Unternehmerinnen und Unternehmer, welche Beiträge an die Arbeitslosenversicherung bezahlen, sollen auch gegen Arbeitslosigkeit versichert sein (Pa.Iv. 20.406)

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Im März 2020 reichte Andri Silberschmidt (fdp, ZH) eine parlamentarische Initiative ein, mit der er Unternehmerinnen und Unternehmern in arbeitgeberähnlicher Position, die entsprechend auch ALV-Beiträge bezahlen müssen, denselben Entschädigungsanspruch bei einer Arbeitslosigkeit und Zugang zu Kurzarbeit gewähren wollte wie den übrigen Angestellten des Unternehmens. Als Alternative schlug er eine Wahlmöglichkeit der entsprechenden Personen zwischen ALV-Beiträgen und Versicherungsleistungen oder einem Verzicht auf beide vor.
Anfang November 2020 beschäftigte sich die SGK-NR mit der Problematik der ALV-Beitragspflicht für Personen in arbeitgeberähnlicher Stellung und diskutierte neben der Initiative Silberschmidt auch eine parlamentarische Initiative der SVP-Fraktion (Pa.Iv. 20.440), welche die Beitragspflicht von Selbständigen gänzlich abschaffen wollte. Mit 18 zu 7 Stimmen gab die Kommission dem Anliegen Silberschmidts Folge, nicht jedoch dem Vorschlag der SVP-Fraktion.

Nach ihrer Schwesterkommission entschied sich die SGK-SR Ende August 2021 mit 7 zu 5 Stimmen, der parlamentarischen Initiative Silberschmidt (fdp, ZH) zuzustimmen. Die SGK-NR erhält damit den Auftrag, eine Vorlage auszuarbeiten, mit der Unternehmerinnen und Unternehmer in arbeitgeberähnlicher Position – die also ebenfalls Arbeitslosenversicherungsbeiträge bezahlen – einen Entschädigungsanspruch bei Arbeitslosigkeit erhalten.

Im Januar 2023 trat die SGK-NR mit 16 zu 7 Stimmen auf den Vorentwurf zur Umsetzung der parlamentarischen Initiative Silberschmidt (fdp, ZH; Pa.Iv. 20.406) ein. Diese forderte, dass Personen in arbeitgeberähnlicher Stellung besser gegen Arbeitslosigkeit versichert werden sollen, wenn sie ALV-Beiträge bezahlen.
Sechs Monate später stimmte die SGK-NR mit 18 zu 6 Stimmen (1 Enthaltung) für ihren Vorentwurf: Dieser ermögliche – analog zum Initiativtext – Betroffenen «einfacher und rascher ALE» zu beziehen, wobei Kurzeitentschädigungen davon ausgeschlossen sein sollen. Nach einer Frist von 20 Tagen entstehe neu ein Anspruch auf ALE unter den Bedingungen, dass bereits zwei Jahre im Betrieb gearbeitet wurde und kein engeres Verhältnis zur Unternehmung, beispielsweise in Form einer Anstellung oder eines Verwaltungsratsmandats, mehr bestehe. Dabei bemängelte eine Minderheit die zu lasche Restriktion der Kriterien, während eine zweite Minderheit forderte, dass Unternehmerinnen und Unternehmer ohne Anspruch auf ALE neu keine ALV-Beiträge mehr verrichten müssen. Die Kommission entschied in der Folge, zwei Varianten in die Vernehmlassung zu geben. Die Minderheitsvariante, die von Thomas Aeschi (svp, ZG) initiiert wurde, enthielt die Befreiung der Personen in arbeitgeberähnlicher Stellung von den ALV-Beiträgen, während die Mehrheitsvariante diese beibehielt.

Von Mitte August 2023 bis Ende November 2023 lief das Vernehmlassungsverfahren. Von den 61 angeschriebenen Akteuren trafen insgesamt 58 Stellungsnahmen ein, wobei 28 der Mehrheitsvariante, 4 der Minderheitsvariante und 26 keiner der beiden Varianten zustimmten. Die grosse Mehrheit der Kantone (AG, AI, AR, BL, BE, FR, GL, GR, LU, NW, OW, SG, SO, SZ, TG, TI, UR, VD, VS, ZG, ZH) lehnte die Vorlage gänzlich ab und präferierte «die Beibehaltung des Status Quo», da die heute geltende Regelung ausreiche. Drei Kantone (JU, NE, SH) unterstützten die Mehrheitsvariante, jedoch mit Änderungsvorschlägen. Einzig der Kanton Genf stand ohne weitere Ergänzungen hinter der Mehrheitsvariante. Die Minderheitsvariante wurde von allen Kantonen abgelehnt, da sie den Versicherungsschutz mindere und «wenig praktikabel» sei. Mehr Anklang fand die Vorlage bei den Parteien: Von den insgesamt vier eingegangenen Stellungsnahmen der Parteien, unterstützten drei (FDP, Grüne, SP) die Mehrheitsvariante. Einzig die SVP lehnte die Variante der Kommissionsmehrheit ab und begrüsste die Minderheitsvariante, da diese die Diskriminierung von Unternehmerinnen und Unternehmern mindere. Bei den Dachverbänden, den weiteren interessierten Kreisen und den spontan eingereichten Stellungnahmen sprach sich der Grossteil der Vernehmlassungsteilnehmenden für die Mehrheitsvariante und gegen die Minderheitsvariante aus. Ähnlich wie bei den Kantonen lehnten ein paar Stakeholder (UNIA, VDK, VAK, SGB, Travail.Suisse) beide Varianten ab und befürworteten den Status Quo. Von den Kantonen und den Dachverbänden, welche die Mehrheitsvariante ablehnten, wurde zudem öfters gefordert, eine «vertiefte Kosten-Nutzen-Analyse» durchzuführen, sollte die Variante dennoch weiterverfolgt werden.
Aufgrund der Ergebnisse aus der Vernehmlassung nahm die Kommission zwei Änderungen am Entwurf vor: Erstens sollen Personen mit häufig wechselnden oder befristeten Arbeitsverhältnissen von der zweijährigen Frist und der Rückzahlungspflicht ausgenommen werden. Zweitens solle der Bundesrat fünf Jahre nach der Gesetzesänderung Bericht erstatten und etwaige Gesetzesanpassungen unterbreiten.
Ende Februar 2024 verabschiedete die SGK-NR mit 13 zu 12 Stimmen ihren Entwurf zuhanden des Rates.

Der Bundesrat empfahl in seiner im Februar 2024 publizierten Stellungnahme, auf den Entwurf zur parlamentarischen Initiative Silberschmidt (fdp, ZH), die Unternehmerinnen und Unternehmer besser gegen Arbeitslosigkeit versichern wollte, nicht einzutreten. Das bestehende AVIG sei «ein guter Kompromiss» zwischen dem innerbetrieblichen Status von Mitarbeitenden mit arbeitgeberähnlicher Stellung und der Minimierung des Missbrauchspotenzials, das mit dieser beruflichen Stellung einhergeht. Denn die Personengruppe, die der Urheber mit seiner Initiative besser schützen wolle, habe oft einen direkten Einfluss auf die Geschäftsführung. Eine Ausweitung der ALV könnte Unternehmerinnen und Unternehmer in der Folge zu risikofreudigeren Handlungen bewegen, da für sie neu eine finanzielle Absicherung bestehen würde. Zudem gebe es auch heute generell keinen automatischen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigungen (ALE); auch bei Personen ohne arbeitgeberähnliche Stellung sei diese immer an Bedingungen gekoppelt. Unternehmerinnen und Unternehmer hätten bereits heute Anspruch auf ALE, wenn die Personen ihre Stellung nicht mehr inne hätten und kein Missbrauchspotenzial mehr bestehe. Auch die Minderheitsvariante blieb beim Bundesrat chancenlos: Eine solche Regelung widerspreche dem Solidaritätsprinzip der Sozialversicherungen. Beide Varianten seien zudem mit einem grossen bürokratischen Aufwand und Kosten verbunden.

Der Nationalrat beugte sich in der Sommersession 2024 über den Erlassentwurf der SGK-NR zur Umsetzung der parlamentarischen Initiative von Andri Silberschmidt (fdp, ZH), die forderte, dass Personen in arbeitgeberähnlicher Stellung, die Beiträge an die ALV entrichten, auch gegen Arbeitslosigkeit versichert sein sollen. Arbeitslosenkassen zahlten heute nur Entschädigungen an Personen in arbeitgeberähnlicher Stellung aus, «wenn sie wirklich von dieser Firma losgelöst sind», so Silberschmidt. Häufig befänden sich Betroffene aber in Situationen, in denen das Verhältnis nicht auf die Schnelle aufgegeben werden könne, wodurch diese trotz jahrelanger Beiträge an die ALV keine Unterstützung erhielten. Der Initiant ging auch auf das Hauptargument des Bundesrates ein: Er verstehe die Sorge, dass es zu Betrugsfällen kommen könne, er gehe aber von der Ehrlichkeit der KMU-Wirtschaft aus. Zudem sehe der Entwurf drei Bedingungen für den entsprechenden Bezug von ALV-Leistungen vor: Die betroffene Person dürfe nicht mehr im Unternehmen tätig sein, sie dürfe kein Mitglied des Verwaltungsrats sein und sie müsse mindestens zwei Jahre im Unternehmen gearbeitet haben. Léonore Porchet (gp, VD), die französischsprachige Kommissionssprecherin, wies überdies auf die Evaluationsklausel hin, die den Bundesrat nach fünf Jahren zu einer Überprüfung der Revision verpflichtet.

Eine Kommissionsminderheit um Thomas Aeschi (svp, ZG) forderte, nicht auf den Entwurf einzutreten. Das bestehende AVIG enthalte einen guten Kompromiss zwischen der Unterstützung von Personen in arbeitgeberähnlicher Stellung und einer Reduzierung des Missbrauchspotenzials. Er verwies überdies darauf, dass Personen in arbeitgeberähnlicher Stellung bereits heute das Anrecht auf Entschädigung hätten, wenn sie ihre Stellung aufgäben. Schliesslich sei die ALV nicht dazu da, das unternehmerische Risiko zu senken. Mit seiner Minderheit vertrat er die Position der SVP-Fraktion, während sich die Vertreterinnen und Vertreter der übrigen Fraktionen allesamt für eine Annahme des Entwurfs aussprachen. Nachdem auch Bundesrat Guy Parmelin für Nichteintreten argumentierte hatte, trat der Nationalrat mit 126 zu 63 Stimmen (1 Enthaltung) auf den Entwurf ein, wobei einzig die geschlossene stimmende SVP-Fraktion dagegen votierte.

In der anschliessenden Detailberatung versuchten verschiedene Minderheiten, das Missbrauchspotenzial der neuen Regelung zu minimieren. Dazu schlug Thomas Aeschi unter anderem eine Wartefrist von 120 Tagen vor der Entstehung eines ALV-Anspruchs, eine abgeschlossene Liquidation als Voraussetzung oder einen Ausschluss von Mitgliedern der Gesellschafterversammlung einer GmbH sowie von mitarbeitenden Ehegatten von der Regelung vor. Gemäss Andri Silberschmidt und Léonore Porchet würden durch die hohen Hürden jedoch so gut wie alle Unternehmerinnen und Unternehmer von der Regel ausgeschlossen, was den Sinn der Vorlage verfehle. Der Minderheitsantrag wurde mit 125 zu 66 Stimmen abgelehnt, wobei ausser der SVP-Fraktion sämtliche Fraktionen geschlossen oder beinahe geschlossen dagegen votierten.
Eine Minderheit Gutjahr (svp, TG) stellte neben den Anspruchsvoraussetzungen für ALV die Rückerstattungspflicht ins Zentrum, welche Personen betrifft, die innert dreier Jahre nach Erhalt von ALV wieder zum alten Arbeitgeber zurückwechseln. Die SGK-NR hatte Personen mit häufig wechselnden oder befristeten Arbeitsverhältnissen von dieser Rückerstattungspflicht ausgenommen, worauf die Minderheit Gutjahr verzichten wollte. Eine Sonderregelung für diese Personen würde einen hohen bürokratischen Aufwand und eine Ungleichbehandlung bedeuten. Auch die Minderheit Gutjahr scheiterte mit 102 zu 89 Stimmen, konnte aber neben der geschlossen stimmenden SVP-Fraktion grosse Teile der Mitte-Fraktion überzeugen.
Daneben schlug auch eine Minderheit Meyer (sp, ZH) eine Ergänzung zur Missbrauchsbekämpfung vor: Sie wollte verhindern, dass durch die Gesetzesänderung zukünftig ALV-Entschädigungen und Dividenden simultan bezogen werden können. Auch sie scheiterte jedoch mit 127 zu 64 Stimmen, wobei sie einzig bei den geschlossen stimmenden Fraktionen der SP und der Grünen Stimmen holte.
Abschliessend wurde das nun bereinigte Konzept der Mehrheit einer weiteren Minderheit Aeschi gegenübergestellt, die forderte, dass sich Personen in arbeitgeberähnlicher Stellung von der «Beitragspflicht befreien» könnten, jedoch damit auch ihr Recht auf ALV-Entschädigungen verwirken würden: Der Nationalrat entschied sich mit 101 zu 90 Stimmen gegen diesen Antrag, der erneut von der geschlossen stimmenden SVP-Fraktion und der beinahe geschlossen stimmenden Mitte-Fraktion unterstützt wurde.

In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat den Entwurf der Kommission mit 121 zu 65 Stimmen (5 Enthaltungen) an, wobei die beinahe geschlossen stimmende SVP-Fraktion und vereinzelte Mitglieder der Mitte-Fraktion dagegen votierten.