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Grundlagen der Staatsordnung
Institutionen und Volksrechte
Gleich zwei Bundesräte traten im Berichtsjahr zurück: das Parlament wählte für Moritz Leuenberger und Hans-Rudolf Merz Simonetta Sommaruga (SP) und Johann Schneider-Ammann (FDP); Kampfkandidaturen der SVP und der Grünen blieben ohne Erfolg. – Bei der Departementsverteilung kam es zu einer grossen Rochade. – Zahlreiche Vorstösse forderten eine umfassende Regierungsreform; der Bundesrat reagierte mit einem ersten Vorschlag. – Die Bundesversammlung soll in Zukunft bei Notverordnungen besser und schneller informiert werden. – Eine Verordnung soll helfen, die Repräsentation der Landessprachen in der Verwaltung zu verbessern. – Das Parlament erteilt sich die Kompetenz, die Bundesanwaltschaft und ihre Aufsichtsbehörde selbst zu wählen. – Kontrovers diskutiert wurde das Problem der Vereinbarkeit von Volksinitiativen mit dem Völkerrecht.
Regierung
2010 traten mit Moritz Leuenberger und Hans-Rudolf Merz gleich zwei Bundesräte zurück. War der Rücktritt von Merz erwartet worden, so überraschte die Ankündigung der Demission von Leuenberger am 9. Juli auf Ende des Jahres. Der Rücktritt war deshalb überraschend, weil spekuliert wurde, dass Leuenberger sein drittes Präsidialjahr 2011 noch abwarten würde. Der Magistrat begründete seinen Rücktritt mit der langen Amtsdauer – Leuenberger sass seit 1995 in der Regierung – und nicht etwa mit dem Arbeitsklima im Bundesrat. In der Presse wurden die rhetorischen Fähigkeiten, die Mediengewandtheit und Leuenbergers Einsatz für mehr Transparenz in der Politik hervorgehoben. Darüber hinaus habe er mit der Fusion der Verkehrs- und Umweltpolitik eine ökologische Klammer geschaffen, die nachhaltig bleiben werde [1].
Die SVP reagierte prompt und kündigte bereits wenige Minuten nach der Medienkonferenz ihren Angriff auf den SP-Sitz an. Caspar Baader (BL) wurde als Sprengkandidat vorgestellt. In der Presse wurde nicht nur über allfällige Nachfolgerinnen von Leuenberger gemutmasst (am häufigsten wurden Simonetta Sommaruga, Jacqueline Fehr, Anita Fetz, Eva Herzog, Hans-Jürg Fehr und Claude Janiak genannt), sondern auch darüber spekuliert, dass Hans-Rudolf Merz ebenfalls seinen baldigen Rücktritt einreichen werde, was dieser schliesslich am 6.August per Anfang Oktober auch tat. Die Bilanz der fünfjährigen Amtszeit von Merz fiel in der Presse zwiespältig aus. Auf der einen Seite wurde anerkannt, dass der Finanzminister einen gesunden und nachhaltig sanierten Haushalt hinterlasse. Auf der anderen Seite hätte sich der Bundesrat aber insbesondere auf internationalem Terrain nicht sehr überzeugend bewegt. Beim Steuerstreit mit der EU, bei der Informationspolitik rund um die UBS-Krise oder bei seinem naiven Vorgehen in der Libyen-Affäre hätte der Magistrat viel Goodwill verspielt [2].
Auch für die Nachfolge Merz begann sich das Kandidatenkarussell rasch zu drehen. Als Kronfavoriten wurden in der Presse schon früh Karin Keller-Sutter und Johann Schneider-Ammann genannt. Diesmal kündigten nicht nur die SVP sondern auch die Grünen an, den Sitz der FDP anzugreifen. Einiges an Diskussionen löste der Umstand aus, dass die Rücktrittsankündigungen nicht koordiniert worden waren. Es wurde davor gewarnt, dass zwei aufeinanderfolgende Bundesratswahlen (im September und im Dezember) die Sachpolitik für Monate überlagern würden. Nachdem sich die SP und die FDP gegenseitig die Schuld für die schlechte Koordination in die Schuhe schoben, verlegte Bundesrat Leuenberger schliesslich seinen Rücktritt vor. Dies brachte der SP einen taktischen Vorteil, weil die Ersatzwahl von Leuenberger vor jener von Merz stattfand [3].
Der vorgezogene Rücktritt Leuenbergers bedeutete, dass der Bundesrat zwei Monate ohne Vizepräsident hätte auskommen müssen. Zwischen dem Büro des Nationalrats und jenem des Ständerats herrschte Uneinigkeit, wie mit dieser drohenden Vakanz umzugehen sei. Schliesslich einigte man sich auf den Vorschlag des Ständerats, Micheline Calmy-Rey für zwei Monate zur Vizepräsidentin zu wählen [4].
Am 3. September bestimmten die Fraktionen ihre Kandidaturen. Die FDP nominierte die St. Galler Regierungsrätin Karin Keller-Sutter und den Nationalrat Johann Schneider-Ammann (BE). Die drei weiteren Nationalräte Peter Malama (BS), Ruedi Noser (ZH) und Ignazio Cassis (TI), die von den jeweiligen Kantonalsektionen portiert wurden, wurden nicht berücksichtigt. Auch die SP nominierte zwei aus vier Kandidatinnen: Ständerätin Simonetta Sommaruga (BE) und Nationalrätin Jacqueline Fehr (ZH) erzielten mehr Fraktionsstimmen als Nationalrätin Hildegard Fässler (SG) und die baselstädtische Finanzdirektorin Eva Herzog. Die SVP nominierte – nachdem sowohl die Nationalräte Caspar Baader (BL), Peter Spuhler (TG) und Ulrich Giezendanner (AG) abgesagt hatten – Nationalrat Jean-François Rime (FR) und die Grünen traten mit Nationalrätin Birgit Wyss (SO) als Sprengkandidatin an. Auch die CVP meldete ihren Anspruch auf einen zweiten Bundesratssitz an, wollte aber die Wahlen 2011 abwarten [5].
Die Vereinigte Bundesversammlung bestimmte die Nachfolge der beiden Magistraten am 22. September. Zuerst wurde die Ersatzwahl von Moritz Leuenberger vorgenommen. Die Zweiernomination der SP wurde von der CVP, der FDP, der EVP, der GLP und den Grünen unterstützt. Die BDP unterstützte die Nomination Sommaruga und die SVP trat mit dem Sprengkandidaten Jean-François Rime an. Im ersten Wahlgang lag Sommaruga mit 86 Stimmen vor Rime mit 80 und Fehr mit 61 Stimmen. Zehn Stimmen entfielen auf Hildegard Fässler, die allerdings bereits in der internen SP-Ausmarchung gescheitert war. Im zweiten Wahlgang fielen diese zehn Stimmen Sommaruga zu. Auch im dritten Wahlgang veränderte sich nichts an der Reihenfolge der Kandidaten (Sommaruga mit 98 Stimmen vor Rime mit 77 Stimmen), so dass Fehr mit 70 Stimmen ausschied. Im vierten Wahlgang wurde schliesslich Simonetta Sommaruga mit 159 von 240 gültigen Stimmen zur neuen Bundesrätin erkoren.
Die Nominationen der FDP wurden von der CVP, der EVP und der GLP unterstützt. Die SVP trat noch einmal mit ihrem Sprengkandidaten Jean-François Rime an und auch die Grünen traten mit ihrer Sprengkandidatin an. Die SP gab bekannt, zu Beginn des Wahlvorganges die grüne Kandidatin zu unterstützen. Da sie aber kaum realistische Chancen für einen grünen Bundesratssitz sehe, werde sie anschliessend einen der beiden FDP-Kandidaten wählen. Im ersten Wahlgang lag Rime mit 72 Stimmen an der Spitze, gefolgt von Wyss mit 57 Stimmen. Auf die FDP-Kandidaten Schneider-Ammann und Keller-Sutter entfielen 52 bzw. 44 Stimmen. Zwölf Stimmen erhielt Ignazio Cassis, der sich mit dem Hinweis von der Wahl zurückzog, dass die italienischsprachige Schweiz seit 1999 nicht mehr in der Regierung vertreten sei. Im zweiten Wahlgang machte Schneider-Ammann Boden gut und erhielt 75 Stimmen, gefolgt von Rime mit 72, Keller-Sutter mit 55 und Wyss mit 40 Stimmen. An dieser Reihenfolge änderte sich auch im dritten Wahlgang nichts, so dass Wyss aus dem Rennen fiel. Ihre Stimmen verteilten sich anschliessend auf Schneider-Ammann (84 Stimmen) und Keller-Sutter (74 Stimmen), die aber knapp weniger Stimmen erhielt als Rime (76). Im fünften Wahlgang obsiegte schliesslich Johann Schneider-Ammann mit 144 von 237 gültigen Stimmen. Die Neuwahlen bescherten der Schweiz zum ersten Mal eine Frauenmehrheit in der Landesregierung. Darüber hinaus wurden zum ersten Mal gleichzeitig zwei Regierungsmitglieder aus dem gleichen Kanton (Bern) gewählt. Das Parlament machte damit deutlich, dass die regionale Herkunft derzeit kein Wahlkriterium ist [6].
Wohl auch aufgrund ihres breit kritisierten Vorgehens in der Libyen-Affäre wurde Micheline Calmy-Rey im Anschluss an die Bundesratsersatzwahlen mit lediglich 126 von 193 gültigen Stimmen für die ausstehenden zwei Monate zur Vizepräsidentin gewählt. Ganze 32 Stimmzettel wurden leer eingelegt und einige Stimmen gingen an andere Regierungsmitglieder (13 sogar an die neu gewählte Simonetta Sommaruga). Auch die Wahl zur Bundespräsidentin im Dezember widerspiegelte den Missmut, den das Parlament gegen die Genfer Magistratin hegte. Kurz zuvor waren der Aussenministerin im GPK-Bericht über die Libyen-Affäre gravierende Unterlassungen und Kompetenzüberschreitungen vorgeworfen worden. Mit lediglich 106 Stimmen, dem schlechtesten Resultat seit 1919, verpasste die Bundesversammlung der Magistratin einen eigentlichen Denkzettel. Mehr Sukkurs erhielt Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, die mit 146 Stimmen turnusgemäss zur Vizepräsidentin gewählt wurde [7].
Viel zu reden gab die Departementsverteilung, die erstmals seit 1960 mit einer sogenannten grossen Rochade und vier neuen Departementsvorstehern endete. Die Presse mutmasste, dass die Verteilung nicht sehr konsensual vonstattengegangen war. Es wäre nur teilweise nach dem Anciennitätsprinzip vorgegangen worden: Bundesrätin Calmy-Rey wollte nicht wechseln; Doris Leuthard wünschte einen Wechsel ins Uvek und Eveline Widmer-Schlumpf wollte das Finanzdepartement übernehmen. Beide Wünsche wurden gewährt. Da weder Didier Burkhalter noch Ueli Maurer wechseln wollten, blieben das Justiz- und Polizeidepartement und das Volkswirtschaftsdepartement übrig. Obwohl Simonetta Sommaruga laut ungeschriebenem Anciennitätsprinzip zuerst ihre Wünsche hätte äussern dürfen, wurde schliesslich Johann Schneider-Ammann das Volkswirtschaftsdepartement übergeben, da die bürgerliche Regierungsmehrheit dieses Departement nicht der ehemaligen Konsumentenschützerin hätte überlassen wollen. Obwohl sie als Nichtjuristin eher nicht in das JPD passen würde, hätte die neu gewählte Magistratin dieses nun übernehmen müssen. Die SP – allen Voran ihr Präsident Christian Levrat (FR) – reagierte sehr verärgert auf die Verteilung und warf den anderen Parteien einen Coup und eine Strafaktion gegen Sommaruga vor. Auch die SVP und die Grünen äusserten Unmut über die Departementswechsel. Ein Jahr vor den nationalen Wahlen Wechsel vorzunehmen, sei eine Zwängerei und demokratisch fragwürdig. Nur die FDP, die CVP und die BDP zeigten sich zufrieden mit der neuen Verteilung [8].
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Im Januar hat die SVP die Unterschriftensammlung für ihre Initiative für eine Volkswahl des Bundesrates lanciert. Die Sammelfrist dauert bis zum 26. Juli 2011. Die Initiative will Bundesratswahlen nach dem Majorzprinzip in einem Einerwahlkreis abhalten. Dabei wären mindestens zwei Sitze für Mitglieder reserviert, die aus einem nicht-deutschsprachigen Teil der Schweiz stammen [9].
Die Idee der öffentlichen Stimmabgabe der Parlamentarier bei Bundesratswahlen, wie sie in einer parlamentarischen Initiative Hodgers (gp, GE) formuliert wurde, stiess im Nationalrat auf überraschend viel Unterstützung. Zwar folgte die Mehrzahl der Nationalräte in ihrer Ablehnung dem Vorschlag der Staatspolitischen Kommission. Das Argument der Transparenz und die Idee, dass Gewählte den Wählenden Rechenschaft ablegen sollen, verfing aber immerhin bei 70 von 155 Abstimmenden [10].
Auch die beiden parlamentarischen Initiativen – von Hugues (fdp, GE) sowie der grünen Fraktion - wurden von der grossen Kammer auf Antrag der Staatspolitischen Kommission (SPK) abgelehnt. Beide Vorstösse hatten eine Listenwahl des Bundesrates gefordert, um das Einzelkämpfertum mit einer teamfähigen Regierung zu ersetzen. Eine Listenwahl hätte bedingt, dass sich die Parteien mit Anspruch auf Regierungsbeteiligung, auf der Basis eines gemeinsamen Programms hätten zusammenschliessen müssen. Die SPK hatte geltend gemacht, dass eine solche Änderung das gesamte politische System der Schweiz verändern würde. Die Ratsmehrheit (121:48 Stimmen) folgte diesem Argument und lehnte beide Vorlagen ab [11].
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Verschiedene Ereignisse nährten die bereits seit Jahren diskutierte Idee einer Regierungsreform. In den GPK-Berichten zur UBS- und zur Libyen-Krise sowie zur politischen Steuerung des Bundesrats wurde harsche Kritik an der Regierung geübt. Bedeutende Führungsdefizite, unzureichender Informationsaustausch und mangelndes gegenseitiges Vertrauen seien mit Gründe dafür, dass die Krisensituationen überhaupt eingetreten seien. Insbesondere Bundesrat Merz hätte viel zu spät informiert und reagiert. Nicht nur der Eindruck der Führungsschwäche in Krisensituationen sondern auch der Konkordanz- und Kollegialitätsverlust, der sich etwa im Streit um die Departementsverteilung oder in der mangelnden Rücktrittskoordination zwischen Merz und Leuenberger manifestierte, waren Öl ins Feuer der Diskussion um Reformen der Exekutive. Zusätzlichen Zunder lieferte auch die von der SVP lancierte oben erwähnte Initiative zur Volkswahl des Bundesrates [12].
Auf diese Ereignisse wurde mit zahlreichen Ideen und Vorstössen für eine Regierungsreform reagiert. Die Vorschläge – Amtszeiten, Anzahl Regierungsmitglieder, Regierungszusammensetzung, Umgestaltung der Departemente – waren allerdings allesamt nicht neu und weiterhin politisch umstritten.
Verschiedene Vorstösse zielten auf eine Reform der Amtszeit ab. Eine Motion Cramer (gp, GE) sah ein Verbot von Bundesratsrücktritten während der Legislatur vor. Die Motion, die noch im Frühling vom Ständerat angenommen worden war, hatte mit den unkoordinierten Rücktritten der Bundesräte Leuenberger und Merz Rückenwind erhalten. Trotzdem hatte der Vorstoss im Nationalrat keine Chance. Gleich zwei Anliegen verfolgten die Amtszeitbeschränkung für Bundesräte auf acht Jahre. Aber weder die parlamentarische Initiative Wasserfallen (fdp, BE) noch die parlamentarische Initiative Moret (fdp, VD) fanden in der grossen Kammer Gehör. Die Nationalräte folgten ihrer Kommission, welche keinen Handlungsbedarf sah, da die mittlere Amtsdauer seit dem 2. Weltkrieg bereits bei etwa acht Jahren liege. Am meisten Sukkurs erhielt die Idee einer Verlängerung der Amtszeit des Bundespräsidiums. Bundesrat Leuenberger, die Grünen, die CVP und die FDP äusserten sich grundsätzlich positiv zur Idee einer Amtszeitverlängerung für das Bundespräsidium, obschon eine Motion Hodgers (gp, GE), die eine Ausdehnung der Bundespräsidentschaft auf vier Jahre vorsah, im Nationalrat in der Sommersession diskussionslos abgelehnt worden war [13].
Auch über die angebrachte Anzahl Regierungssitze wurde diskutiert. Minderheiten forderten eine Vergrösserung des Gremiums. Die Staatspolitische Kommission wandte sich allerdings gegen eine Standesinitiative aus dem Kanton Tessin, die neun statt sieben Bundesräte gefordert hatte. Auch die Grünen schlugen eine Erhöhung der Anzahl auf neun vor. Die CVP sprach sich hingegen für eine Verkleinerung des Regierungskollegiums auf fünf Mitglieder aus, die sich primär strategischen Fragen zu widmen hätten. Die Departementsleitung würde dabei von Departementsvorstehern übernommen, die dem Bundesrat unterstellt wären [14].
Die Idee einer adäquaten Vertretung von Minderheiten fand sich in Forderungen nach einer spezifischen Regierungszusammensetzung wieder. Im Vorfeld der Bundesratsersatzwahlen war über den Frauenanteil und insbesondere über die Tessiner und Westschweizer Vertretung debattiert worden. Weder die parlamentarische Initiative Rennwald (sp, JU), die eine verbindliche Frauen- und Sprachgruppenvertretung gefordert hatte noch eine parlamentarische Initiative Zisyadis (pda, VD), die auf eine Mindestanzahl Bundesratsmitglieder aus der lateinischen Schweiz zielte, hatten im Nationalrat eine Chance. Jegliche Art von Quoten wurden in der grossen Kammer abgelehnt [15].
Die Idee eines Bildungsdepartements erhielt neue Nahrung durch 16 Professoren, die den Bundesrat aufforderten, ein Departement zu schaffen, das alleine für Bildung, Forschung, Innovation und Kultur zuständig sein soll [16].
Im Rahmen ihrer Berichte zur Finanzmarktkrise und zu den Cross-Border-Geschäften der UBS in den USA regte die GPK NR auch zwei Motionen an, die den Bundesrat als Kollegium betreffen. Die von der grossen Kammer angenommenen Motionen fordern den Bundesrat dazu auf, in der Regierungsreform einen Ausschuss aus drei Bundesräten für wichtige Geschäfte vorzusehen. Dies solle zu besseren Entscheidgrundlagen führen aber weder das Kollegial- noch das Departementalprinzip behindern [17].
Der Bundesrat selber reagierte sowohl auf die kritischen Berichte als auch auf die verschiedenen Reformvorschläge verhalten. Im Mai präsentierte er erste Eckpunkte für eine Minireform, die er im Oktober konkretisierte: Die Regierung schlägt eine zweijährige Amtszeit für ein nicht direkt wiederwählbares Präsidium vor. Damit soll die Wahrnehmung von Repräsentations- und Leitungsaufgaben erleichtert und die internationale Handlungsfähigkeit verbessert werden. Die Regierungsmitglieder sollen zudem durch vier bis zehn Staatssekretäre entlastet werden, die Vertretungsaufgaben im Parlament und im Ausland wahrnehmen sollen und mit entsprechenden Kompetenzen ausgerüstet wären. Die Regierung ist jedoch gegen eine Erhöhung der Mitgliederzahl. Gegenstand von Bundesratssitzungen sollen zudem nicht mehr Routinegeschäfte, sondern strategische Führungsfragen sein. Schliesslich soll jedes Regierungsmitglied eine Stellvertretung haben, die genügend informiert dazu fähig wäre, notfalls die Departementsführung zu übernehmen. Darüber hinaus werden Massnahmen vorgeschlagen, die das Kollegialprinzip stärken sollen. Ein Bundesrat müsste der Gesamtregierung nicht nur regelmässig Rechenschaft ablegen, sondern könnte auch zur Herausgabe von Informationen verpflichtet werden und wichtige Geschäfte sollen in Dreierausschüssen vorberaten werden. Nicht Gegenstand der Vorschläge war eine Neuordnung der Departemente. Ein Zwischenbericht dazu soll Anfang 2011 und spätestens für die neue Legislaturplanung vorliegen. Die Parteien bewerteten die Vorschläge unterschiedlich. Während die SVP die Verlängerung der Amtsdauer generell kritisierte, waren der CVP zwei Jahre zu wenig. Die SP und die FDP würdigten die Vorschläge als grundsätzlich gangbaren Weg.
Auf die Kritik am Führungsverhalten, am unzureichenden Informationsaustausch und am Mangel an Kollegialität reagierte der Bundesrat ebenfalls erst im Oktober. Doris Leuthard räumte ein, dass in der UBS-Krise das Kollegium vom zuständigen Bundesrat früher hätte informiert werden sollen, stellte aber in Abrede, dass ein gegenseitiges Misstrauen den Austausch in der Regierung erschwere. Der parlamentarische Betrieb und die direkte Demokratie liessen mehrjährige Regierungsprogramme nicht zu und politische Planung müsse eine zentrale Aufgabe der Exekutive bleiben. Mit den vorgeschlagenen Massnahmen solle die Früherkennung von Krisen gewährleistet und die kollektive Führungsverantwortung besser wahrgenommen werden. Neben einem Beschlussprotokoll soll neu auch die Diskussion zu einem Geschäft zusammengefasst werden. Auf ein Wortprotokoll soll aber verzichtet werden, da sonst der freie Austausch behindert würde. Darüber hinaus sollen die Reisetätigkeit und die Kontakte der Regierungsmitglieder mit dem Ausland besser koordiniert werden [18].
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Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats reichte 2009 eine parlamentarische Initiative ein, die eine bessere und schnellere Information des Parlaments bei Notverordnungen verlangt. So soll die Geltungsdauer für dringliche Verordnungen zur Wahrung der Landesinteressen im Ausland befristet werden. Für Verfügungen zur Wahrung der Interessen der Schweiz sowie zur Wahrung der inneren und äusseren Sicherheit müsste das zuständige parlamentarische Organ konsultiert und informiert werden. Dringliche Finanzbeschlüsse würden die Zustimmung der Finanzdelegation bedingen und bei Bedarf in einer ausserordentlichen Session verhandelt werden können. Die SPK reagierte mit diesem Vorstoss auf den Bericht der Geschäftsprüfungskommission zum Fall Tinner sowie auf die Swissair- und die UBS-Krisen. In allen drei Fällen wurde der Bundesrat kritisiert, das Parlament umgangen zu haben. In der Beratung schloss sich der Nationalrat einem Minderheitsantrag Fluri (fdp, SO) an, der zusätzlich vorsieht, dass Notverordnungen zur Wahrung der inneren und äusseren Sicherheit nur in Kraft bleiben, wenn der Bundesrat dem Parlament innert sechs Monaten einen Gesetzesentwurf unterbreitet oder eine Parlamentsverordnung gefasst wird. Die Kommissionsmehrheit hatte lediglich einen Gesetzesentwurf vorgesehen und der Bundesrat hatte eine Frist von einem Jahr für einen Gesetzesentwurf beantragt. Der Ständerat folgte zuerst dem Antrag des Bundesrats, schwenkte aber im zweiten Durchgang auf die Linie des Nationalrats ein. Differenzen zwischen den Räten gab es zudem in Bezug auf die Konsultationspflicht. Der Nationalrat forderte, dass der Bundesrat spätestens 48 Stunden vor dem Erlass notrechtlicher Verfügungen das zuständige parlamentarische Organ zu konsultieren hätte. Der Ständerat begnügte sich mit der vom Bundesrat präferierten Informationspflicht spätestens 24 Stunden nach dem Beschluss. Der Nationalrat schloss sich in der zweiten Beratung dem Ständerat an. Nicht umstritten war die Forderung, dringliche Ausgaben der Zustimmung der Finanzdelegation zu unterstellen. Beschlossen wurde zudem, dass ein Viertel der Mitglieder eines Rats innerhalb einer Woche - statt wie vom Bundesrat vorgesehen von fünf Wochen - eine ausserordentliche Session zu dringlichen Ausgabebeschlüssen über 500 Mio Franken beantragen kann. Keine Chance hatte ein Antrag einer links-grünen Minderheit im Nationalrat, solche Beschlüsse immer von der Zustimmung der Bundesversammlung abhängig zu machen. In der Schlussabstimmung wurde das Gesetz schliesslich von beiden Kammern einstimmig bzw. mit einer Gegenstimme angenommen [19].
Noch nicht endgültig vom Tisch ist die Idee eines Parlamentsvetos gegen Verordnungen des Bundesrates. Der Nationalrat gab einer parlamentarischen Initiative Müller (svp, SG) Folge, die einer 2008 vom Nationalrat überwiesenen, aber vom Ständerat 2009 abgelehnten parlamentarische Initiative der SVP inhaltlich sehr ähnlich ist. Allerdings nimmt sie die Kritik des Ständerats an der ersten Initiative auf, indem sie das Veto von der übereinstimmenden Ablehnung beider Räte abhängig macht [20].
Für Erheiterung nicht nur im Nationalrat sondern in der gesamten Bevölkerung sorgte eine Antwort von Bundesrat Merz auf eine Frage Grin (svp, VD) zum Import von gewürztem Fleisch. Der Bundesrat erlitt einen Lachanfall beim Lesen der arg mit Beamtendeutsch gespickten Botschaft, der nachher sogar in der Werbung für „Bündnerfleisch“ verwendet wurde [21].
Im Berichtsjahr hat der Bundesrat 55 Sitzungen abgehalten (40 ordentliche, 9 ausserordentliche und 6 Klausuren), 2482 Geschäfte behandelt und 97 Botschaften ans Parlament überwiesen [22].
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Verwaltung
Eine Studie, die im Rahmen des Nationalen Forschungsprogrammes „Sprachenvielfalt und Sprachenkompetenz in der Schweiz“ erstellt wurde, zeigte auf, dass die deutsche Sprache in der Bundesverwaltung überproportional häufig verwendet, Italienisch als Amtssprache hingegen praktisch vernachlässigt werde [23].
Der Bundesrat verabschiedete Anfang Juni eine Verordnung, in der Sollwerte für die angemessene Vertretung der Landessprachen festgelegt werden. Zwar seien die Sprachregionen in der gesamten Verwaltung proportional vertreten, dies gelte aber nicht für Kaderpositionen, in denen Deutschschweizer 80% des Stellentotals halten. Die Verordnung, die am 1. Juli in Kraft trat, setzt das Sprachengesetz um. Es handle sich hier aber nicht um gesetzliche Quoten und es würden auch keine Fristen gesetzt, innerhalb derer die Sollwerte erreicht werden müssten, betonte Bundesrat Burkhalter. Eine Aufstockung der Mittel für Sprachförderung, mehr Übersetzerstellen, die Gleichbehandlung der italienischen Sprache bei Publikationen und die Forderung, dass Kader über aktive Kenntnisse einer zweiten und passiv einer dritten Landessprache verfügen müssen, sind die wichtigsten Mittel, mit denen die Ziele erreicht werden sollen [24].
Um dem Anliegen der proportionalen Vertretung der Sprachregionen in der Bundesverwaltung Nachdruck zu verleihen, nahmen National- und Ständerat eine Motion de Buman (cvp, FR) an, welche die Dreisprachigkeit von Kadermitgliedern der Bundesverwaltung fordert. Die Motion verlangt, dass Kadermitglieder neben ihrer Muttersprache eine zweite Amtssprache beherrschen und eine dritte mindestens verstehen. Bei Anstellungen soll die Dreisprachigkeit zur Bedingung gemacht werden. Beide Kammern nahmen darüber hinaus eine Motion Lombardi (cvp, TI) an, die eine Ombudsperson verlangt, welche für die Förderung der italienischen Sprache und eine adäquate Vertretung italienischsprachiger Beamter in der Verwaltung zuständig sein soll. Der Bundesrat unterstützte die Motion und erweiterte sie dahingehend, dass nicht nur die italienische, sondern auch die französische Sprache darunter fallen solle. Auch die Anregung von Ständerat Maissen (cvp, GR), die rätoromanische Sprache aufzunehmen, wurde entgegengenommen. Per 1. Juli 2010 wurde bereits ein Ombudsmann eingestellt, dessen Aufgaben aber noch präzisiert werden müssen [25].
Nachdem der Bundesrat in einem Anhang zur Staatsrechnung die Gesamtkosten für Öffentlichkeitsarbeit beziffert hatte (76.4 Mio. im Jahr 2009), reichte die FDP ein Postulat ein, das eine periodische Berichterstattung der Landesregierung zur Vergabe von PR-Mandaten fordert. Die FDP-Fraktion monierte, dass hier kaum Transparenz herrsche. Im Berichtsjahr wurde der Vorstoss noch nicht behandelt [26].
Die Räte nahmen vom Bericht zur Führung mit Leistungsauftrag und Globalbudget (Flag) Kenntnis. In beiden Kammern wurde der Bericht sehr wohlwollend aufgenommen. Im Nationalrat wurde allerdings auch angemahnt, bei der Weiterentwicklung darauf zu achten, dass die Einflussmöglichkeiten des Parlaments bestehen bleiben [27].
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Mit der 2008 in die Vernehmlassung geschickten Revision des Bundespersonalgesetzes sollte eine Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse der Bundesangestellten anvisiert werden. Aufgrund der Kritik der Personalverbände insbesondere am Abbau des Kündigungsschutzes und aufgrund der Empfehlung der GPK des Nationalrats vom Oktober 2009, beschloss der Bundesrat, die Revision auf Eis zu legen. Zuerst sollte die Personalstrategie 2011-2015 ausgearbeitet werden. Diese legte die Regierung im Dezember des Berichtsjahrs vor. Mit klaren Pflichtenheften, Leistungslöhnen und Massnahmen zur Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben soll das Bundespersonal leistungsfähiger und am Arbeitsmarkt optimaler positioniert werden [28].
Der Bundesrat nahm den alljährlichen Personalpolitik-Bericht zur Kenntnis. Zufrieden zeigte er sich mit dem Anteil an Lehrlingsstellen am Total der Anstellungsverhältnisse. Das Soll nicht ganz erreicht hat der Bund allerdings beim Frauenanteil. Zwar liegt die Frauenquote bei 30 Prozent, allerdings sind Frauen in Kaderpositionen nach wie vor massiv untervertreten. Auch die Vertretung der Landessprachen sei noch nicht adäquat (vgl. oben) [29].
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Parlament
Wie schon im Vorjahr, zeigte sich die grosse Kammer grosszügig in eigener Sache. Der Nationalrat nahm im Berichtsjahr eine parlamentarische Initiative seines Büros an, welche die Entschädigung von Ratsmitgliedern mit Wohnsitz im Ausland im Hinblick auf mögliche Wahlerfolge von Auslandschweizern bei den Wahlen 2011 regeln will, gab jedoch einer Initiative Wobmann (svp, SO) keine Folge, die eine Einzelbewilligung von Spesen für Ratsmitglieder gefordert hätte, wenn diese ein Total von 40 000 Franken überschritten hätten [30].
Der Nationalrat folgte in der Herbstsession dem Beispiel des Ständerats und löste – in Folge einer parlamentarischen Initiative Rutschmann (svp, ZH) – seine Kommission für öffentliche Bauten auf. Die kleine Kammer hatte diesen Schritt bereits 2008 vollzogen [31].
In der Sommersession überwies der Ständerat ein Postulat Berset (sp, FR) mit dem der sozialdemokratische Parlamentarier eine Übersetzung der Ständeratsdebatten im Internet in drei Landessprachen anregte, wie dies bei Nationalratsdebatten bereits der Fall ist. Es wurde darauf hingewiesen, dass das Internet für die Bevölkerung im In- und Ausland eine wichtige Quelle für die Verfolgung politischer Geschäfte darstellt [32].
Dass sich auch das Parlament von sportlichen Grossereignissen ablenken lässt, zeigte sich während des Fussball-Weltmeisterschaftsspiels Schweiz – Spanien, das in die Sommersession fiel. Ein Ordnungsantrag Bohrer (svp, SO), die Sitzung während des Spiels zu verschieben, hatte am Morgen des Spiels im Rat keine Chance. Am Nachmittag unterbrach dann aber die Ratspräsidentin Bruderer (sp, AG) höchsteigens die Sitzung zum Bundesgesetz über die Krankenversicherung, damit der Rat die letzten Minuten des Spiels mitverfolgen konnte [33].
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Das Büro des Nationalrats arbeitete die Motion Hochreutener (cvp, BE), die eine raschere Behandlung von bekämpften Motionen und Postulaten verlangte, in eine parlamentarische Initiative um, die der Nationalrat guthiess. Neu werden bekämpfte Vorstösse nicht mehr auf unbestimmte Zeit verschoben, sondern am letzten Tag der folgenden Session ohne Recht auf Wortmeldung in schriftlichem Verfahren behandelt. Mit dem vereinfachten Prozedere wird zukünftig vermieden, dass im Extremfall ein Ratsmitglied die rasche Annahme eines mehrheitsfähigen Vorstosses blockieren kann [34].
Der immer grösser werdenden Zahl an Vorstössen und dem entsprechenden Pendenzenberg will die FDP-Fraktion mit einer parlamentarischen Initiative begegnen. Der Bundesrat soll die Kosten, die für die Beantwortung eines Vorstosses entstanden sind, in seiner Antwort standardmässig ausweisen. Damit sollten nicht nur die Kostentransparenz erhöht, sondern auch die Parlamentarier zu mehr Zurückhaltung angeregt werden. Der Nationalrat gab dem Vorstoss Folge [35].
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Die Regelung des Zugangs von Lobbyisten ins Bundeshaus und dabei insbesondere die Forderung nach Offenlegung der Interessenbindungen zur Schaffung von Transparenz beschäftigte die Räte auch in diesem Berichtsjahr. Eine parlamentarische Initiative Freysinger (svp, VS), die eine Offenlegung der jährlichen Einkünfte verlangte, die mit Vorstands- und Verwaltungsratsmandaten erzielt werden, war 2009 erst im Ständerat gescheitert. Eine weitere parlamentarische Initiative des Walliser SVP-Politikers forderte eine angemessene Vertretung der Interessengruppen in den Kommissionen, um die Konzentration spezifischer Interessen in einzelnen Arbeitsgruppen zu verhindern. Der Vorstoss war in der vorberatenden Staatspolitischen Kommission umstritten. Im Nationalrat wurde ihm dann aber mit 99 zu 74 Stimmen keine Folge gegeben. Die parlamentarische Initiative Graf-Litscher (sp, TG), die den Zugang von Lobbyisten zum Bundeshaus gesetzlich regeln wollte, scheiterte am Veto der Staatspolitischen Kommission des Ständerates. In der Schwesterkommission im Nationalrat war sie noch unterstützt worden – allerdings nur dank des präsidialen Stichentscheids. Damit stand zu diesem Thema im Berichtsjahr noch die Motion Reimann (svp, SG) aus, die ebenfalls mehr Transparenz verlangt, von der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates jedoch bereits zur Ablehnung empfohlen worden war [36].
Der Nationalrat regelte im Berichtsjahr das Absenzenwesen neu. Bisher galt für die Veröffentlichung der Namensabstimmungen als „entschuldigt“, wer aufgrund eines Mandats für eine ständige parlamentarische Delegation abwesend war. Anderweitig fehlende Parlamentarier wurden unter der Rubrik „nicht teilgenommen“ aufgeführt. Die Parlamentarische Initiative Moser (glp, ZH) forderte, auch Mutterschaft als Entschuldigungsgrund zu akzeptieren. Die Staatspolitische Kommission schlug vor, alle rechtzeitig beim Ratssekretariat eingetroffenen Abmeldungen als Entschuldig zu akzeptieren. Dies ging dem Nationalrat allerdings zu weit und er nahm einen Minderheitsantrag an, der einen abschliessenden Katalog forderte. Neu soll als entschuldigt gelten, wer sich aufgrund eines Mandats in einer ständigen Delegation, wegen Unfall, Krankheit oder Mutterschaft abmeldet [37].
Der SP-Nationalrat Ricardo Lumengo (BE) wurde im November wegen Wahlfälschung angeklagt. Bei den Berner Grossratswahlen von 2006 soll er 44 Stimmzettel eigenhändig ausgefüllt haben. Lumengo erklärte, dass er lediglich einigen Leuten beim Ausfüllen geholfen habe und diese dann den entsprechenden Zettel eingeworfen hätten. Der Verdacht, dass Lumengo bei den Nationalratswahlen ebenfalls Wahlfälschung betrieben hatte, erhärtete sich hingegen nicht. Obwohl Lumengo Berufung einlegte, forderte ihn seine Partei zum Rücktritt aus dem Nationalrat auf. Lumengo trat in der Folge aus Partei und Fraktion aus, ohne sein Nationalratsmandat niederzulegen [38].
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Gerichte
Der Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts, die Herausgabe der Kundendossiers an die USA im Fall UBS sei rechtswidrig gewesen, warf noch einmal hohe Wellen. Als stossend wurde empfunden, dass das Bundesverwaltungsgericht als erstes mit dem Fall befasstes Gremium im Amtshilfeentscheid im Fall UBS Letztentscheidungsbefugnis und das Parlament so zu Gesetzesanpassungen gezwungen hatte. Eine Motion Janiak (sp, BL) wollte sich diesem Problem annehmen. Der Vorstoss sah vor, dass in wichtigen Fällen das Bundesgericht auch im Bereich des öffentlichen Rechts als Zweitinstanz anrufbar sein solle. Unterstützt vom Bundesrat, nahm der Ständerat die Motion an. Auf Antrag seiner Rechtskommission lehnte der Nationalrat den Vorstoss jedoch ab und zwar mit der Begründung, dass zuerst die Evaluation des Bundesgerichtsgesetzes abgewartet werden soll. Zudem wurde befürchtet, dass das bereits stark überlastete Bundesgericht durch weitergezogene öffentlich-rechtliche Fälle noch stärker in Beschlag genommen würde [39].
Ende Oktober begann der Bau des Bundesstrafgerichts in Bellinzona. Es soll dort seinen definitiven Sitz erhalten und 2013 aus dem Provisorium in der Tessiner Hauptstadt umziehen. Zudem wurde im Herbst auch der Rohbau des Bundesverwaltungsgerichts in St. Gallen abgeschlossen [40].
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Sowohl National- als auch Ständerat überwiesen die parlamentarische Initiative der Rechtskommission des Nationalrats zur Besoldung der Richter des neu geschaffenen eidgenössischen Patentgerichtes. Durch die beschlossene Zulage soll eine Gleichstellung mit Richtern an anderen eidgenössischen Gerichten sowie die Grundlage für die Rekrutierung geeigneter Kandidaten geschaffen werden [41].
Der Ständerat nahm in der Sommersession des Berichtsjahrs die 2009 vom Nationalrat überwiesene Motion seiner Rechtskommission für die Regelung des anwaltlichen Berufsgeheimnisses an. Ziel ist die gleiche Reglementierung des Schutzes anwaltlicher Dokumente in allen Verfahrensgesetzen wie in der Zivil- und Strafprozessordnung [42].
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Bei der Organisation der Strafbehörden des Bundes beharrte der Ständerat auf seinem Vorschlag betreffend Aufsicht der Bundesanwaltschaft: der Bundesanwalt sei vom Parlament zu wählen. Ein ebenfalls vom Parlament zu wählendes Gremium, bestehend aus je einem Richter des Bundesgerichts und des Bundesstrafgerichts, zwei praktizierenden Anwälten und drei Fachpersonen, die weder Richter noch Anwälte sind, soll die Bundesanwaltschaft beaufsichtigen. Nachdem sich ein Minderheitsantrag im Nationalrate 2009 noch erfolgreich gegen diesen Vorschlag durchgesetzt hatte und die Aufsicht beim Bundesrat belassen wollte, übernahm die grosse Kammer den ständerätlichen Vorschlag in der zweiten Lesung knapp mit 88 zu 81 Stimmen. Auch die zweite Differenz wurde im Sinn des Ständerats ausgeräumt. Eine Minderheit im Nationalrat monierte, dass die Existenz nur einer Rechtsmittelinstanz nicht genüge. Die Mehrheit der grossen Kammer stellte sich jedoch hinter die Meinung des Ständerats, dass ein Beschwerderecht genüge und ein Berufungsrecht nicht nötig sei. Der Auftrag zur Präzisierung dieses Beschwerderechtes wurde dem Bundesrat noch im Berichtsjahr von einer Motion Janiak (sp, BL) erteilt. Der entsprechende Beschluss fiel im Ständerat einstimmig. Im Nationalrat stimmte ihm nur die SVP-Fraktion nicht zu [43].
Im Rahmen des Strafbehördenorganisationsgesetzes befand das Parlament zudem über zwei Verordnungen, die das Arbeitsverhältnis und die Besoldung des Bundesanwalts und der Stellvertreter sowie die Einzelheiten der Organisation und Aufgaben der Aufsichtsbehörde regeln sollten. Der Vorschlag der zuständigen Kommission für Rechtsfragen des Ständerats wurde praktisch diskussionslos von beiden Kammern übernommen. Für die Bundesanwaltschaft seien hinsichtlich Arbeitsverhältnis und Besoldung die gleichen Regelungen anzuwenden wie für Bundesrichter [44].
Bereits in der Herbstsession wählte die vereinigte Bundesversammlung zum ersten Mal die besagte Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft. Sechs der sieben Kandidaten waren unbestritten. Die Wahl von Hansjörg Seiler, Giorgio Bomio, Thomas Fingerhuth, Carla Wassmer, Thierry Béguin und Niklaus Oberholzer wurde von allen Fraktionen unterstützt. Die Ratslinke, unterstützt von Dick Marty (fdp, TI), wehrte sich erfolglos gegen den SVP-Kandidaten David Zollinger, der als Geschäftsleitungsmitglied einer Bank nicht in einem Gremium Einsitz nehmen solle, das auch über Banken urteilen müsse. Dieses Argument wurde jedoch von der Mehrheit der Bundesversammlung nicht geteilt und der von der grünen Fraktion vorgeschlagene Pascal Mahon hatte keine Chance gegen Zollinger [45].
Nach siebenjähriger Untersuchung schloss die Bundesanwaltschaft die Ermittlungsakte gegen den Bankier Oskar Holenweger und klagte ihn wegen Geldwäscherei an. Der Fall hatte sich zu einem eigentlichen „Politkrimi“ entwickelt, in dem der Rücktritt von Valentin Roschacher und die mutmasslich damit verbundene Abwahl von Bundesrat Blocher die Höhepunkte darstellten. Der mit diesem Fall beklagte Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust löste im Parlament Vorstösse und Interpellationen vor allem seitens der SVP aus, die sich nach dem Fall Roschacher eingehend mit der Institution Bundesanwaltschaft auseinandergesetzt hatte. Allerdings scheiterte die Motion der SVP-Fraktion, die ein Verfahren wegen Amtsgeheimnisverletzung einleiten wollte, im Nationalrat relativ deutlich [46].
Auch der Nachfolger Roschachers, Erwin Beyeler geriet mit dem Fall Holenweger in die Kritik. Darüber hinaus sorgte auch sein Vorschlag, drei Ausländer zu Staatsanwälten zu befördern, für Unmut. Doris Fiala (fdp, ZH) reichte in der Folge eine in den bürgerlichen Parteien breit abgestützte Motion ein, die verlangt, dass Kaderstellen in der Bundesanwaltschaft nur von Personen mit Schweizer Bürgerrecht besetzt werden. Noch weiter geht eine Motion Baumann (svp, TG), die verlangt, dass sämtliche Träger hoheitlicher Gewalt Schweizer sein müssen. Beide Vorstösse wurden im Berichtsjahr noch nicht behandelt. Noch im Sommer hatte das Parlament mit dem Strafbehördenorganisationsgesetz (siehe oben) bestimmt, dass der Schweizer Pass lediglich für den Bundesanwalt und seine Stellvertreter Bedingung ist. Das neue Bundesgesetz über die Organisation der Strafbehörden sieht zudem vor, dass nicht mehr der Bundesrat, sondern der Bundesanwalt selber für Beförderungen und Einstellungen zuständig ist [47].
Die Kritik am Bundesanwalt ist auch deshalb brisant, weil befürchtet wird, dass die neu verfügte Wahl des Bundesanwalts durch das Parlament, stark politisch werde. Darüber hinaus hat die Wahl auf die neue Legislatur hin zu erfolgen, also voraussichtlich in den der Wahl von National- und Ständerat vorausgehenden Wochen [48].
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Volksrechte
Im Berichtsjahr kam es zu insgesamt sieben Volksabstimmungen. Davon waren ein obligatorisches (2009: 4) und zwei fakultative Referenden (2009: 2) sowie drei Volksinitiativen (2009: 2) und ein Gegenvorschlag (2009: 0). Bei den fakultativen Referenden stimmten die Bürgerinnen und Bürger einmal gegen und einmal für den Parlamentsantrag und beim obligatorischen Referendum wurde der Antrag der Behörden gutgeheissen. Eine der drei Initiativen (Ausschaffungsinitiative) wurde angenommen. Damit steigt die Zahl der seit 1891 angenommen Volksinitiativen auf 18. Rund jedes zehnte Volksbegehren wurde also angenommen, wobei über ein Drittel der angenommenen Initiativen zwischen 2002 und 2010 abgestimmt wurde. Im Berichtsjahr folgten die Stimmberechtigten insgesamt nur in vier der sieben Abstimmungen dem Antrag von Regierung und Parlament (2009: sieben von acht).
Im Jahr 2010 wurden vier Initiativen neu eingereicht (2009: 7). Eine Initiative („Lebendiges Wasser – Renaturierungs-Initiative“) wurde zurückgezogen. Der Bestand der eingereichten aber der Stimmbürgerschaft noch nicht vorgelegten Volksinitiativen blieb 2010 gleich hoch wie 2009 (17). Der Trend verläuft derzeit in Richtung stärkere Nutzung des Initiativrechts: 2010 wurde für nicht weniger als 15 neue Begehren die Unterschriftensammlung gestartet (2009: 8). Die Initiative scheint zu den Wahlen hin zum wichtigen Instrument des Politmarketings zu werden. Von den 15 lancierten Volksbegehren stammen acht von Parteien. Im Berichtsjahr scheiterten zudem zwei Begehren im Sammelstadium (2009: 1).
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Zum Jugend- und Ausländerstimmrecht siehe oben, Teil I, 1b (Bürgerrecht und Stimmrecht).
Der Bundesrat entwarf einen direkten Gegenvorschlag zur Volksinitiative „Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk)“. Die Initiative fordert eine erhebliche Ausweitung des obligatorischen Referendums bei völkerrechtlichen Verträgen, die eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung in wichtigen Bereichen nach sich ziehen, welche die Schweiz zur Übernahme rechtsetzender Bestimmungen verpflichten, welche die Rechtssetzungszuständigkeit in wichtigen Bereichen an ausländische oder internationale Institutionen übertragen, oder welche Ausgaben von über 1 Mia Fr. oder wiederkehrende Ausgaben von mehr als 100 Mio Fr. evozieren. In seinem direkten Gegenvorschlag präzisiert der Bundesrat den Begriff „wichtiger Bereich“. Er anerkennt das Anliegen der Optimierung des direktdemokratischen Instrumentariums für die Aussenpolitik. Eine Erweiterung der Einbindung von Volk und Ständen solle jedoch lediglich bei Abkommen mit grosser Tragweite und Bedeutung ins Auge gefasst werden. Die Regierung beantragte deshalb ein obligatorisches Referendum dann anzuwenden, wenn Staatsverträge abgeschlossen werden, denen Verfassungsrang zukommt (vgl. unten Teil I, 2, principes directeurs) [49].
Verschiedene Vorstösse von links und rechts, die die Einführung neuer Volksrechte forderten, hatten in den Räten keine Chance. Eine parlamentarische Initiative Tschümperlin (sp, SZ), welche die Einführung der Gesetzesinitiative auch auf Bundesebene verlangt, wurde genauso abgelehnt wie die beiden parlamentarischen Initiativen Reimann (svp, SG), die ein ausserordentliches fakultatives Referendum und ein Ratsreferendum vorgesehen hätten. Eine qualifizierte Minderheit der Bundesversammlung hätte bei ersterem verlangen können, dass ein Beschluss zwingend dem fakultativen Referendum unterstellt wird. Mit dem Ratsreferendum wäre es einer qualifizierten Minderheit möglich gewesen, für ein fakultatives Referendum eine Volksabstimmung zu erzwingen[50].
Der Initiant der „Abzockerinitiative“, Thomas Minder, zeigte sich unzufrieden mit der überaus langen Behandlung seines Begehrens. Die Abstimmung der bereits im Februar 2008 eingereichten Initiative verzögert sich, weil sich die Räte in der Ausarbeitung des Gegenvorschlages nicht einig werden (siehe dazu unten Teil I, 4a, Allgemeine Wirtschaftspolitik). Minder sprach von „taktischer Verschleppung“ und kündigte die Lancierung einer „Turbo-Initiative“ an, mit der er verlangen will, dass die zulässige Behandlungsfrist von Initiativen auf ein Jahr beschränkt wird. Bei allen Parteien stiess Minder mit diesem Vorhaben jedoch auf Kritik [51].
Die Debatte um die Vereinbarkeit von Volksinitiativen mit internationalen Abkommen sowie dem Völker- und Menschenrecht verstummte auch im Berichtsjahr nicht. Nicht nur die Minarett-, die Ausschaffungs- und die Verwahrungsinitiative sondern auch die im Berichtsjahr angekündigte, aber wieder zurückgezogene Initiative zur Wiedereinführung der Todesstrafe waren Anlass für zahlreiche Vorschläge und Vorstösse. Der Bundesrat hatte im März 2010 in einem ersten Bericht lediglich Optionen aufgelistet, wie das Verhältnis von Völkerrecht und Volksinitiativen zu klären wäre. Gleichzeitig hatte die Regierung aber einen ausführlichen Zusatzbericht in Auftrag gegeben, der Ende des Berichtsjahrs noch nicht vorlag. In der Staatspolitischen Kommission des Ständerats wurden nicht nur diese Optionen diskutiert, sondern auch die vom Nationalrat 2009 überwiesene parlamentarische Initiative Vischer (gp, ZH), welche anregt, nicht nur jenen Initiativen die Gültigkeit absprechen zu können, die gegen zwingendes Völkerrecht verstossen, sondern auch jenen, die Grundrechtschutz verletzen. Die SPK scheint ein Vorprüfungsverfahren zu bevorzugen und steht der Ausweitung des Katalogs, der die Gründe für eine Ungültigkeitserklärung umfasst eher skeptisch gegenüber. Sie will aber den Bericht des Bundesrats abwarten. Auch Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf schaltete sich in die Diskussion ein und schlug vor, völkerrechtlich heikle Initiativen bei der Unterschriftensammlung mit einem Warnhinweis zu versehen. Eine Gruppe aus Menschenrechtsorganisationen und des Club Helvétique beschloss die Lancierung einer Initiative, die Bundesverfassung dahingehend zu ändern, dass Grundrecht verletzende Volksinitiativen für ungültig erklärt werden können. Weiter wurde vorgeschlagen, eine materielle Prüfung von Volksbegehren bereits vor der Unterschriftensammlung vorzunehmen. Die nationalrätliche staatspolitische Kommission hatte eine solche Prüfung empfohlen, wobei aber noch umstritten war, wer diese Prüfung vornehmen soll. Zur Diskussion standen richterliche Gremien oder aber das Parlament selbst [52].
Während also auf der einen Seite eine Debatte um die Vereinbarkeit von Initiativen und übergeordnetem Recht geführt wurde, strebte die SVP auf der anderen Seite gleich mit drei Vorstössen Regelungen an, mit denen sich die Vereinbarkeitsfrage gar nicht mehr stellen würde. In einer ersten parlamentarischen Initiative forderte die SVP-Fraktion, jüngeren Bundesgesetzen gegenüber älteren Staatsverträgen Vorrang einzuräumen. Bei Widersprüchen zwischen Landesrecht und Völkerrecht müsste zwingend ersteres angewendet werden. Eine zweite parlamentarische Initiative der SVP-Fraktion wollte in der Verfassung festschreiben, was ‚zwingendes Völkerrecht‘ bedeutet, aufgrund dessen eine Initiative bei widersprechender Forderung ungültig würde. Die SVP schlug einen solchen Katalog gleich selber vor, der ius cogens umfasste (Verbot des Angriffskriegs, Verbot der Folter, Verbot des Völkermords und Verbot der Sklaverei) und also wesentlich weniger weit gespannt wurde, als etwa die UNO-Menschenrechtscharta. Beide parlamentarischen Initiativen hatten im Nationalrat keine Chance. Die grosse Kammer überwies allerdings ein Postulat der SVP-Fraktion, das den Bundesrat beauftragt, einen Wechsel vom Monismus zum Dualismus zu prüfen. Bei einem Staatsvertrag soll jeweils abgeklärt werden, inwieweit dieser und die auf ihm basierende Rechtsprechung Vorrang gegenüber dem Landesrecht haben soll. Mit dem Prinzip des Dualismus wird anerkannt, dass Völkerrecht und Landesrecht unterschiedliche Rechtsordnungen darstellen. Neues Völkerrecht muss hier zuerst in Landesrecht umgewandelt bzw. in die Normenhierarchie eines Staates eingeordnet werden. Beim Monismus wird hingegen von einer Einheit der Rechtsordnung ausgegangen und internationale Normen ergänzend zum Landesrecht ohne vorgängige Umsetzung in dasselbe angewendet [53].
Der Bundesrat setzte die 2009 beschlossene Einführung des bedingten Rückzugs einer Volksinitiative auf 1. Februar 2010 in Kraft. Neu können Initianten – falls das Parlament einen indirekten Gegenvorschlag ausarbeitet – einen bedingten Rückzug ihres Anliegens aussprechen. Tritt das im Gegenvorschlag ausgearbeitete Gesetz nicht in Kraft (etwa wegen eines Referendums), so muss die ursprüngliche Initiative innert zehn Monaten trotzdem noch zur Abstimmung gelangen. Erstmals wäre der bedingte Rückzug bei der Initiative „Lebendiges Wasser (Renaturierungsinitiative)“ zur Anwendung gekommen. Allerdings wurde gegen die Gesetzesanpassung in Form des indirekten Gegenvorschlags das Referendum nicht ergriffen [54].
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Die Annahme der Minarettinitiative 2009 hat im Berichtsjahr eine Debatte über Umfragen im Vorfeld von Abstimmungen ausgelöst. Die Resultate der Umfragen, welche die GfS im Auftrag der SRG durchgeführt hatte, wichen ungewöhnlich stark vom Abstimmungsresultat ab. Dies verursachte auch in den Räten einigen Wirbel. Noch Ende 2009 reichte Mörgeli (svp, ZH) eine parlamentarische Initiative ein, die für Radio und Fernsehen ein Verbot von Meinungsumfragen zu Wahlen und Abstimmungen forderte. Die Staatspolitische Kommission NR lehnte diese Initiative mit 13 zu 9 Stimmen bei vier Enthaltungen ab, reichte aber ihrerseits eine Motion ein, mit welcher die Rahmenbedingungen für die Publikation von Meinungsumfragen vor Wahlen und Abstimmungen geregelt werden sollen. Beide Vorlagen werden von den Räten erst 2011 behandelt. Nachdem die SRG drei Studien in Auftrag gegeben hatte, welche die Diskrepanzen zwischen Umfrage- und Abstimmungsresultat insbesondere auf soziale Erwünschtheit (falsche Antworten aus Angst vor sozialer Ablehnung bei korrekter Antwort) zurückführten und aufzeigten, dass Umfragen keinen signifikanten Einfluss auf den Abstimmungsentscheid haben, glätteten sich die Wogen ein wenig. Nach einmaligem Unterbruch gab die SRG beim GfS für die Abstimmungen vom 26. September wieder Umfragen in Auftrag. Freilich hatte die Nicht-Veröffentlichung der Umfrageresultate für die Abstimmungen vom 7. März von links bis rechts für Unmut gesorgt. Die SRG hatte nämlich für diesen Urnengang nicht ganz auf Umfragen verzichtet. Die Ergebnisse der GfS-Umfragen, die ja letztlich von den Gebührenzahlern finanziert wurde, wurden jedoch nicht veröffentlicht und auch den Parteien nicht zur Verfügung gestellt. Die SRG verteidigte sich mit dem Argument, dass die Umfrage gebraucht werde, um die Probleme bei der Minarettinitiative zu untersuchen [55].
Nach dem Erfolg der SVP-Ausschaffungsinitiative und dem Misserfolg der SP-Steuerinitiative am 29. November, lancierte die SP noch einmal die Diskussion um den Einfluss von Geld auf Abstimmungskampagnen. Noch 2009 war ein Vorschlag der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats für die Gewährleistung von faireren Abstimmungskampagnen bereits an der Eintretenshürde gescheitert. Die Partei beklagte insbesondere die ungleichen Kampagnenbudgets und wies darauf hin, dass bereits die Transparenz der Ausgaben für eine ausgeglichenere Wahrnehmung der Kampagnen durch die Stimmbürgerschaft hilfreich sein würde [56].
Im Berichtsjahr setzten einige Kantone ihre Versuche bezüglich elektronischer Stimmabgabe fort: In den meisten Kantonen wurde E-Voting für Auslandschweizer angeboten (BS, FR, GE, LU, SG, SH, SO, ZH), wobei einige Kantone das Angebot auf ein paar ausgewählte Testgemeinden beschränkten. Die Kantone Genf und Neuenburg ermöglichten elektronisches Abstimmen auch ausgewählten Stimmberechtigten im Kanton. Im Kanton Genf wurde E-Voting in elf Versuchsgemeinden bewilligt. Im Kanton Neuenburg durfte elektronisch stimmen, wer sich vorgängig einschrieb, wobei für die Abstimmungen jeweils eine Maximalquote festgelegt wurde (12 000-16 000 Stimmberechtigte). Auch im Kanton Zürich wurde in zehn Gemeinden, einem Stadtkreis in Winterthur und zwei Kreisen der Stadt Zürich E-Voting bewilligt. Im Kanton Bern sollen ab 2012 alle Auslandberner in EU-Staaten und Ländern, die das Wassenaar-Abkommen unterzeichnet haben (Verpflichtung zum Stimmgeheimnis), die Möglichkeit für E-Voting erhalten. Der Kanton Bern will sich dabei auf die elektronische Plattform des Kantons Genf stützen [57].
Allerdings wurde im Berichtsjahr auch Kritik an E-Voting laut. So setzten sich etwa im Kanton Waadt einige Grossräte dafür ein, dass in ihrem Kanton jede Art von elektronischer Stimmabgabe verboten werden solle und der Kanton Zürich verbot E-Voting für gemeindeübergreifende Wahlen, da die Erwartungen nicht erfüllt worden seien. Eine erhöhte Stimmbeteiligung bei Jungen könne nicht festgestellt werden und der Aufwand und die Kosten seien hoch. Es wurde allerdings betont, dass es sich nicht um generelle Absagen handle. Auf eine Interpellation Recordon (gp, VD), die auf die Gefahren des E-Voting hinwies, antwortete der Bundesrat, dass ein behutsamer Ausbau in Etappen vorgesehen sei, der aber den technikbedingten Missbrauchsgefahren immer Rechnung tragen wolle. Momentan befinde man sich in der ersten Etappe, in welcher die elektronische Stimmabgabe für einen kleinen Teil der Stimmberechtigten möglich sei. Nächstes Ziel sei es, Auslandschweizern und Behinderten E-Voting zu ermöglichen, das erstens den langsamen postalischen Weg ersetze und zweitens behinderten Personen eine Stimmabgabe ohne Hilfe Dritter ermögliche. Neben den technischen Massnahmen achte der Bundesrat auch darauf, dass nie mehr als 10% der eidgenössischen Stimmberechtigten elektronisch abstimmen könnten und dass bei Vorlagen, die das Ständemehr verlangten, in keinem Kanton mehr als 20% der Berechtigten ihre Stimme elektronisch einreichen dürften [58].
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Weiterführende Literatur
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[1] Presse vom 10.7.10; NZZ, 10.7.10.
[2] Presse vom 7.8.10; NZZ, 7.8.10.
[3] Presse vom 9.8. und 10.8.10.
[4] Presse vom 28.bis 31.8.10.
[5] Presse vom 1. Bis 4.9.10.
[6] Presse vom 23.9.10.
[7] Presse vom 23.9. und vom 9.12.10; zur Libyen-Affäre und dem GPK-Bericht siehe unten, Teil I, 2 (relations bilatérales).
[8] Presse vom 28.9.10; NZZ, 29.9.10.
[9] BBl, 2010, S. 289. Presse vom 27.1 und vom 10.3 bis 15.3.10; Siehe SPJ 2009, S. 33.
[10] AB NR 2010; S. 537 ff.
[11] AB NR 2010; S. 2000 f.
[12] GPK-Berichte: BBl 2010, S. 3079 ff. (Die strategische politische Steuerung des Bundesrates). GPK-Bericht: Verhalten der Bundesbehörden in der diplomatischen Krise zwischen der Schweiz und Lybien (3.12.10); GPK-Bericht. Die Behörden unter dem Druck der Finanzkrise und der Herausgabe von UBS-Kundendaten an die USA (30.5.10). Presse vom 24.3. und 1. bis 10.6.10; NZZ, 22.04.10.
[13] Mo Cramer: AB SR, 2010, 591 ff.; AB NR, 2010, S. 2148 ff. Presse vom 11.6.10; Pa.Iv. Wasserfallen und Moret: AB NR, 2010, S. 532 ff.; Mo. Hodgers: AB NR, 2010, S. 1129.
[14] Presse vom 10. bis 15.3 und vom 11.5.10 (TI und GP), sowie vom 6.7.10 (CVP).
[15] Beide parlamentarische Initiativen: AB NR, 2010, S. 1238 ff. Presse vom 16.9.10; zu den Frauenquoten: NLZ, 6.2.10.
[16] NZZ, 19.4.10; siehe SPJ 2009, S. 34.
[17] AB NR, 2010, S. 2143 f.
[18] BBl, 2010, S. 7811 ff.; Presse vom 24.3, 4.5., 14.10. und 18.12.10; NZZ, 22.1. und 22.4.10.
[19] AB NR, 2010, S. 1201 ff., 1301 ff., 1929 f. und 2184; AB SR, 2010, S. 1060 ff., 1318 und 1355. BBl, 2010, S. 2803 ff.; zum Fall Tinner siehe SPJ 2009, S. 21.
[20] AB NR, 2010, S. 1806 ff. Siehe SPJ 2009, S. 34.
[21] AB NR, 2010, S. 1335 f.
[22] NZZ, 23.12.10.
[23] Lit. Kübler; NZZ 8.1.10.
[24] Presse vom 5.6.10; vgl. auch unten Teil I, 8b (Sprachen).
[25] Mo. De Buman: AB NR, 2010: 1129; AB SR, 2010, S. 809 f.; Mo. Lombardi: AB SR, 2010, S. 296 f.; AB NR, 2010, S. 1312 ff.
[26] Zum Anhang Staatsrechnung: SoS, 1.5.10; zum Postulat FDP: TA, 2.6.10.
[27] AB SR, 2010, S. 168 ff.; AB NR, 2010, S. 1304 ff.; BBl. 2009, S. 7915. Siehe SPJ, 2002, S. 37.
[28] Zur Revision: NZZ, 13.3. und BZ, 20.3.10; SPJ 2009, S. 35; zur Personalstrategie: Presse vom 11.12.10.
[29] BZ, 1.4.10.
[30] Pa. Iv. Büro Nationalrat: AB NR, 2010, 2003 f.; BBl 2010, S. 8759 ff. (Bericht Büro); Pa. Iv. Wobmann: AB NR, 2010, S. 260 ff.; siehe SPJ 2009, S. 35f.
[31] AB NR, 2010, S. 265 f., 1542 f., und 1674.
[32] AB SR, 2010, S. 706 f.
[33] AB NR, 2010, S. 1028 (Ordnungsantrag); AB NR, 2010, S. 1051 (Mitteilung der Präsidentin).
[34] AB NR, 2010, S. 2001 f., 2186; BBl, 2010, S. 8075 ff. (Bericht Büro); siehe SPJ 2009, S. 36.
[35] AB NR, 2010, S. 1630 f.
[36] Pa. Iv. Freysinger: AB NR, 2010, S. 429 ff. Pa. Iv. 09.486 (Graf-Litscher): Mo 09.3835 (Reimann); NZZ, 18.1.10; siehe SPJ 2009, S. 36.
[37] AB NR, 2010, S. 1541 ff.
[38] Presse vom Februar 2011 und vom 10.3.10 sowie vom 13. (Urteil) und 17.11.10 (Rücktritt).
[39] AB SR, 2010, S. 594; AB NR, 2010, S. 2147 ff. Zum Bundesverwaltungsgerichtsentscheid: TA, 28.1.10; WW, 28.1.10; NZZ, 1.2.10.
[40] NZZ, 22.10.10; SGT, 30.10.10.
[41] AB NR, 2010, S. 236 f. und 580; AB SR 2010, 161 f. und 364. BBl, 2010, S. 1707 ff. und 1719 ff.
[42] AB SR, 2010, S. 595; siehe SPJ 2009, S. 38.
[43] AB SR, 2010, S. 2 ff., S. 160 und S. 362; AB NR, 2010, S. 116 ff., S. 333 ff. und S. 577; BBl, 2010, S. 2031 ff.; siehe SPJ 2009, S. 38; Mo. Janiak: AB SR, 2010, S. 593; AB NR, 2010, S. 2150 f. Presse vom 21.01, 02.03 und 04.03.10, LT, 06.03.10.
[44] BBl, 2010, S. 4101 ff. (Bericht RK-SR). AB SR, 2010, S. 626 ff. und 1013 (Schlussabstimmung). AB NR, 2010, S. 1361 ff. und 1678 (Schlussabstimmung).
[45] AB NR, 2010, S. 1699 ff.; Presse vom 30.09.10.
[46] Zum Fall Holenweger und zur Anklage: Presse vom 07.05 bis 05.07.10; Politkrimi: TA, 7.5.10; Vertrauensverlust: TA, 4.5.10; Mo. SVP: AB NR, 2010, S. 106f.; als Beispiel einer Interpellation die Frage Schlüer: AB NR, 2010, S. 776.
[47] Presse vom 3.12. bis 17.12.10; Ausländische Staatsanwälte: Presse vom 3.12. bis 17.12.10; Mo. Baumann (10.4097); Mo. Fiala (10.3966).
[48] TA, 30.9.10.
[49] BBl, 2010, S. 6963 ff.; NZZ, 30.6.10; siehe auch SPJ 2009, S. 38 ff.
[50] Pa. Iv. Tschümperlin: AB NR 2010, S. 1636 ff.; Pa. Iv. Reimann: AB NR 2010, S. 395 ff.
[51] Presse vom 25.10.10.
[52] Zur Pa. Iv. Vischer vgl. AB NR, 2009, S. 290 ff. und SPJ 2009, S. 40; vgl. dazu auch eine Interpellation Schmid-Federer: AB NR, 2010, S. 1346. Zum Bericht des Bundesrates und der Position der SPK: NZZ, 19.4. und 21.4.10; zum Vorschlag Widmer-Schlumpf: Presse vom 28.4.10; zur Lancierung der Initiative: Presse vom 31.5. und 11.10.10; Bericht der SPK-NR vom 18.11.10.
[53] Pa. Iv (09.414): AB NR, 2010, S. 1227 ff.; Pa. Iv. (09.466): AB NR, 2010, S. 1545 ff.; Postulat: AB NR, 2009, S. 1805 und AB NR, 2010, S. 89.
[54] NZZ, 14.1.10; siehe SPJ 2009, S. 40f.; zur Gewässerschutzinitiative siehe unten, Teil I, 6d (Protection des eaux).
[55] Zur Debatte: TA, 19.1.10; Pa. Iv. Mörgeli: 09.524; Mo. SPK-NR: 10.3642. Studien: NZZ, 18.8.10 und Lit Milic; vgl. auch Interpellation Rickli; AB NR, 2010, S. 784.
[56] SN, 2.10.10; WOZ, 2.10.10; TA, 4.10.10; SZ, 8.10.10; vgl. SPJ 2009, S. 41 f.
[57] Für die Bewilligungen durch den Bundesrat für die jeweiligen Abstimmungen vgl. BBl, 2010, S. 113 ff., S. 4863 ff. und S. 6359 ff.
[58] VD: Exp, 15.1.10; ZH: TA, 6.12.10; Interpellation Recordon: AB NR, 2010, S. 603 ff. (10.3251).
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