfassung in CdT, 3.3.89).
[15] LNN, 9.6., 12.6. und 26.6.89; Vat., 10.6.89. Siehe unten, Teil II, 1a.
[16] Lib., 25.2.89.
[17] Glarus: BBl, 1989, III, S. 730 ff.; Amtl. Bull. NR, 1989, S. 1947; Amtl. Bull. StR, 1989, S. 680 f.; BBl, 1989, III, S. 1723. Thurgau: BBl, 1989, III, S. 873 ff.; Amtl. Bull. NR, 1989, S. 1948; Amtl. Bull. StR, 1989, S. 681 f.; BBl, 1989, III, S. 1722. Siehe auch SPJ 1988, S. 19 f. und 266 f.
[18] Presse vom 3.2. und 12.5.89. Zum Bundesbeschluss und zum Konzept des Jubiläums siehe SPJ 1988, S. 20.
[19] JdG, 11.4.89; Bulletin Neue Helvetische Gesellschaft, 76/1989, Nr. 2, 14 f. Zur weit fortgeschrittenen Planung des Festes der vier Kulturen in der Westschweiz siehe JdG, 28.9.89.
[20] NZZ, 12.5. und 16.5.89. Siehe auch SPJ 1988, S. 20.
[21] BaZ, 8.3.89; Dém., 9.-11.3., 15.3., 16.3., 22.3. (CVP und PSA des Berner Juras), 22.3. und 21.4.89 (Parlament). Repräsentative Umfragen bei den Stimmberechtigten ergaben unterschiedliche Resultate (Dém., 15.3. und 17.4.89).
[22] TA, 28.9. und 29.9.89; Vat., 29.9.89.
[23] Siehe dazu auch B. Crettaz, "CH-91 morte sans mythe", in Express, 17.2.89; vgl. auch Lit. Künzli.
[24] WoZ, 14.7.89; vgl. auch die Kolumne von Andreas Balmer in Bund, 22.4.89.
[25] Bund, 13.6.89; WoZ, 16.6.89; TW, 17.6.89.
[26] Vgl. unten Teil I, 1b (Öffentliche Ordnung) und 3 (Défense nationale).
[27] NZZ und JdG, 11.10.89.
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