In der Sondersession vom Mai 2025 begann der Nationalrat mit der ersten Runde der Bereinigung des indirekten Gegenvorschlags zur Volksinitiative «Für eine zivilstandsunabhängige Individualbesteuerung (Steuergerechtigkeits-Initiative)». Kathrin Bertschy (glp, BE) und Samuel Bendahan (sp, VD) erläuterten im Namen der Mehrheit der WAK-NR, dass die grosse Kammer primär zwei Differenzen zu bereinigen habe. Bei der ersten Differenz hatte der Ständerat den Steuertarif der künftigen Bundessteuer im Vergleich zum bundesrätlichen Entwurf progressiver ausgestaltet, um die geschätzten Einnahmeausfälle des Bundes durch die Einführung der Individualbesteuerung von CHF 870 Mio. auf CHF 380 Mio. zu reduzieren. Die nationalrätliche Kommission habe sich mit 13 zu 12 Stimmen für einen Kompromiss zwischen den Tarifen des Bundesrates und des Ständerates entschieden, wodurch sich die Einnahmeausfälle auf CHF 600 Mio. beliefen. Die Idee dieses Kompromisses bestehe darin, dass einerseits die Bundesfinanzen durch den Systemwechsel nicht zu stark strapaziert werden sollen und andererseits der Grossteil der Schweizer Bevölkerung – auch diejenigen mit höheren Einkommen – von der Steuerreform profitiere. Auch Bundesrätin Karin Keller-Sutter stellte sich hinter den von der Kommissionsmehrheit befürworteten Kompromiss. Eine Minderheit um Leo Müller (mitte, LU) forderte hingegen, sich an der Tarifausgestaltung im bundesrätlichen Entwurf zu orientieren. Eine Reduktion der Einnahmeausfälle führe unweigerlich zu Steuererhöhungen, welche durch die Progression insbesondere höhere Einkommen treffe. Auch Alleinstehende, unverheiratete Personen mit Kindern und vor allem Mittelstandsfamilien mit Kindern und einer traditionellen Rollenverteilung würden durch den vorgeschlagenen Tarif bestraft. Der Nationalrat entschied sich mit 101 zu 95 Stimmen für den Antrag der Kommissionsmehrheit, wobei die Mitte-Fraktion und die SVP-Fraktion geschlossen dagegen votierten.
Die zweite Änderung, welche der Ständerat vorgenommen hatte, betraf die Möglichkeit, die kinderbezogenen Abzüge auf den Ehepartner oder die Ehepartnerin zu übertragen, sollten die Abzüge ansonsten wegen eines zu niedrigen oder nicht vorhandenen Einkommens «ins Leere fallen», so Kathrin Bertschy und Samuel Bendahan. Die WAK-NR habe sich mit 17 zu 8 Stimmen gegen diese Möglichkeit entschieden, da sie zu einem grossen bürokratischen Aufwand führen und neue Abhängigkeiten zwischen den Ehegatten schaffen würde, welche die Individualbesteuerung ja gerade aufheben wolle. Eine erste Minderheit um Paolo Pamini (area liberale, TI) sprach sich für eine Übertragung der kinderbezogenen Abzüge und somit für die Variante des Ständerats aus. Bei Familien, bei denen nur ein Elternteil erwerbstätig sei, würde die Hälfte des Abzugs verfallen, was «ein klarer Verstoss gegen das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit» darstelle. Mit 130 zu 66 Stimmen lehnte der Nationalrat die erste Minderheit Pamini ab, wobei einzig die geschlossen stimmende SVP-Fraktion für deren Annahme votierte. Eine zweite Minderheit Pamini wollte sicherstellen, dass den Ehegatten nach der Einführung der Individualbesteuerung ein Einsichtsrecht in die Steuerunterlagen des Ehepartners oder der Ehepartnerin gewährleistet wird, sollte die eigene Veranlagung davon abhängen, was bei einer Übertragbarkeit der Abzüge der Fall wäre. Da sich der Nationalrat jedoch gegen die Übertragbarkeit ausgesprochen hatte, lehnte er konsequenterweise auch diesen Antrag – ebenfalls mit 130 zu 66 Stimmen – ab.
Nach der Behandlung der Differenzen zum indirekten Gegenvorschlag setzte der Nationalrat die Debatte über die Volksinitiative «für eine zivilstandsunabhängige Individualbesteuerung (Steuergerechtigkeits-Initiative)» fort, deren Beratung aufgrund des indirekten Gegenvorschlags sistiert worden war. Obschon man den indirekten Gegenvorschlag gegenüber der Volksinitiative bevorzuge, habe die Kommission auch die Volksinitiative mit 13 zu 12 Stimmen zur Annahme empfohlen, da diese die diskriminierende «Heiratsstrafe» mit einem vergleichsweise geringen Aufwand für die Verwaltung endlich beseitige, führten die Kommissionssprechenden aus. Eine Minderheit um Leo Müller forderte die Ablehnung der Volksinitiative. Nicht nur handle es sich bei der Initiative um ein «Administrativmonster», das von der grossen Mehrheit der Kantone abgelehnt werde, sondern sie schade auch dem Institut der Ehe, indem sie den Aspekt der Wirtschaftsgemeinschaft beseitige. Der Nationalrat entschied sich mit 98 zu 96 Stimmen für den Antrag der Kommissionsmehrheit, wobei die SVP-Fraktion und die Mitte-Fraktion geschlossen für den Minderheitsantrag und die anderen Fraktionen ebenso geschlossen für den Antrag der Mehrheit stimmten.
Dossier: Reform der Ehe- und Familienbesteuerung seit 2000 – Gemeinschaftsbesteuerung oder Individualbesteuerung?