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Grundlagen der Staatsordnung
Föderativer Aufbau
Der Nationalrat befasste sich mit dem zweiten Massnahmenpaket zur Aufgabenneuverteilung zwischen Bund und Kantonen. – Der bernische Grosse Rat hiess die Beschwerden gegen die zweite Laufentalabstimmung gut. – Das jurassische Parlament stimmte der Volksinitiative "Unir" zu und beauftragte die Regierung mit der Ausarbeitung eines Gesetzes für eine aktive Wiedervereinigungspolitik.
Beziehungen zwischen Bund und Kantonen
Der Nationalrat befasste sich in der Herbstsession als Zweitrat mit dem zweiten Massnahmenpaket zur Aufgabenteilung zwischen dem Bund und den Kantonen. Nach dem früheren Beschluss, dessen wichtigsten Teil, die Revision des Hochschulförderungsgesetzes, separat zu behandeln, beschränkte sich die ursprünglich als Wiederbelebung des Föderalismus konzipierte Vorlage auf einige administrative Vereinfachungen. Die sechs Erlasse waren denn auch nur in einigen Details umstritten. Eine wesentliche Differenz zum Ständerat ergab sich einzig bei der Neufassung des Wasserbaugesetzes, wo sich die Volkskammer der bundesrätlichen Version anschloss, wonach an finanzstarke Kantone keine Bundesbeiträge mehr ausgerichtet werden sollen. Kleinere Abweichungen zu den Beschlüssen des Ständerats schuf die Volkskammer zu dem bei den Bundesgesetzen über die Invalidenversicherung und über die Fischerei [1].
Die wachsende Integration Westeuropas und die Entwicklungen in Osteuropa führten allgemein zu einem grösseren Interesse an föderalistischen Ordnungsprinzipien. Dass die Schweiz mit ihrer reichen Erfahrung an praktiziertem Föderalismus einen Beitrag zu dieser Diskussion leisten könnte, ist evident. Dieser Meinung wird auch vom Parlament geteilt: der Nationalrat überwies ein von der Mehrheit der Abgeordneten unterzeichnetes Postulat Ott (sp, BL), welches die Errichtung einer internationalen Forschungsstelle für den Föderalismus durch den Bund anregt [2].
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Territoriale Fragen
Eine vierzigköpfige Gruppe von bekannten Baslern, darunter auch Politiker wie die Nationalräte Euler (sp), Hubacher (sp) und Weder (ldu), nahm im April einen neuen Anlauf zur Zusammenführung der beiden nordwestschweizerischen Halbkantone. Sie propagierte in ihrem "Manifest für einen Kanton Basel" freilich nicht eine Wiederauflage der 1969 in der Volksabstimmung am Votum Basellands gescheiterten Vereinigung, sondern schlugen vor, dass sich Baselstadt – ähnlich wie das Laufental – um eine Aufnahme in den Kanton Baselland bemühen solle. Erreichen wollen sie ihr Ziel mit einer kantonalen Volksinitiative, welche allerdings noch nicht lanciert worden ist. Ein Entwurf dazu wurde im November an die Parteien zur Vernehmlassung geschickt [3].
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Entgegen dem Antrag der Regierung und seiner vorberatenden Kommission hiess der bernische Grosse Rat die Beschwerden gegen die Abstimmung über die Kantonszugehörigkeit des Laufentals vom November des Vorjahres mit 102:78 Stimmen gut und annullierte damit den beschlossenen Kantonswechsel. Beobachter waren sich einig, dass sich dabei die Parlamentsmehrheit eher von politischen als von juristischen Motiven leiten liess [4]. Die Befürworter eines Anschlusses an Baselland rekurrierten gegen diesen Entscheid mit einer staatsrechtlichen Beschwerde beim Bundesgericht [5].
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Das jurassische Kantonsparlament erklärte ohne Gegenstimmen die im Vorjahr eingereichte Volksinitiative "Unir" als gültig und beauftragte damit die Regierung, bis Mitte 1991 ein Gesetz vorzulegen, welches das Begehren konkretisiert. Die Initiative verlangt von den Behörden eine aktive Politik zur Eingliederung der bernisch gebliebenen französischsprachigen Bezirke in den neuen Kanton. In der konkreten Formulierung des Gesetzgebungsauftrags ersetzte das Parlament den annektionistisch gefärbten Begriff "Wiedervereinigung" durch die Umschreibung "institutionelle Einheit des Juras" [6]. Im weiteren stimmte das Parlament ebenfalls ohne Gegenstimme dem Antrag der Regierung zu, die "Fondation pour la réunification du Jura" mit einem Beitrag von 300 000 Fr. zu unterstützen [7].
Die bernische Regierung reichte beim Bundesgericht staatsrechtliche Klage gegen die Gutheissung der Volksinitiative "Unir" durch das jurassische Parlament und gegen die staatlichen Beiträge an den "Wiedervereinigungsfonds" ein. Sie sieht darin einen Verstoss gegen die in der Bundesverfassung verankerte Garantie des kantonalen Territoriums, welcher noch gravierender sei, als der 1977 von der Bundesversammlung gestrichene Wiedervereinigungsartikel der jurassischen Kantonsverfassung [8] . Bereits vorher war die bernische Exekutive vom Grossen Rat mit einer von SVP, SP und FDP unterstützten Motion Houriet (fdp) aufgefordert worden, sich mit konkreten Massnahmen gegen die Gebietsansprüche des Kantons Jura zu widersetzen. Ebenfalls mit einer Motion hatte ein anderer Berner Jurassier (Benoit, svp) verlangt, dass als Gegengewicht zum jurassischen Wiedervereinigungsfonds ein bernischer Fonds zur Verteidigung der territorialen Integrität zu gründen sei. Auf Antrag der Regierung, welche auf die schlechten Erfahrungen mit staatlichen Propagandafonds hinwies, lehnte der Grosse Rat diesen Vorstoss ab [9].
Auch der Bundesrat nahm im Berichtsjahr Stellung zur Jurapolitik. Auf Ersuchen der Regierungen Berns und des Juras beauftragte er das EJPD, gemeinsam mit den beiden Regierungen "Gespräche über Stand und Weiterentwicklung der Juraproblematik sowie über Möglichkeiten der Konfliktbewältigung und Entspannung" aufzunehmen. In seiner Antwort auf zwei Interpellationen verurteilte er die 1989 vom jurassischen Parlament verabschiedete Motion für einen kantonalen Beitrag an die Stiftung für die Wiedervereinigung als eine Provokation, welche die Souveränität des Kantons Bern verletze [10].
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Weiterführende Literatur
T. Fleiner, "Die Entwicklung des schweizerischen Föderalismus am Bilde der kan'tonalen Parlamente", in P. Stadlin, Die Parlamente der schweizerischen Kantone, Zug 1990, S. 103 ff.
E. Grisel, "L'approbation des lois cantonales par le Conseil fédéral: la loi du 15 décembre 1989", in Zeitschriftfürschweizerisches Recht, 109/1990, I, S. 275 ff.
F. Ossenbühl, Föderalismus und Regionalismus in Europa. Verfassungskongress in Bonn 14.-16. September 1989, Baden-Baden 1990.
R. Ratti, "Auf dem Weg zu einem Bund der Regionen. Neue Formen interkantonaler und grenzüberschreitender Zusammenarbeit", in NZZ, 6.11.90.
R.-O. Schulze, "Föderalismus als Alternative? Überlegungen zur territorialen Reorganisation von Herrschaft", in Zeitschrift für Parlamentsfragen, 21/1990, S. 475 ff. (Überblick über die laufende Diskussion, leider ohne Berücksichtigung der schweizerischen Literatur).
D. Sidjanski, "Actualité et dynamique du fédéralisme européen", in Revue du Marché commun, 1990, no 341, S 655 ff.
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R. Béguelin (éd.), Mémento. Succession des événements qui ont jalonné le combat jurassien de libération, Delémont 1990 (tome 2, 1980-90).
B. Pronguet (éd.), Nouvelles composantes de l'identité jurassienne: 1974-1989, Porrentruy 1990.
P.N. Soral, Autopsie d'une trahison. Analyse de la propagande antiséparatiste à l'époque de l'autodétermination, Delémont (Rassemblement jurassien) 1990.
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[1] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1798 ff. Vgl. SPJ 1989, S. 38. Siehe auch unten, Teil I, 7c (Invalidenversicherung). Zum Hochschulförderungsgesetz siehe unten, Teil I, 8a (Hautes écoles).
[2] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1912 f. Zur internationalen Diskussion siehe auch die am Ende dieses Kapitels angegebene Literatur.
[3] Presse vom 6.4.90; BaZ-Magazin, 7.4.90; BaZ, 3.5. und 19.5.90; TA, 17.11.90. Zur Abstimmung von 1969 siehe SPJ 1969, S. 28 f.
[4] Presse vom 6.2.90; Bund, 10.2. und 23.2.90. Zur Abstimmung und den Beschwerden siehe SPJ 1989, S. 39 und NZZ, 1.2.90.
[5] BaZ, 15.2. und 19.3.90.
[6] Bund, Dém. und Express, 15.12.90; Jura Libre, 20.12.90. Vgl. SPJ 1989, S. 39.
[7] Dém., 22.6.90. Der Regierungsantrag ging auf eine im Vorjahr überwiesene Motion zurück (vgl. SPJ 1989, S. 40).
[8] Bund, 20.12. und 21.12.90; Express, 21.12.90.
[9] BaZ und BZ, 20.2.90; Bund 20.6. und 17.8.90. Zur Stimmung im Berner Jura bzw. in Moutier vgl. die Dossiers in 24 Heures (supplément hebdomadaire), 14.4.90 (A. Pichard) bzw. in TAM, 12.10.90).
[10] Bund, BZ und Suisse, 3.5.90; NZZ, 7.9. und 11.9.90; Verbandl. B.vers., 1990, V, S. 67 und 119f.
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