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Sozialpolitik
Sozialversicherungen
Der Ständerat beriet die leistungsseitigen Massnahmen der 11. AHV-Revision. – Das Volk nahm den Bundesbeschluss über eine befristete Zusatzfinanzierung der IV an. – Das Parlament behandelte die Strukturreform der beruflichen Vorsorge und verabschiedete die Massnahmen zur Erleichterung der Arbeitsmarktbeteiligung. – Das Parlament befasste sich mit der Revision der Krankenversicherung. – Der Nationalrat beriet das Bundesgesetz über die Unfallversicherung. – Die Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes wurde vom Parlament behandelt.
Allgemeine Fragen
Eine parlamentarische Initiative Rossini (sp, VS) forderte eine Revision der verfassungsmässigen und gesetzlichen Grundlagen des schweizerischen Systems der sozialen Sicherheit, mit welcher das Konzept und die Organisation dieses Systems grundlegend überprüft würden. Damit könnten zahlreiche bestehende gesetzliche Grundlagen der Hauptbereiche der sozialen Sicherheit neu gebündelt und zusammengefasst werden. Die Mehrheit der Kommission des Nationalrates war der Meinung, dass der Umfang der Ziele der Initiative die Mittel und Möglichkeiten einer parlamentarischen Kommission bei Weitem überschreite, weshalb der eingeschlagene Weg über die parlamentarische Initiative falsch sei. Dies sah auch die Mehrheit des Nationalrates so und lehnte die Initiative mit 109 zu 58 Stimmen ab [1].
Vom Nationalrat mit 121 zu 68 Stimmen angenommen wurde hingegen eine Motion Loepfe (cvp, AI), welche den Bundesrat beauftragte, im Rahmen der von ihm verfolgten Sanierungsstrategie finanzpolitisch prioritäre Strukturreformen so zu gestalten, dass die Mehrausgaben unter Berücksichtigung der Konjunktur möglichst auf die Teuerung beschränkt werden können. Die Reformen im Sozialbereich sollen verschiedene Stossrichtungen in der IV und der AHV umfassen (z.B. Stabilisierung der IV-Rentnerbestände; Gleichsetzung des Rentenalters von Mann und Frau etc.). Die Strukturreformen sollen dabei umfassend angegangen werden, so dass Lastenverschiebungen von einer staatlichen Ebene auf die andere sowie gegenüber Sozialversicherungen vermieden werden können [2].
Ein Postulat Kuprecht (svp, SZ) forderte den Bundesrat auf, einen Bericht zu verfassen, in welchem die verschiedenen Herausforderungen der Zukunft in einer gesamthaften Betrachtung ersichtlich und die finanziellen Auswirkungen umfassend dargestellt werden. Da am Ende dieser und zu Beginn der nächsten Legislatur gezwungenermassen die langfristige Finanzierbarkeit aller Sozialwerke diskutiert werden muss, sollte, gemäss dem Anliegen des Postulates, dringend ein aktueller Bericht der finanziellen Situation als Ausgangspunkt für künftige Finanzierungsmodelle verfasst werden. Der Bundesrat zeigte sich bereit, einen solchen in Auftrag zu geben und empfahl daher das Postulat zur Annahme. Dem folgte auch der Ständerat. Gegen den Willen des Bundesrates wurde auch ein ähnliches Postulat der SVP im Nationalrat mit 103 zu 89 Stimmen angenommen [3].
Eine Motion der grünen Fraktion verlangte verschiedene Massnahmen im Bereich der Sozialversicherungen, um die sozialen Folgen der Wirtschaftskrise zu bewältigen. Es sollte das Arbeitslosengesetz rasch angepasst werden, indem während der Rezession wieder 520 Taggelder an alle Erwerbslosen ausbezahlt werden. Zudem würde der Solidaritätsbeitrag auf das gesamte nichtversicherte Einkommen ab 126 000 Fr. erhoben und nicht auf ein Höchsteinkommen limitiert, sowie eine Einfrierung der Krankenkassenprämien für die nächsten zwei Jahre erfolgen. Der Bundesrat empfahl die Motion zur Ablehnung, da er beispielsweise die vorgeschlagene Finanzierung der Prämienerhöhungen über Bundesgelder als dem Versicherungsprinzip nicht entsprechend ansah. Der Nationalrat lehnte die Motion mit 124 zu 62 Stimmen ab [4].
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Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV)
Eine von den Grünen unterstützte Standesinitiative des Kantons Zürich forderte die Gleichbehandlung bei der Bemessung der AHV-Altersrenten, unabhängig vom Zivilstand der Anspruchsberechtigten. Die Kommission des Nationalrates beantragte, der Initiative keine Folge zu leisten. Obwohl sie die so genannte Heiratsstrafe als störend empfand, hätten Ehepaare und registrierte Partnerschaften immer noch zahlreiche Vorteile in der AHV gegenüber Konkubinats Paaren. Der Nationalrat folgte seiner Kommission und gab der Standesinitiative keine Folge [5].
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Die im Vorjahr behandelten leistungsseitigen Massnahmen der 11. AHV-Revision wurden im Berichtsjahr auch im Ständerat diskutiert. Das Eintreten auf die Vorlage beschloss dieser ohne Gegenstimme. Im Laufe der Debatte zeichneten sich drei verschiedene Meinungslager ab: einerseits die Gegner eines höheren Frauenrentenalters mit erleichterter vorzeitiger Pensionierung für Personen mit niedrigem Einkommen und andererseits die sparpolitisch motivierten Befürworter des Nationalratsbeschlusses sowie die Befürworter der Variante der Kommissionsmehrheit, welche die Erhöhung des Frauenrentenalters und eine befristete Rentenkürzung bei vorzeitigem Ruhestand vorsah.
In der Detailberatung folgte der Ständerat der Kommissionsmehrheit und wies alle Minderheitsanträge zurück. Damit schuf er mehrere, teilweise auch grundlegende, Differenzen zum Nationalrat. So wollte er beispielsweise den Maximalbeitragssatz auf das 25-fache und nicht wie vom Nationalrat vorgeschlagen auf das 50-fache des Mindestsatzes festsetzen. Im Gegensatz zum Nationalrat löste die Erhöhung des Frauenrentenalters im Ständerat keine grosse Diskussion aus. Eine grössere Differenz zum Nationalrat schuf die kleine Kammer beim Rentenvorbezug. Mit 25 zu 16 Stimmen wurde der Vorschlag der Kommissionsmehrheit angenommen, welcher einen auf zehn Jahre befristeten flexiblen Rentenvorbezug für Frauen vorsah, mit einer von der Dauer des Vorbezugs sowie von der Höhe des massgebenden durchschnittlichen Jahreseinkommens abhängigen Rentenkürzung. Dabei sollte die Rente nach versicherungstechnischen Regeln gekürzt werden, sobald das massgebende Jahreseinkommen einen Anspruch auf eine maximale Altersrente rechtfertigt. In der Gesamtabstimmung nahm der Ständerat die Vorlage zwar an, allerdings mit einem Ergebnis von 16 Ja-Stimmen bei 10 Gegenstimmen und 12 Enthaltungen [6].
Die zweite Botschaft der 11. AHV-Revision, welche sich mit der Einführung einer Vorruhestandsleistung beschäftigte, war im Vorjahr im Nationalrat auf Ablehnung gestossen. Der Ständerat beschloss im Berichtsjahr, auf die Vorlage ebenfalls nicht einzutreten. Damit war sie insgesamt abgewiesen und erledigt [7].
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Invalidenversicherung
Eine Motion Rossini (sp, VS) forderte, eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, damit der neue IV-Ausgleichsfonds mit 5 Mia Fr. aus dem Gewinn der Nationalbank gespeist werden könne. Der Bundesrat lehnte die Motion ab, mit der Begründung, dass er eine Verknüpfung von Nationalbankerträgen mit spezifischen Zwecken für gefährlich halte. Die Motion trage zudem der Unsicherheit der zukünftigen Entwicklung keine Rechnung. Der Nationalrat schloss sich dieser Ansicht an und lehnte die Motion mit 114 zu 55 Stimmen ab [8].
Eine parlamentarische Initiative der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerates forderte, dass aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen Lage das Inkrafttreten der IV-Zusatzfinanzierung um ein Jahr verschoben werden soll. Der Bundesbeschluss über eine befristete Zusatzfinanzierung der Invalidenversicherung durch Anhebung der Mehrwertsteuersätze sah eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf den 1. Januar 2010 vor. Aufgrund der Krise wollte die Kommission des Ständerates diese Anhebung nun auf den 1. Januar 2011 verschieben. Eine frühere Mehrwertsteueranhebung würde zu einer Kaufkraftabschöpfung bei der Bevölkerung führen, welche die rezessive Entwicklung zusätzlich verschärfen würde. Im Ständerat war die parlamentarische Initiative nicht zuletzt aufgrund des ungewöhnlichen Vorgehens umstritten. This Jenny (svp, GL) beantragte das Nichteintreten auf die Vorlage. Er sah in der Verschiebung der Inkraftsetzung der Mehrwertsteueranhebung ein Manöver, um sich in der Abstimmungskampagne die Unterstützung der Wirtschaftsverbände zu sichern. Diesen Antrag lehnte der Ständerat jedoch mit 31 zu 1 Stimme ab. In der Gesamtabstimmung wurde die Initiative mit 28 zu 1 Stimme angenommen, allerdings bei 7 Enthaltungen, welche vorwiegend aus dem rechten Lager kamen und sich grundsätzlich gegen eine Erhöhung der Mehrwertsteuer wandten. In der Schlussabstimmung nahm der Ständerat die parlamentarische Initiative mit 34 zu 4 Stimmen bei 4 Enthaltungen und der Nationalrat mit 114 zu 9 Stimmen an [9].
Eine weitere parlamentarische Initiative der WAK des Ständerates forderte den Bundesrat auf, das Bundesgesetz über die Sanierung der Invalidenversicherung an den Bundesbeschluss über die Änderung der befristeten Zusatzfinanzierung durch Anhebung der Mehrwertsteuersätze anzupassen. Dabei ging es insbesondere darum, die beiden Vorlagen zeitlich anzupassen. Materiell wurden mit der parlamentarischen Initiative keine Änderungen vorgenommen. Der Entwurf passierte die Gesamtabstimmung im Ständerat einstimmig [10].
Eine Motion der SVP forderte den Bundesrat dazu auf, die Vorarbeiten für eine 6. IV-Revision aufzunehmen und dem Parlament zusätzlich zur verabschiedeten 5. IV-Revision einen Vorschlag für eine 6. IV-Revision vorzulegen, welcher zu einer wesentlich weitergehenden, ausgabenseitigen Sanierung der IV führen sollte. Um die IV strukturell zu sanieren, sei eine konsequente Bekämpfung aller noch bestehenden Missbräuche und damit eine massive Senkung der Rentnerzahlen unabdingbar. Der Bundesrat hielt dem entgegen, dass er den Handlungsbedarf längst erkannt habe und die nötigen Massnahmen eingeleitet worden seien. Mit rein ausgabenseitigen Massnahmen lasse sich die IV aber nicht sanieren. Der Bundesrat beantragte daher die Ablehnung der Motion. Dem folgte auch der Nationalrat, welcher die Motion mit 130 zu 61 Stimmen ablehnte [11].
Ebenfalls aus den Reihen der SVP stammte eine Motion Hutter (svp, SG), welche forderte, dass Ärzte künftig für Krankheitszeugnisse haftbar gemacht werden können, wenn sich diese als objektiv unhaltbar herausstellen und der IV dadurch Kosten entstanden sind. Der Bundesrat lehnte die Motion ab, weil er der Ansicht war, dass eine Sensibilisierung der Ärzteschaft im Bereich der Ausstellung von Arztzeugnissen und eine möglichst konsequente Trennung der Zuständigkeiten zwischen behandelnden Ärzten und Sozialversicherung wirkungsvoller seien als neue Haftungsnormen. Dem folgte auch der Nationalrat und lehnte die Motion mit 97 zu 64 Stimmen ab [12].
Bei der Missbrauchsbekämpfung verzeichnete die IV Erfolge. Aufgrund erster Erfahrungen rechnete sie damit, 50 Mio Fr. pro Jahr einsparen zu können. Seit August 2008 hatte die IV die Betrugsbekämpfung intensiviert. Das Mittel der Observation oder der Einbezug externer Experten war der Sozialversicherung mit der 5. IV-Revision eingeräumt worden. Im ersten halben Jahr wurden rund 1400 Verdachtsfälle eruiert, daraus resultierten 80 Betrugsfälle [13].
Eine parlamentarische Initiative Wehrli (svp, SZ) forderte, dass die Hörgeräteversorgung von der IV in die Krankenversicherung übertragen wird. Argumentiert wurde damit, dass in den meisten umliegenden Ländern die Krankenversicherung für die Versorgung mit Hörgeräten zuständig sei. Eine Übertragung der Hörgeräteversorgung ins Krankenversicherungsgesetz würde zudem die Vergleichbarkeit der Preise erleichtern. Die Kommission des Nationalrates beantragte mit 12 zu 9 Stimmen, der Initiative keine Folge zu leisten. Die Mehrheit und Minderheit der Kommission waren sich insbesondere nicht darüber einig, ob eine Verschiebung ins Krankenversicherungsgesetz mehr oder weniger Möglichkeiten biete, um auf die Preise Einfluss nehmen zu können. Der Nationalrat folgte mit 104 zu 59 Stimmen der Minderheit der Kommission und gab der parlamentarischen Initiative Folge [14].
Ebenfalls Zustimmung fand eine Motion Rennwald (sp, JU), welche den Bundesrat aufforderte, Beiträge für die Abgabe von Hilfshunden an motorisch eingeschränkte Personen über die IV zu leisten. Der Bundesrat beantragte die Annahme der Motion. Dem folgte auch der Nationalrat [15].
Ein Postulat Hêche (sp, JU) forderte den Bundesrat auf, einen Entwurf für die Revision des Invalidengesetzes auszuarbeiten, der die Einführung eines Assistenzbeitrages sowohl für Erwachsene als auch für minderjährige Versicherte, Heimbewohnerinnen und -bewohner und bevormundete Personen vorsieht. Der Bundesrat lehnte diesen Vorschlag ab, weil er der kostenneutralen Umsetzung der Reform der IV Priorität einräumte. Bundesrat Pascale Couchepin hatte allerdings während der Debatte im Ständerat seine Ansicht geändert und empfahl das Postulat dem Ständerat doch noch zur Annahme. Der Ständerat nahm das Postulat, gegen den ursprünglichen Willen des Bundesrates, an [16].
Eine Motion Goll (sp, ZH) forderte den Bundesrat dazu auf, einen aktiven Beitrag zur Umsetzung der 5. IV-Revision zu leisten, indem er bis zum Jahr 2015 mindestens 1% der gesamten Personalkosten des Bundes für angepasste Arbeitsplätze und Aufgaben für Menschen mit Behinderungen einsetzten soll. Der Bundesrat wies darauf hin, dass bereits Bestrebungen im Gang seien, den Leitgedanken der IV „Eingliederung vor Rente“ nachzuleben und bei der Umsetzung der Personalpolitik zu berücksichtigen. Bereits heute bestehe für die Finanzierung der Integration ein spezifischer Kredit „Berufliche Integration“. Er beantragte daher die Ablehnung der Motion. Dem leistete auch der Nationalrat Folge und lehnte die Motion mit 114 zu 54 Stimmen ab [17].
Der Abwärtstrend der vergangenen Jahre bei der Zahl der Neurenten in der IV hatte sich auch 2008 fortgesetzt. Das Bundesamt für Sozialversicherungen meldete 1100 (5,8%) weniger Neurenten als 2007. Die leichte Entspannung an der Neurentenfront trug zu einem Rückgang des Gesamtrentenbestandes bei. Dennoch resultierte auch 2008 ein Defizit von 1,3 Mia Fr. Die Gesamtschuld der IV bei der AHV belief sich unterdessen auf 13 Mia Fr. Der leichte Rückgang des Defizites war vor allem auf konjunkturbedingt höhere Beiträge aus den Lohnabgaben zurückzuführen. Das BSV rechnete wegen des Konjunktureinbruchs aber bereits im Berichtsjahr wieder mit geringeren Einnahmen. Die IV blieb also, mit ihren strukturellen Defiziten, ein Sanierungsfall [18].
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Die auf Mai angesetzte Volksabstimmung zur IV, bei der es darum ging, dass zur Sanierung der IV Geld aus dem Topf der Mehrwertsteuer hätte bezogen werden sollen, wurde aus konjunkturpolitischen Gründen vom Bundesrat verschoben. Der Bundesrat hatte befürchtet, dass das Volk die Mehrwertsteuererhöhung für die IV wegen der schlechten Wirtschaftslage ablehnen würde und gab daher dem Parlament die Möglichkeit, den verabschiedeten Bundesbeschluss abzuändern. Parteien und Verbände reagierten mehrheitlich mit Verständnis auf die Verschiebung der Abstimmung, kritisierten aber, dass der Bundesrat keinen konkreten Änderungsvorschlag gemacht hatte. Dieses Vorgehen des Bundesrates war ungewöhnlich und kam in der Vergangenheit höchst selten vor. Der Bundesrat begründete seinen Entscheid damit, dass die Unterstützung von Wirtschaft und Parteien für die Vorlage am Schwinden war [19].
Am 27. September 2009 fand die verschobene Abstimmung schliesslich statt und das Volk stimmte mit einer Mehrheit von 54,5% für die Annahme des Bundesbeschlusses über eine befristete Zusatzfinanzierung der IV durch Anhebung der Mehrwertsteuersätze. Unterstützung fand die Vorlage bei der Linken, bei den meisten bürgerlichen Parteien und auch bei den grossen Wirtschaftsverbänden. Für die Befürworter stand vor allem die Sanierung der IV im Zentrum. Viele von ihnen hielten die Zusatzfinanzierung für unvermeidbar und gaben als Hauptmotiv an, dass man, wolle man die IV sanieren, letztlich keine andere Wahl hätte als die Zusatzfinanzierung anzunehmen. Zu den Gegnern der Vorlage gehörten die SVP und die kleineren Rechtsparteien. Sie waren der Meinung, dass man einzig mit einer resoluten Missbrauchsbekämpfung den Schuldenberg der IV abtragen könne. Ausserdem bezweifelten viele, dass es bei einer befristeten Erhöhung der Mehrwertsteuer bleiben würde und befürchteten, dass diese einen permanenten Charakter erhalten könnte [20].
Zwar stimmte eine klare Mehrheit von 54,5% für die Vorlage. Das erforderliche Ständemehr wurde jedoch nur mit dem knappest möglichen Ergebnis (12 zu 11 Stände) erreicht. Dabei zeigte sich ein aus sozialpolitischen Abstimmungen bekannter Graben: Die Westschweiz und die urbanen Kantone der Deutschschweiz stimmten für den Bundesbeschluss, die ländlichen Kantone der Ostschweiz und der Innerschweiz hingegen verwarfen die Vorlage überwiegend. Am klarsten abgelehnt wurde die Zusatzfinanzierung der IV in Appenzell Innerrhoden, Thurgau und Schwyz. Die meisten Befürworter fanden sich in den Kantonen Genf, Jura und Neuenburg mit jeweils mehr als 60% Ja-Stimmen. Die VOX Analyse ergab, dass das Stimmverhalten insgesamt stark von politischen Variablen geprägt war. Gesellschaftliche Gruppenmerkmale spielten hingegen keine grosse Rolle. Entscheidend war insbesondere die Einordnung in das politische Spektrum. Wer sich Links oder in der Mitte einstufte nahm die Vorlage meist an, wer sich Rechtsaussen einstufte, lehnte die Vorlage mit grosser Wahrscheinlichkeit ab. Eindrucksvoll war die Parolenkonformität im Stimmverhalten der Parteianhänger [21].
Befristete Zusatzfinanzierung der IV durch Anhebung der MWSt
Abstimmung vom 27. September 2009

Beteiligung: 40,8%
Ja: 1 112 818 (54,6%) / Stände: 11 2/2
Nein: 926 730 (45,4%) / Stände: 9 4/2

Parolen:
Ja: FDP, CVP, SP, EVP, CSP, GP, GLP, BDP; eco, SGV, SBV, SGB, TravS.
Nein: SVP, SD, EDU, FP, Lega.

* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
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Berufliche Vorsorge
Der Nationalrat behandelte die im Vorjahr im Ständerat angenommene Strukturreform der beruflichen Vorsorge. Das Eintreten auf die beiden Vorlagen war auch hier unbestritten. Die Kommission des Nationalrates hatte die meisten Bestimmungen entweder einhellig verabschiedet oder punktuell präzisiert, was eine Reihe von Kommissionsanträgen ergab, die von den Beschlüssen des Ständerates abwichen. Der Nationalrat folgte in den meisten Punkten den Anträgen seiner Kommission. Zu den vom Ständerat neu eingeführten Bestimmungen zur Regulierung der Anlagestiftungen schuf der Nationalrat zwei Differenzen im Bereich der Vermögensverwaltung. Ein Minderheitsantrag Stahl (svp, ZH) verlangte, dass Bestimmungen über die Anlage der Vermögen nicht nur durch die Anlegerversammlung, sondern unter der Voraussetzung der statutarischen Befugnis auch durch den Stiftungsrat erlassen werden können. Dieser wurde im Nationalrat mit 146 zu 2 Stimmen angenommen. Mit 86 zu 79 Stimmen wurde ein Minderheitsantrag Kleiner (fdp, AR) angenommen, welcher verlangte, dass sich eine Anlagegruppe nicht nur aus gleichen und nennwertlosen Ansprüchen mehrerer Anleger, sondern auch aus den entsprechenden Ansprüchen eines einzelnen Anlegers konstituieren kann. Ein Antrag Fluri (fdp, SO) präzisierte den Entwurf des Ständerates, indem der Bundesrat ein Anfangsvermögen und Garantieleistungen nicht für alle Sammel- und Gemeinschaftsstiftungen, sondern nur für entsprechende Neugründungen, festzulegen hat. Dieser wurde im Nationalrat deutlich, mit 154 zu 1 Stimme, angenommen. In der Gesamtabstimmung stimmte der Nationalrat der ersten Vorlage über die Strukturreform mit 151 zu 7 Stimmen zu.
In der zweiten Vorlage der Strukturreform des Bundesgesetzes über die berufliche Vorsorge, welche die Massnahmen zur Erleichterung der Arbeitsmarktbeteiligung älterer Arbeitsnehmer beinhaltete, schuf der Nationalrat nur eine einzige Differenz zum Ständerat. Er stimmte einem Antrag Triponez (fdp, BE) mit 94 zu 70 Stimmen zu, wonach eine Vorsorgeeinrichtung in ihrem Reglement vorsehen kann, dass für Versicherte, deren Lohn sich nach dem 58. Altersjahr um höchstens die Hälfte reduziert, auf Verlangen der versicherten Person, die Vorsorge für den bisherigen versicherten Verdienst weitergeführt wird. Die Vorlage wurde vom Nationalrat in der Gesamtabstimmung einstimmig angenommen [22].
In der Differenzbereinigung räumte der Ständerat die verbliebene Differenz in der zweiten Vorlage aus. Im Rahmen der Beratungen zur ersten Vorlage beseitigte der Ständerat nur wenige Differenzen und hielt an den meisten seiner Beschlüsse fest. So strich er mit 23 zu 12 Stimmen die vom Nationalrat eingeführte Regelung, wonach Experten, Anlageberater und Makler im Jahresbericht einer Vorsorgeeinrichtung mit Namen und Funktion kenntlich zu machen sind. Der Ständerat hielt zudem daran fest, die Bestimmung zu streichen, nach welcher Revisionsstellen zu prüfen haben, ob die Versicherer die vom Gesetz verlangten Angaben und Meldungen zuhanden der Aufsichtsbehörde vornehmen. Ein Minderheitsantrag Sommaruga (sp, BE), welcher verlangte, dass sich eine Anlegergruppe zwingend aus den Ansprüchen mehrerer Anleger konstituieren muss, wurde mit 23 zu 16 Stimmen abgelehnt. Damit verblieb das Geschäft im Berichtsjahr in der Differenzbereinigung [23].
Die zweite Vorlage der Strukturreform der beruflichen Vorsorge, über die Massnahmen zur Erleichterung der Arbeitsmarktbeteiligung älterer Arbeitnehmer, wurde in der Schlussabstimmung vom Ständerat einstimmig angenommen. Auch der Nationalrat nahm diese in der Schlussabstimmung mit 190 zu 2 Stimmen an [24].
Eine Motion Rechsteiner (sp, BS) forderte, dass die Sanierungsbestimmungen in der beruflichen Vorsorge bis zum Ende der laufenden Rezession für jene Vorsorgeeinrichtungen gelockert werden, welche aus konjunkturellen Gründen eine Unterdeckung aufweisen. Die Sanierungsmassnahmen seien auszusetzen, bis sich die Wirtschaft wieder erholt habe und die Börsenwerte zu einer durchschnittlichen Bewertung zurückgefunden hätten. Der Bundesrat beantragte die Ablehnung der Motion, weil er die konjunkturpolitischen Befürchtungen als unbegründet ansah. Dem folgte auch der Nationalrat, welcher die Motion mit 119 zu 67 Stimmen ablehnte. Auch eine ähnliche Motion Fetz (sp, BS) war im Ständerat chancenlos [25].
Eine Motion Amacker-Amann (cvp, BL) wollte den Bundesrat beauftragen, die gesetzlichen Regelungen so anzupassen, dass die Auszahlung von Altersleistungen bei Freizügigkeitspolicen und Freizügigkeitskonten in jedem Fall nur unter der Voraussetzung der schriftlichen Einwilligung des Ehegatten, der eingetragenen Partnerin oder des eingetragenen Partners gewährt wird. Anders als beim Kapitalbezug von Altersleistungen ist für die Auszahlung der Leistungen einer Freizügigkeitseinrichtung infolge Erreichens der Altersgrenze die schriftliche Zustimmung des Ehegatten nicht vorausgesetzt. Entsprechend der Empfehlung des Bundesrates nahm der Nationalrat die Motion an [26].
Ebenfalls angenommen wurde eine Motion Humbel Näf (cvp, AG), welche den Bundesrat beauftragte, in der beruflichen Vorsorge und im Freizügigkeitsgesetz die Grundlagen dafür zu schaffen, dass im Scheidungsfall obligatorische und überobligatorische Altersguthaben je im gleichen Verhältnis aufgeteilt werden. Auch der Bundesrat hatte die Annahme der Motion beantragt [27].
Eine parlamentarische Initiative Beck (lp, VD) forderte, dass die Staffelung der Altersgutschriften abgeschafft und eine einheitliche und altersunabhängige jährliche Gutschrift auf dem Altersguthaben vorgesehen wird. Diese Abschaffung sei nötig, weil gemäss der Auffassung des Initianten ältere Arbeitnehmer mit der bisherigen Regelung auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt werden. Die Kommission des Nationalrates beantragte mit 17 zu 4 Stimmen die parlamentarische Initiative abzulehnen. Sie begründete dies unter anderem damit, dass eine Umstellung der Altersgutschriften mit sehr langen Übergangsfristen verbunden und die parallele Existenz von zwei unterschiedlichen BVG-Systemen kompliziert und teuer wäre. Der Nationalrat folgte seiner Kommission und gab der Initiative keine Folge. Eine weitere parlamentarische Initiative Robbiani (cvp, TI) forderte den Bundesrat ebenfalls dazu auf, die Staffelung der Altersgutschriften so zu ändern, dass den älteren Arbeitnehmern kein Nachteil mehr erwächst. Insbesondere forderte der Initiant, dass eine Lösung beschlossen wird, bei der sich der Ansatz der Altersgutschriften ab dem 45. Lebensjahr der versicherten Person nicht mehr verändert. Auch hier beantragte die Kommission des Nationalrates eine Ablehnung. Dem folgte der Nationalrat mit 116 zu 56 Stimmen [28].
Eine Motion Sommaruga (sp, BE) wollte Lehren aus der Finanzmarktkrise ziehen und forderte den Bundesrat auf, Risikominimierungen für die Pensionskassenanlagen vorzuschreiben. Dazu forderte die Motionärin unter anderem, dass auf strukturierte Produkte und Hedge-Fonds sowie auf Aktivfonds verzichtet wird, dass Fremdwährungsanlagen nur mit obligatorischer Wechselkursversicherung vorgenommen und dass die von den Pensionskassen beigezogenen Experten namentlich genannt werden. Der Bundesrat lehnte die Motion ab, da er die Auffassung vertrat, dass eine vollständige Minimierung der Anlagerisiken nicht mit der Langfristigkeit der beruflichen Vorsorge vereinbar sei. Während der Diskussion im Ständerat schlug Rolf Büttiker (fdp, SO) vor, lediglich die Ziffer 5 der Motion anzunehmen, welche besagt, dass von den Pensionskassen beigezogene Experten namentlich genannt werden sollten. Bundesrätin Doris Leuthard wies vergeblich darauf hin, dass eine Umsetzung dieses Punktes relativ schwer sein dürfte, da der Begriff des Beraters kaum definiert sei. Für die Annahme der gesamten Motion sprachen sich nur 9 Vertreter des Ständerates aus, was bei 18 Stimmen dagegen nicht ausreichte. Die Annahme der Ziffer 5 hingegen wurde mit 20 zu 6 Stimmen beschlossen. Dem folgte auch der Nationalrat und nahm die Ziffer 5 ebenfalls an [29].
Der Ständerat nahm eine Motion seiner WBK an, welche den Bundesrat beauftragen will, für Berufe mit häufig wechselnden oder befristeten Anstellungen, wie sie bereits im Arbeitslosenversicherungsrecht definiert sind, bestehende Lücken in der sozialen Sicherheit gegenüber anderen Berufen so weit wie möglich zu schliessen. Der Kommissionssprecher Bürgi (svp, TG) wies in der Diskussion im Ständerat darauf hin, dass es bei dieser Motion vor allem um die Verbesserung der sozialen Sicherheit von Kulturschaffenden gehe. Der Bundesrat lehnte die Motion ab, weil er der Ansicht war, dass Sozialpartner und Vorsorgeeinrichtungen besser über die bereits bestehenden Vorsorgemöglichkeiten informieren und insbesondere die Möglichkeit zu Branchenlösungen nutzen sollten. Der Ständerat schloss sich jedoch seiner Kommission an und nahm die Motion an [30].
Eine parlamentarische Initiative Leutenegger Oberholzer (sp, BL) wollte mit einer Gesetzesrevision sicherstellen, dass niemand bei Auflösung des Arbeitsverhältnisses kurz vor Erreichen des ordentlichen Rentenalters gegen seinen Willen zur vorzeitigen Pensionierung gezwungen werden kann. Damit der Anreiz bzw. die Möglichkeit geschaffen werden kann, ein neues Arbeitsverhältnis zu begründen, soll es möglich sein, eine Freizügigkeitsleistung zu erhalten. Die Vorlage wurde von beiden Parlamentskammern deutlich angenommen [31].
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Krankenversicherung
Zu den Vorstössen aus der dringlichen Debatte über die angekündigten Prämienerhöhungen siehe oben, Teil I, 7b (Gesundheit, Sozialhilfe, Sport).
Zwei Motionen Leutenegger Oberholzer (sp, BL) resp. der SP-Fraktion im Nationalrat forderten den Bundesrat dazu auf, im Rahmen der Massnahmen zur Stützung der Konjunktur, dem Parlament eine Vorlage zur Entlastung der Familien mit Kindern zu unterbreiten. Dabei sollten in den Jahren 2010 und 2011 die Kinder bis zum 18. Altersjahr und die jungen Erwachsenen in Ausbildung bis zum 25. Altersjahr von den Krankenkassenprämien befreit werden. Der Bundesrat lehnte die Motionen ab, da er ein System der vollständigen Prämienbefreiung vorzieht. Der Nationalrat entschied sich gegen die Motion. Dasselbe Vorhaben verfolgte eine Motion Maury Pasquier (sp, GE) im Ständerat und scheiterte auch hier [32].
Ebenfalls abgelehnt wurde im Nationalrat eine Motion der Grünen, welche den Bundesrat beauftragen wollte, die im Krankenversicherungsgesetz zugesicherten Bundesbeiträge an die Kantone von 7,5 auf 10% zu erhöhen. Dabei sollten die Kantone verpflichtet werden, die Höhe der Prämienverbilligung so anzusetzen, dass die Bundessubventionen voll ausgeschöpft werden. Der Bundesrat beantragte die Ablehnung der Motion, da eine eben erst beschlossene Regelung (7,5%) nicht schon wieder in Frage gestellt werden sollte. Auch eine Motion Steiert (sp, FR) fand keine Mehrheit für einen zusätzlichen Bundesbeitrag an die kantonalen Prämienverbilligungen [33].
Eine Motion der SVP wollte den Bundesrat beauftragen, eine dringliche Gesetzesrevision vorzulegen, welche die Krankenkassenprämien für das Jahr 2010 auf dem Jahresniveau von 2009 einfriert und gleichzeitig die Vertragsfreiheit zwischen Versicherungen und Leistungserbringern unter Aufsicht von Bund und Kantonen herbeiführt. Der Bundesrat beantragte die Ablehnung der Motion, da er das Einfrieren der Prämien, mit welchem das Problem der Prämienerhöhungen nur auf die nächsten Jahre hinausgeschoben würde, nicht als sachgerecht betrachtete. Dem folgte auch der Nationalrat und lehnte die Motion mit 128 zu 57 Stimmen ab [34].
Eine parlamentarische Initiative Fetz (sp, BS) forderte, dass das Parlamentsgesetz mit Ausstandpflichten zu ergänzen sei, um über die Unvereinbarkeitsregeln hinaus Interessen- und Loyalitätskonflikte zwischen der Ausübung des parlamentarischen Mandats und der Funktion in mittelbaren Verwaltungsaufgaben zu verhindern. Dies betreffe beispielsweise die Krankenkassen, die in der sozialen Krankenversicherung tätig sind und damit unbestrittenermassen eine öffentliche Aufgabe im Auftrag des Bundes durchführen. In der Kommission des Ständerates sei die Dichte an Kassenmandatären unterdessen auf ein Mass gestiegen, das in der Öffentlichkeit umso weniger verstanden werde, als andere Funktionen einen Einsitz ins Parlament ganz verhindern. Die Kommission sprach sich knapp mit 6 zu 5 Stimmen gegen die parlamentarische Initiative aus. Etwas eindeutiger fiel die Abstimmung im Ständerat aus. Dieser sprach sich mit 23 zu 12 Stimmen gegen die parlamentarische Initiative aus [35].
In eine ähnliche Richtung zielte auch eine parlamentarische Initiative Jacqueline Fehr (sp, ZH), welche verlangte, dass Personen, die in einem operativen oder strategischen Leitungsgremium von Krankenkassen sitzen oder in den Leitungsgremien der entsprechenden Verbände, namentlich Santésuisse, tätig sind, der Bundesversammlung nicht angehören dürfen. Die Kommission des Nationalrates beantragte mit 16 zu 8 Stimmen, die parlamentarische Initiative abzulehnen. Dies mit der Begründung, dass Krankenkassen zwar im obligatorischen Bereich Verwaltungsaufgaben wahrnehmen, aber der Bund keine beherrschende Stellung einnehme, da er weder die geschäftsleitenden Gremien bestimme noch die Krankenkassen finanziere. Der Nationalrat folgte der Mehrheit seiner Kommission und lehnte die Initiative mit 104 zu 61 Stimmen ab [36].
Eine Motion der CVP forderte den Bundesrat auf, Massnahmen zur Kosteneindämmung bei den Prämien der obligatorischen Krankenpflegeversicherung in den Bereichen der ambulanten Spitalbehandlungen, der Medikamentenpreise und der Preise von diagnostischen und therapeutischen Mitteln und Gegenständen zu treffen. Überdies sollte der Bundesrat eine Höchstgrenze für die Sicherheitsreserven in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung festsetzen. Der Bundesrat empfahl den ersten Teil der Motion (über die Kosteneindämmungen) anzunehmen, da er seit Langem entschlossen sei, in diesen Bereichen weitere Anstrengungen zu unternehmen. Eine Plafonierung der Reserven lehnte er jedoch ab. Der Nationalrat folgte dem Bundesrat und nahm den ersten Teil der Motion an und lehnte den zweiten Teil ab [37].
Eine Motion Fetz (sp, BS) wollte den Bundesrat beauftragten, die kalkulatorischen kantonalen Krankenkassenreserven bis 2012 angleichen zu lassen. Der Bundesrat stellte sich hinter dieses Anliegen und legte dar, dass er mehrfach seinen Willen bekundet habe, die Reserven der Krankenversicherer zwischen den Kantonen bis 2012 ins Gleichgewicht zu bringen. Diese Angleichung über mehrere Jahre hat zum Ziel, ein angemessenes Verhältnis zwischen den verschiedenen kalkulatorischen kantonalen Reservequoten pro Versicherer zu erreichen. Der Ständerat zeigte sich in dieser Frage gespalten. Während Gutzwiller (fdp, ZH) eine Kantonalisierung der Reserven als nicht sinnvoll betrachtete, da das Risiko über grössere Kollektive abgedeckt werden müsse, stimmte eine knappe Mehrheit von 18 gegen 15 für die Annahme der Motion [38].
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Vor dem Hintergrund von Prämienerhöhungen gegen 15% hielt der Bundesrat rasch wirksame Massnahmen zur Kosteneindämmung für unabdingbar. Er legte dem Parlament daher eine Botschaft zur Revision des Krankenversicherungsgesetzes mit Massnahmen zur Eindämmung der Kostenentwicklung vor. Handlungsbedarf und Handlungsmöglichkeiten sah er vor allem im ambulanten und spitalambulanten Bereich. Die vorgeschlagenen dringlichen Massnahmen beinhalteten, dass erstens die Kantone zusätzlich zur bereits bestehenden Pflicht zur Planung des stationären Spitalbereichs auch zur Steuerung der Versorgung im spitalambulanten Bereich verpflichtet werden. Zweitens sollte die Nachfrage verringert werden durch die Erhebung eines vom Versicherten zu entrichtenden Behandlungsbeitrag und durch die Schaffung der allen Versicherten zugänglichen Möglichkeit, sich vor einem allfälligen Arztbesuch telefonisch beraten zu lassen. Schliesslich wollte der Bundesrat die Kompetenz erhalten, die Preise (Tarife) zu senken, wenn in einem bestimmten Bereich ein überdurchschnittlicher Preisanstieg zu verzeichnen ist. Zudem sollten zur sozialen Entlastung zusätzliche Gelder für die Prämienverbilligung von 200 Mio Fr. für das Jahr 2010 zur Verfügung gestellt werden [39].
Dieser Entwurf für eine Revision des Krankenversicherungsgesetzes wurde im Nationalrat als erster behandelt. Seine Kommission hatte den Entwurf in vielen Punkten abgeändert und in der Gesamtabstimmung eher knapp, mit 14 zu 10 Stimmen, angenommen. Umstritten waren vor allem die Streichung der vorgesehenen 200 Mio Fr. für die Prämienverbilligung und die vorgesehene Einführung der Vertragsfreiheit. Auf die Vorlage wurde mit 175 zu einer Stimme eingetreten. Die vom Bundesrat vorgeschlagene Praxisgebühr von 30 Fr., welche die Patienten bei den ersten sechs Arztbesuchen im Jahr entrichten sollten, hatte im Nationalrat keine Chance. Hingegen entschied sich der Rat für eine, von seiner Kommission vorgeschlagene, differenzierte Selbstbehaltsregelung. Die von einer Kommissionsmehrheit geforderte Einführung der Vertragsfreiheit zwischen Versicherern und Ärzten wurde im Nationalrat von den Linken und Grünen bekämpft und mit 87 zu 80 Stimmen abgelehnt. Der Vorschlag des Bundesrates zur Aufstockung der Prämienverbilligung um 200 Mio Fr. erhielt keine Mehrheit. Hier konnten sich die Bürgerlichen mit 105 zu 64 Stimmen durchsetzen. Ebenfalls gegen den Willen der links-grünen Minderheit dehnte der Nationalrat den bisher nur von Alleinstehenden erhobenen Beitrag an die Kosten des Spitalaufenthaltes auf alle Versicherte, mit Ausnahme der Kinder, aus. Ein Einzelantrag Ruey (fdp, VD) lehnte es ab, dass Kantone die Kompetenz erhalten, auch für den ambulanten Bereich der Spitäler Leistungsaufträge zu erteilen und diesen zu steuern. Der Antrag wurde mit 82 zu 74 Stimmen angenommen. Gemäss Antrag einer bürgerlichen Kommissionsminderheit beschloss der Nationalrat mit 117 zu 61 Stimmen, dass bei der Wahl einer höheren Franchise mit entsprechendem Prämienrabatt eine Vertragsdauer von drei Jahren zu gelten habe. Nach achtstündiger Debatte verabschiedete der Nationalrat die Vorlage in der Gesamtabstimmung mit 113 zu 58 Stimmen gegen den Widerstand des links-grünen Lagers, welches kritisierte, dass die Massnahmen eine einseitige Lastenverschiebung auf die Patienten und Versicherten darstellen [40].
Im Ständerat war das Eintreten auf die Vorlage unbestritten. Wie zuvor der Nationalrat strich auch der Ständerat ohne Diskussion die vom Bundesrat vorgeschlagene Praxisgebühr von 30 Fr. Mit der vom Nationalrat vorgeschlagenen differenzierten Selbstbehaltsregelung erklärte er sich grundsätzlich einverstanden. Analog zum Nationalrat wurde eine Erhöhung der Prämienverbilligung mit 23 zu 9 Stimmen abgelehnt. Der Ständerat beschloss ferner, dass die Krankenkassen in Zukunft nur noch Medikamente bezahlen müssen, die maximal 10% teurer sind als das jeweils günstigste Medikament. Nicht durchsetzen konnte sich eine Reduktion der Vertriebsmargen auf 8%. Bei der Vertragsdauer für Versicherte, welche eine höhere Franchise wählen, nahm der Ständerat eine Abschwächung vor und kürzte die Dauer auf zwei Jahre anstatt drei. Ausserdem setzte sich mit 20 zu 13 Stimmen ein Antrag durch, wonach Versicherte nach einem Jahr zwar nicht die Franchise, wohl aber die Kasse wechseln können, falls sich die Prämie erhöht. Analog zum Nationalrat lehnte es auch die kleine Kammer ab, den Kantonen Planungskompetenzen für den ambulanten Bereich der Spitäler zu erteilen. Den vom Nationalrat unterstützen bundesrätlichen Vorschlag für eine obligatorische flächendeckende Telefonberatung lehnte der Ständerat mit 23 zu 12 Stimmen ab. In der Gesamtabstimmung nahm die kleine Kammer die Vorlage einstimmig, mit 5 Enthaltungen, an [41].
In der Differenzbereinigung gab der Nationalrat bei der obligatorischen medizinischen Telefonberatung nach und strich den Passus. Die Bestimmung des Ständerates, dass Medikamente nur noch bezahlt werden müssen, wenn sie maximal 10% teurer sind als das günstigste Medikament, wurde vom Nationalrat gegen den Widerstand einer links-grünen Minderheit wieder gestrichen. Der Nationalrat folgte zudem einer Kommissionsminderheit, welche der Auffassung war, dass der differenzierte Selbstbehalt ohne Verzug eingeführt und nicht in die Managed-Care Vorlage ausgegliedert werden soll. Zudem forderte der Nationalrat, an der Dringlichkeit der Vorlage festzuhalten [42].
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Eine Motion Schwaller (cvp, FR) wollte den Leistungskatalog der Grundversicherung als Positivkatalog formulieren und eine strenge Überprüfung nach den Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit vornehmen. Der Bundesrat sah einen Teil der Anliegen der Motion bereits als erfüllt an, da ein positiv formulierter Leistungskatalog für die nichtärztlichen Leistungen bereits besteht. Die Problematik des Einsatzes medizinischer Leistungen ausserhalb des Zweckbereiches der obligatorischen Krankenpflegeversicherung lasse sich zudem nicht mit einer Positivliste lösen. Der Bundesrat beantragte daher die Ablehnung der Motion. Der Ständerat teilte die Meinung des Bundesrates aber nicht und nahm die Motion mit 17 zu 13 Stimmen an [43].
Eine Motion Stähelin (cvp, TG) forderte, dass Personen, welche aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation in der Lage sind, ihre Krankenkassenprämien zu bezahlen, dies aber trotzdem nicht tun, auf einer Liste erfasst werden, welche nur den Leistungserbringern, Gemeinden und Kantonen zugänglich ist. Die Erfassung auf dieser Liste hat zur Folge, dass seitens der Leistungserbringer nur noch die Leistungen der Notfallversorgung erbracht werden müssen, bis die Person wieder von der Liste gestrichen wird. Der Bundesrat anerkannte in seiner Antwort zwar die Problematik, er erachtete die Massnahme hingegen als nicht geeignet und beantragte daher die Ablehnung der Motion. Im Ständerat wurde ein Ordnungsantrag Fetz (sp, BS) angenommen, welcher forderte, dass die Motion durch die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit vorzuberaten sei [44].
Eine parlamentarische Initiative der SGK des Nationalrates sah eine umfassendere Lösung des Problems der Nichtbezahlung von fälligen Prämien und Kostenbeteiligungen vor. Die Vorlage der Kommission verlangte im Wesentlichen, dass die Kantone 85% der Forderungen übernehmen, für welche ein Verlustschein ausgestellt wurde. Um künftig zu verhindern, dass diejenigen Versicherten, denen die Prämienverbilligung direkt ausgerichtet wird, diese Gelder für andere Zwecke einsetzen, sollten alle Kantone verpflichtet werden, die Prämienverbilligungen an die Versicherer auszurichten. Im Nationalrat war das Eintreten auf die Vorlage unbestritten und die Fraktionen waren sich einig, dass das Problem der Nichtzahlung von Krankenkassenprämien und der Sistierung von Leistungen gelöst werden muss. Auch der Bundesrat unterstützte die Fassung der Kommission. Ein Minderheitsantrag Triponez (fdp, BE) forderte, dass die Versicherer die im Nachhinein bei den Versicherten eingetriebenen Schulden vollständig für sich behalten können. Dies sollte einen Anreiz für die Versicherer schaffen, die Schulden überhaupt einzutreiben. Der Nationalrat nahm den Minderheitsantrag mit 101 zu 69 Stimmen an. Ein weiterer Minderheitsantrag Bortoluzzi (svp, ZH) war ebenfalls erfolgreich und wurde mit 109 zu 58 Stimmen angenommen. Dieser Antrag schlug vor, dass Kantone Listen erstellen können von Personen, die trotz Mahnung und Betreibung ihre Prämien nicht bezahlen. Als Modell sollte dabei der Kanton Thurgau dienen, der diese Massnahme bereits mit Erfolg praktiziere. In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat die Vorlage mit 165 zu 1 Stimme an [45].
Auch der Ständerat trat ohne Gegenantrag auf das Geschäft ein. Er folgte dem Antrag seiner Kommission und hielt an der ursprünglichen Fassung der parlamentarischen Initiative fest, wonach von den nachträglich beim Versicherten eingetriebenen Geldern die Kassen 50% an die Kantone zurückzahlen müssen. In der Gesamtabstimmung hiess der Ständerat die Vorlage einstimmig gut [46].
Eine Motion Humbel Näf (cvp, AG) forderte den Bundesrat auf, die Voraussetzungen zu schaffen, damit die Pflegeleistungen nach dem Krankenversicherungsgesetz und die Hilflosenentschädigung zur AHV/IV mit dem gleichen Bedarfsabklärungsinstrument bestimmt werden. Ziel sei die Vereinfachung der Administration, insbesondere für Pflegeinstitutionen wie Spitex und Pflegeheime. Der Bundesrat beantragte zuerst die Ablehnung der Motion mit der Begründung, dass sich die Hilflosenentschädigungen der AHV/IV und die Pflegeleistungen gemäss Krankenversicherungsgesetz in grundsätzlicher Hinsicht von einander unterscheiden. Seit seiner ersten Stellungnahme hatten sich einige Voraussetzungen verändert und er war deshalb bereit, die Motion in Form eines Postulates anzunehmen. Dem folgte der Nationalrat aber nicht, indem er die Motion als solche mit 109 zu 71 Stimmen annahm [47].
Anlässlich der angekündigten Prämienerhöhungen der Krankenkassen, welche, verglichen mit dem Anstieg der Gesundheitskosten, überproportional zunehmen, fand im Nationalrat eine dringliche Debatte statt. Es wurden fünf dringliche Interpellationen zum Thema Krankenversicherung und Gesundheitskosten behandelt und diskutiert. Einerseits eine dringliche Interpellation der CVP-Fraktion, welche Massnahmen forderte in den Bereichen Medikamentenpreise, festgelegte Preise der Migel, Spitallandschaft, Abgeltung von Überkapazitäten bei den Spitälern, korrekte Kodierung von Fällen in der stationären Behandlung, Planung und Entwicklung der Spitzenmedizin sowie bei den Tarifvereinbarungen zwischen den Leistungserbringern und den Krankenversicherern. Etwas allgemeiner formuliert war eine dringliche Interpellation der BDP, welche vom Bundesrat wissen wollte, welche Massnahmen dieser zur Abschwächung der Kosten- und Prämienentwicklung plant und wie das Kostenwachstum beschränkt werden könne. Die dringliche Interpellation der SP unterteilte ihre Forderungen in zwei verschiedene Bereiche. Zum einen in dringliche Massnahmen im Bereich der Krankenversicherung, wo es ebenfalls um Medikamentenpreise und eine Rationalisierung des Spitalsystems ging, aber auch um Prämienverbilligungen, einen Paradigmenwechsel im Bereich Managed Care und eine Revision des Risikoausgleichs. Zum anderen forderte sie dringende Reformen bei der Gouvernanz, wie beispielsweise die Verbesserung der Wirksamkeit der Gouvernanz im Gesundheitswesen. Die FDP verlangte in ihrer dringlichen Interpellation vor allem eine Problemlösung im Bereich der mangelnden Selbstverantwortung der Leistungsbezüger, einen transparenteren Wettbewerb bezüglich Preis und Leistungen der Versicherungsprodukte der Krankenversicherer, eine bessere Transparenz über Qualität und Nutzen der erbrachten Leistungen und eine Wiederaufnahme der Anreize bezüglich der Verschreibung von Generika. Schliesslich appellierte die grüne Fraktion mit ihrer dringlichen Interpellation an die soziale Verträglichkeit des Prämienanstieges und interessierte sich daher besonders für Fragen betreffend die Prämienverbilligung. Aber auch Verwaltungskosten der Krankenkassen wurden angesprochen, ebenso wie die Finanzflüsse und Quersubventionierungen innerhalb der Krankenkassen-Holdings und die Rahmenbedingungen für die Reservebildung der Krankenkassen [48].
Bei einem Gesundheitsgipfel im Frühjahr forderte Bundesrat Couchepin die Einführung einer Praxisgebühr von 30 Fr., um unnötige Arztbesuche zu verhindern. Diese finanzielle Hürde sollte die Patienten davon abhalten, wegen Bagatellen die Krankenkasse zu beanspruchen. Die Belastung chronisch Kranker wurde dabei allerdings begrenzt. Der Vorschlag stiess auf sehr viel Kritik: einzig der Krankenkassenverband Santésuisse stand der vorgeschlagenen Praxisgebühr positiv gegenüber. Neben der Praxisgebühr stellte Couchepin wenig später noch weitere Massnahmen vor, um die angekündigten massiven Prämienerhöhungen zu stoppen. Einerseits sollte eine Telefonberatung eingeführt werden, welche alle Versicherer kostenlos erbringen müssen. Andererseits wollte der Bundesrat die Kompetenz erhalten, die Senkung der Arzttarife bei einer überdurchschnittlichen Kostensteigerung beschliessen zu können. Mit Leistungsaufträgen sollten die Kantone zudem dazu gebracht werden, die Kosten bei den Spitalambulatorien zu senken. Für die Verbilligung von Krankenkassenprämien forderte Couchepin zudem den Einsatz von mehr Bundesmitteln [49].
Trotz heftiger Proteste der Ärzte senkte der Bundesrat auf Mitte Jahr die Labortarife. Damit sollen jährlich 200 Mio Fr. eingespart werden. Die Ärzteverbindung FMH wehrte sich gegen die Senkung und warnte vor einschneidenden Folgen für die Patienten. Das geltende Tarifmodell war seit 1994 nicht mehr angepasst worden, obwohl heute dank technischem Fortschritt Analysen automatisiert und damit kostengünstiger durchgeführt werden können. Die Schweizer Labortarife waren zudem massiv höher als im umliegenden Ausland. Diese Sparmassnahme sorgte nicht nur bei den Ärzten für sehr viel Widerstand, sondern auch bei Gesundheitspolitikern aus verschiedenen Lagern. Neben den Hausärzten forderten auch die Patienten den Bund auf, die Labortarife nicht zu senken. Ein Ärztestreik in den Kantonen Waadt und Genf gegen die höheren Labortarife war ausserdem gut befolgt worden. Wenig später folgte ein landesweiter Ärzteprotest, bei dem viele Hausärzte ihre Praxen für einige Stunden schlossen und zu Manifestationen in die Kantonshauptstädte zogen [50].
Weitere Sparvorschläge kamen von den Gesundheitsdirektoren der Kantone. Diese wollten die Einrichtung von effizienten Ärztenetzwerken forcieren. Der Anreiz, ein Managed Care Modell zu wählen, könnte beispielsweise für gesundheitlich angeschlagene Patienten dadurch erhöht werden, dass sie keinen Selbstbehalt mehr bezahlen müssten [51].
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Unfallversicherung
Der Nationalrat behandelte das im Vorjahr vom Bundesrat vorgelegte Bundesgesetz über die Unfallversicherung. Dieses wurde in zwei Vorlagen beraten: einerseits die Fragen zur Unfallversicherung und Unfallverhütung (Vorlage 1), andererseits diejenigen zur Organisation und den Nebentätigkeiten der SUVA (Vorlage 2). Die Kommission des Nationalrates stellte den Ordnungsantrag, die Vorlage über die SUVA auszusetzen, bis ein Beschluss über das Eintreten oder Nichteintreten auf die erste Vorlage definitiv geklärt sei. Diesen Ordnungsantrag nahm der Rat, gegen den Willen der SP und GP, mit 93 zu 56 Stimmen an. Die erste Vorlage war in der Kommission gescheitert. Hauptkontroversen hatten sich dabei insbesondere um die Senkung des versicherten Verdienstes und die zukünftige Ausgestaltung des Teilmonopols der SUVA ergeben. Der Nationalrat folgte jedoch seiner Kommission nicht und beschloss mit 102 zu 80 Stimmen das Eintreten auf die Vorlage. Damit wurde das Geschäft an die Kommission des Nationalrates zur Detailberatung zurückgegeben [52].
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Arbeitslosenversicherung
In der Sommersession befasste sich der Ständerat als Erstrat mit der Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes. Das Eintreten auf die Vorlage war unbestritten. Ein Minderheitsantrag Fetz (sp, BS), welcher den Beitragssatz auf 2,3 anstatt der vorgesehenen 2,2% anheben wollte, wurde mit 28 zu 8 Stimmen abgelehnt. In Bezug auf die Zumutbarkeit der Annahme von Arbeit wurde für Personen bis zum 30. Altersjahr eine Verschärfung vorgenommen. Bei der Erhöhung der Wartezeiten änderte der Ständerat die Vorlage des Bundesrates ab. Dabei beschloss er eine einkommensabhängig ausgestaltete Erhöhung der Wartezeiten für Personen ohne Unterhaltspflichten. Mehrere Minderheitsanträge der Linken hatten im Ständerat keine Chance. In der Gesamtabstimmung wurde die Vorlage mit 30 zu 8 Stimmen angenommen [53].
In der vorberatenden Kommission des Nationalrates war die Vorlage in der Gesamtabstimmung abgelehnt worden. Diese beantragte daher das Nichteintreten. Der Rat lehnte dies ebenso ab wie Minderheitsanträge, welche die Vorlage wieder an den Bundesrat zurückschicken wollten. Angenommen wurde lediglich ein Ordnungsantrag, welcher forderte, die für die Revision zentralen Bestimmungen über Beitragsbemessung und Beitragssatz erst am Schluss, zusammen mit den, in den Übergangsbestimmungen vorgesehenen, kurzfristigen Sanierungsmassnahmen zu beraten. Mit 114 zu 65 Stimmen stimmte der Nationalrat dem Beschluss des Ständerates zu, dass arbeitslose Personen bis zum 30. Altersjahr auch Arbeiten annehmen müssen, die nicht auf die Fähigkeiten oder auf die bisherige Tätigkeit des Versicherten Rücksicht nehmen. In Bezug auf die Wartezeit für das erste Taggeld schloss sich der Nationalrat dem Ständerat an. Diese Wartezeiten wurden durch einen angenommenen Minderheitsantrag Spuhler (svp, TG) auf weitere Personengruppen ausgedehnt. Korrekturen nahm der Nationalrat auch bezüglich der Höhe und der Höchstzahl von Taggeldern vor. Der betrügerische Bezug von Taggeldern soll zudem mit einer Gefängnisstrafe von bis zu sechs Monaten bestraft werden können. Der Nationalrat machte auch Anpassungen auf der Einnahmeseite. Er folgte mit 120 zu 62 Stimmen der Kommissionsmehrheit und damit dem Stände- und Bundesrat und beantragte einen Beitragssatz von 2,2%. In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat die Vorlage mit 119 zu 61 Stimmen an. Die Opposition kam vor allem von der Linken [54].
Eine Motion der SVP forderte den Bundesrat dazu auf, eine Änderung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes sowie anderer betroffener Gesetze vorzunehmen, mit dem Ziel, das sich abzeichnende Defizit in der Arbeitslosenversicherung abzuwenden, ohne die Beiträge der Arbeitslosenversicherung zu erhöhen und ohne die Wiedereinführung von Solidaritätsbeiträgen. Stattdessen seien Massnahmen zur Verhinderung des Missbrauchs aufgrund der Personenfreizügigkeit und durch „Scheinbeschäftigungsmassnahmen“ der Kantone sowie eine Verlängerung der Mindestbeitragsdauer, eine Einführung von degressiven Arbeitslosenversicherungsleistungen für Jugendliche zu prüfen. Der Nationalrat folgte der Empfehlung des Bundesrates und lehnte die Motion mit 128 zu 60 Stimmen ab [55].
Eine weitere Motion der SVP forderte den Bundesrat auf, die Mindestbeitragsdauer im Arbeitslosenversicherungsgesetz von 12 auf 24 Monate zu erhöhen. Begründet wurde diese Forderung damit, dass die Personenfreizügigkeit mit der EU Druck auf die Arbeitslosenversicherung ausübe. Der Bundesrat lehnte die Motion ab, unter anderem auch, weil eine Verlängerung der Beitragszeit alle Versicherten, unabhängig von ihrer Nationalität, belasten würde. Auch der Nationalrat teilte diese Meinung und lehnte die Motion mit 118 zu 68 Stimmen ab [56].
Ebenfalls erfolglos blieb eine Motion der GP, die den Bundesrat beauftragen wollte, das Arbeitslosenversicherungsgesetz so schnell wie möglich insofern anzupassen, dass wieder 520 Taggelder an alle Erwerbslosen ausbezahlt werden können. Argumentiert wurde damit, dass es nicht sein könne, dass zunehmend die Gemeinden über die Sozialhilfe für die Kosten der Arbeitslosigkeit aufkommen müssen. Der Bundesrat entgegnete, dass eine Verlängerung der Bezugsdauer sich kaum positiv auf die Wiedereingliederung von Stellensuchenden auswirken würde und beantragte daher die Ablehnung der Motion. Dem folgte auch der Nationalrat und lehnte die Motion mit 131 zu 63 Stimmen ab [57].
Eine Motion Robbiani (cvp, TI) ersuchte den Bundesrat, den Mindestansatz für die Bemessung des Taggeldes anzupassen. Der Grenzbetrag, unterhalb dessen Arbeitslose 80% des versicherten Verdienstes erhalten, war schon seit längerer Zeit unverändert und sollte mit dieser Motion angepasst werden. Auch der Bundesrat befürwortete eine solche Anpassung und sah eine Möglichkeit dazu in der laufenden Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes. Der Nationalrat teilte diese Auffassung jedoch nicht und lehnte die Motion mit 106 zu 80 Stimmen ab [58].
Auf den Bereich der Ausbildung von Arbeitslosen zielten zwei Motionen ab. Einerseits eine Motion Steiert (sp, FR), die den Bundesrat aufforderte, dem Parlament Vorschläge für eine Stärkung der im Arbeitslosenversicherungsgesetz vorgesehenen Massnahmen für Jugendliche ohne ausreichende Ausbildung zu unterbreiten und die finanziellen Aufwendungen in diesem Bereich zu erhöhen. Der Bundesrat beantragte die Ablehnung der Motion. Dem folgte auch der Nationalrat mit 126 zu 64 Stimmen. Andererseits eine Motion Aubert (sp, VD), die forderte, dass arbeitslose Erwachsene über 25 Jahre, die keine Ausbildung auf der Sekundarstufe II absolviert haben, eine Ausbildung machen können und gleichzeitig Taggelder erhalten. Damit wurde ein Paradigmenwechsel im Sinne von „Erstausbildung vor beruflicher Eingliederung“ gefordert. Der Bundesrat wies in seiner Antwort auf bestehende Möglichkeiten hin und kam zum Schluss, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für diese Massnahme nicht zu restriktiv seien. Er beantragte die Ablehnung der Motion. Dem folgte auch der Nationalrat und lehnte die Motion mit 123 zu 66 Stimmen ab [59].
Eine Motion Ineichen (fdp, LU) wollte den Bundesrat beauftragen, dass künftig Stellensuchenden und Arbeitslosen das ganze Vermittlungs- und Beratungspotential der privaten Personaldienstleister eröffnet wird. Es sollen die notwendigen Mittel bereitgestellt werden, damit die regionalen Arbeitsvermittlungszentren mit den privaten Anbietern auf vertraglicher Ebene ein optimales Dienstleistungspaket für Stellensuchende und Arbeitslose sicherstellen können. Der Bundesrat war der Ansicht, dass die Zusammenarbeit zwischen privater und öffentlicher Arbeitsvermittlung als gut und marktgerecht bezeichnet werden kann und beantragte daher, die Motion abzulehnen. Der Nationalrat nahm die Motion mit 107 zu 78 Stimmen an, der Ständerat lehnte sie jedoch auf Antrag seiner Kommission ab [60].
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Weiterführende Literatur
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[1] AB NR, 2009, S. 148 ff.
[2] AB NR, 2009, S. 218.
[3] AB SR, 2009, S. 255 f.; AB NR, 2009, S. 218.
[4] AB NR, 2009, S. 1552.
[5] AB NR, 2009, S. 1227.
[6] AB SR, 2009, S. 450 ff. und 474 ff. Siehe SPJ 2008, S. 214 ff.
[7] AB SR, 2009, S. 450 ff. Siehe SPJ 2008, S. 216.
[8] AB NR, 2009, S. 1249 f.
[9] AB SR, 2009, S. 725 ff. und 736; AB NR, 2009, S. 1313.
[10] AB SR, 2009, S. 1271.
[11] AB NR, 2009, S. 219.
[12] AB NR, 2009, S. 1600 f.
[13] Presse vom 21.4.09.
[14] AB NR, 2009, S. 785 ff.
[15] AB NR, 2009, S. 1800.
[16] AB SR, 2009, S. 254 f.
[17] AB NR, 2009, S. 1254 f.
[18] Presse vom 25.2.09.
[19] Presse vom 29.1.09.
[20] Presse vom 28.9.09.
[21] BBl, 2009, S. 8721 ff.; Milic, Thomas / Kuster, Stephan / Widmer, Thomas, Vox – Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 27. September 2009, Zürich 2009.
[22] AB NR, 2009, S. 1581 ff. Siehe SPJ 2008, S. 218 f.
[23] AB SR, 2009, S. 1230 ff.
[24] AB SR, 2009, S. 1310; AB NR, 2009, S. 2352.
[25] AB NR, 2009, S. 1547; AB SR, 2009, S. 161 ff.
[26] AB NR, 2009, S. 573.
[27] AB NR, 2009, S. 574.
[28] AB NR, 2009, S. 1649 f. (Pa.Iv. Beck); AB NR, 2009, S. 1649f. (Pa.Iv. Robbiani).
[29] AB SR, 2009, S. 165 ff.; AB NR, 2009, S. 1596.
[30] AB SR, 2009, S. 504 f.
[31] AB SR, 2009, S. 507 und 732; AB NR, 2009, S. 516 ff. und 1309.
[32] AB NR, 2009, S. 233 und 1547; AB SR, 2009, S. 523 f.
[33] AB NR, 2009, S. 230 (Motion der Grünen); AB NR, 2009, S. 1551 (Motion Steiert).
[34] AB NR, 2009, S. 1553.
[35] AB SR, 2009, S. 390 ff.
[36] AB NR, 2009, S. 939 ff.
[37] AB NR, 2009, S. 1280.
[38] AB SR, 2009, S. 250 ff.
[39] BBl 2009, S. 5793 ff.
[40] AB NR, 2009, S. 1376 ff. und 1409 ff.
[41] AB SR, 2009, S. 1069 ff. und 1078 ff.
[42] AB NR, 2009, S. 2077 ff. und 2147 ff.
[43] AB SR, 2009, S. 948 ff.
[44] AB SR, 2009, S. 521 f.
[45] AB NR, 2009, S. 1782 ff.
[46] AB SR, 2009, S. 1237 ff.
[47] AB NR, 2009, S. 526 f.
[48] AB NR, 2009, S. 1155 ff.
[49] Presse vom 22.4. und 7.5.09.
[50] Bund, 30.1.09; NZZ, 20.2. und 31.3.09; Presse vom 25.3.09.
[51] Presse vom 7.4.09.
[52] AB NR, 2009, S. 1213 ff. Siehe SPJ 2008, S. 225.
[53] AB SR, 2009, S. 565 ff.
[54] AB NR, 2009, S. 2168 ff., 2184 ff., 2195 ff., 2205 ff. und 2225 ff. Siehe SPJ 2008, S. 225 f.
[55] AB NR, 2009, S. 218.
[56] AB NR, 2009, S. 219.
[57] AB NR, 2009, S. 231.
[58] AB NR, 2009, S. 1546.
[59] AB NR, 2009, S. 229 (Steiert); AB NR, 2009, S. 1552 (Aubert).
[60] AB NR, 2009, S. 225; AB SR, 2009, S. 583.
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