Grundlagen der Staatsordnung
Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
Der Bundesrat vereinheitlichte das Erscheinungsbild der Bundesverwaltung in der Öffentlichkeit und definierte dazu ein für alle Amtsstellen verbindliches Logo. – Der Kanton Freiburg gab sich eine neue Verfassung; der Zürcher Verfassungsrat verabschiedete seinen Entwurf zuhanden der Volksabstimmung.
Grundsatzfragen
Die Berner Nationalrätin Kiener Nellen (sp) forderte mit einer vom Parlament noch nicht behandelten Motion die Ersetzung des aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammenden Textes der
Landeshymne durch eine der heutigen Zeit entsprechende Version. Insbesondere solle darin den in der neuen Verfassung deklarierten politischen Zielen (z.B. Gleichberechtigung der Geschlechter) Rechnung getragen werden. Der Bundesrat sprach sich gegen diesen Vorstoss aus, da „der momentan geltende Schweizerpsalm trotz gewisser Mängel dank seiner Bekanntheit eine würdige Landeshymne für die Schweiz“ sei, und es wohl unmöglich wäre, sich auf einen neuen Text zu einigen
[1].
Durch die Entwicklung von eigenen
Logos und Beschriftungen auf Korrespondenzen, Publikationen und Internetseiten der diversen Amtsstellen ist das
Erscheinungsbild der Bundesverwaltung in der Öffentlichkeit in den letzten Jahren zunehmend uneinheitlicher geworden. Der Bundesrat hatte deshalb 2003 den Grundsatzentscheid für die Rückkehr zu einem einheitlichen Auftreten beschlossen, und er hat dieses Ziel im August des Berichtsjahres konkretisiert. Das Logo soll für alle aus einem Schweizerwappen und der Beschriftung in allen vier Landessprachen („Schweizerische Eidgenossenschaft Confédération suisse Confederazione svizzera Confederatiun svizra“) bestehen. Ausnahmen, wie etwa die zusätzliche Verwendung der englischen Sprache, können im begründeten Einzelfall vom Bundesrat erlaubt werden. Überprüft werden sollen aber auch die mehr oder weniger fantasievollen Bezeichnungen, welche sich einige Bundesstellen mit dem Ziel eines attraktiveren öffentlichen Auftritts in den letzten Jahren gegeben haben (z.B. Swissmint für die Münzprägeanstalt)
[2].
Die von der GfS jährlich durchgeführte Befragung über die politischen und gesellschaftlichen Probleme, welche die Schweizerinnen und Schweizer am stärksten beschäftigen, ergab gegenüber dem Vorjahr kaum Veränderungen. An der Spitze der Rangliste stand weiterhin das
Problem der Arbeitslosigkeit, gefolgt von Gesundheitspolitik, Altersvorsorge und Asylpolitik, wobei die Bereiche Gesundheitspolitik und Altersvorsorge deutlich weniger oft genannt wurden als bei der letzten Erhebung
[3].
Kantonale Verfassungsrevisionen
In
Freiburg hiess
das Volk am 16. Mai mit einer Mehrheit von gut 58% die neue Kantonsverfassung gut. Als wichtigste Neuerungen brachte sie die Einführung des kommunalen Ausländerstimmrechts, die rechtliche Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Paaren sowie die Schaffung einer kantonalen Mutterschaftsversicherung. Für eine Ablehnung hatten die SVP, die FDP sowie eine Gruppe zur Verteidigung der französischen Sprache plädiert; die beiden ersteren, weil die Verfassung dem Staat zu viele nicht finanzierbare Aufgaben aufbürde, letztere, weil sie Gemeinden mit einer beträchtlichen angestammten anderssprachigen Minderheit (wie z.B. der Stadt Freiburg) das Recht einräumt, sich zur zweisprachigen Gemeinde zu erklären
[4].
In
Basel-Stadt wurde die Vernehmlassung über einen Vorentwurf für eine neue Kantonsverfassung abgeschlossen. Mit Ausnahme der Einführung des Ausländerstimmrechts, der Mutterschaftsversicherung (welche mit dem positiven Ausgang der Volksabstimmung auf Bundesebene ohnehin obsolet wurde) und der Parteienfinanzierung stiessen alle Neuerungen auf breite Zustimmung. Die zweite Lesung nahm der Verfassungsrat im November auf. Um nicht das gesamte Projekt zu gefährden, strich er das Ausländerstimmrecht wieder
[5]. In
Luzern schloss die Verfassungskommission ihre Arbeit ab und übergab ihren Vorschlag der Regierung, welche eine Vernehmlassung durchführte. Die Kommission hatte unter anderem beschlossen, das Ausländerstimmrecht nur in der fakultativen kommunalen Form aufzunehmen und diesen Vorschlag bloss als Variante dem Volk vorzulegen. In der Vernehmlassung wurden die wichtigsten angestrebten materiellen Änderungen (Ausländerstimmrecht, Stimmrechtsalter 16, Kompetenz des Parlaments, nichtchristliche Kirchen als öffentlich-rechtliche Anstalten zu anerkennen) von den drei bürgerlichen Parteien CVP, FDP und SVP abgelehnt
[6]. In
Zürich wurde anfangs Jahr die Vernehmlassung über den Vorentwurf für eine neue Verfassung abgeschlossen; im Sommer führte der Verfassungsrat die zweite Lesung des bereinigten Entwurfs durch. Dabei berücksichtigte er insbesondere auch das Anliegen der FDP, Grundsätze, welche bereits in der Bundesverfassung enthalten sind, nicht auch noch in die Kantonsverfassung aufzunehmen (namentlich Grund- und Sozialrechte). Im Oktober verabschiedete der Verfassungsrat den Entwurf gegen den Widerstand der SVP zuhanden der Volksabstimmung
[7]. Im Kanton
Schwyz beantragte die Regierung, eine Totalrevision der Verfassung in Angriff zu nehmen und dazu eine Verfassungskommission zu wählen
[8].
Die Bundesversammlung genehmigte eine Reihe von Revisionen von kantonalen Verfassungen, darunter auch die Totalrevision derjenigen
Graubündens. Dabei kam es zu einer Kontroverse zwischen dem Bundesrat und dem Ständerat über das Majorzsystem. Auslöser dazu war eine Bemerkung in der Botschaft der Landesregierung, welche, gestützt auf das Urteil einiger Staatsrechtler, das
Majorzsystem bei Parlamentswahlen als „rechtlich zweifelhaft“ eingestuft hatte, da es der demokratischen Repräsentationsidee widerspreche. Auf die bundesrätliche Anregung, dieses Wahlsystem für kantonale Parlamente in Zukunft als nicht verfassungskonform zu taxieren, reagierte die SPK des Ständerates – dessen Mitglieder mit Ausnahme der Vertreter des Kantons Jura alle nach diesem System gewählt werden – kurz, heftig und negativ. Das Majorzsystem werde nicht nur in der Schweiz, sondern auch in einer ganzen Reihe anderer demokratischer Staaten für Parlamentswahlen angewendet und es sei in der Schweiz gemäss Bundesverfassung Sache der Kantone und ihrer Bürgerinnen und Bürger, das von ihnen bevorzugte Wahlverfahren zu bestimmen. Beide Ratskammern schlossen sich dieser Meinung an, und auch Bundesrat Blocher distanzierte sich von der in der Botschaft formulierten Kritik am Majorzsystem. Unterstützung erhielt die Majorzkritik des Bundesrates von der Linken. Im Nationalrat unterlag sie jedoch mit einem Antrag, das Majorzsystem und die Wahlkreiseinteilung aus der Bündner Verfassung zu streichen, da sie im Widerspruch zur Bundesverfassung stehen würden
[9].
Weiterführende Literatur
Baglioni, Simone, Société civile et capital social en Suisse: une enquête sur la participation et l’engagement au niveau communal, s.l. (thèse sc. écon. Genève) 2004.
Church, Clive, The Politics and Government of Switzerland, Basingstoke (Palgrave Macmillan) 2004.
Freitag, Markus, „Schweizer Welten des Sozialkapitals: Empirische Untersuchungen zum sozialen Leben in Regionen und Kantonen“, in Schweizerische
Zeitschrift für Politikwissenschaft, 2004, Nr. 2, S. 87-118.
Jaquet, Christian, Das Staatsdesign der Schweiz – Zustand und Reform: Analyse des Erscheinungsbilds der Bundesverwaltung und Empfehlungen für seine Vereinheitlichung, Bern (Berner Fachhochschule) 2004.
Mazzoleni, Oscar (Ed.), Culture politiche e culture civiche a confronto. Il caso della regione insubrica, Bellinzona (Ufficio di statistica) 2004.
Schweizerische
Zeitschrift für Politikwissenschaft, 2004, Nr. 3 (Sonderheft zum Vergleich der politischen Systeme Japans und der Schweiz).
Sonderegger, Christian / Stampfli, Marc (Hg.), Aktuelle Schweiz: Lexikon für Politik, Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, Oberentfelden 2004 (4. aktualisierte und erweiterte Aufl.).
Widmer, Jean, Langues nationales et identités collectives: l’exemple de la Suisse, Paris (L’Harmattan) 2004.
(Siehe auch die diversen Ansprachen des Bundesrates in Documenta, 2004).
Arbeitsgruppe KV-Revision, Totalrevision der Verfassung des Standes Schwyz: Grundlagenbericht, Schwyz 2004.
Buser, Denise, Kantonales Staatsrecht: eine Einführung für Studium und Praxis, Basel 2004.
Gebauer, Bernt, Verfassungsreformprozesse in Grossbritannien und der Schweiz: (Modell-)Demokratien im Wandel, Berlin 2004.
Kölz, Alfred, Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte. Ihre Grundlinien in Bund und Kantonen seit 1848, Bern 2004.
Moor, Pierre (éd.), La Constitution vaudoise du 14 avril 2003, Berne 2004.
Nuspliger Kurt, Bernisches Staatsrecht und Grundzüge des Verfassungsrechts der Kantone, Bern 2004.
Tschannen, Pierre, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Bern 2004.
Töndury, Andrea Marcel, Bundesstaatliche Einheit und kantonale Demokratie: die Gewährleistung der Kantonsverfassungen nach Art. 51 BV, Zürich (Diss. jur.) 2004.
[1] Mo 04.3046;
Bund, 10.3.04.
[2]
AB NR, 2004, Beilagen IV, S. 241 f.;
NZZ, 5.5.04;
Bund und
NZZ, 26.8.04. Vgl. dazu auch
Lit. Jaquet.
[3]
TA, 13.12.04;
NZZ, 14.12.04.
[4] Verfassungsrat (3. Lesung):
Lib., 13.1., 17.1. und 21.1.04. Abstimmung:
Lib., 3.4. (Sprachenfrage), 5.5. und 17.5.04;
TA, 7.5.04. Vgl.
SPJ 2003, S. 15. Siehe dazu auch Ambros Lüthi, „Die Sprachenfrage in der Verfassung des Kantons Freiburg“, in
LeGes, 2004, Nr. 2, S. 65-91.
[5]
BaZ, 11.5., 23.11., 24.11. und 26.11.04. Vgl.
SPJ 2003, S. 15.
[6]
NLZ, 15.3., 30.4., 25.8. und 31.12.04.
[7]
NZZ, 10.1. (Vernehmlassung), 29.5., 11.6., 26.6., 9.7. (2. Lesung), 29.10. und 30.10.04 (Verabschiedung). Vgl.
SPJ 2003, S. 15.
[8]
NLZ, 29.10.04. Siehe dazu auch
Lit. Arbeitsgruppe KV-Revision.
[9]
BBl, 2004, S. 1107 ff. (BR) und 3635 ff. (SPK-SR);
AB SR, 2004, S. 260 ff.;
AB NR, 2004, S. 1057 f.;
BBl, 2004, S. 3643. Gegen Jahresende beantragte der BR vorbehaltlos die Genehmigung der Totalrevision der neuen Freiburger Kantonsverfassung (
BBl, 2004, S. 403 ff.; siehe dazu oben).