Der Nationalrat beugte sich in der Herbstsession 2024 als Erstrat über den indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Für eine zivilstandsunabhängige Individualbesteuerung (Steuergerechtigkeits-Initiative)», wobei er eine gut siebenstündige, teils emotionale Grundsatzdebatte führte.
Zwar herrschte in der Eintretensdebatte Einigkeit darüber, dass die Heiratsstrafe abgeschafft werden soll, jedoch gab es unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie dies geschehen solle. Und nicht zuletzt spiegelten sich in diesen Vorstellungen die Grundhaltungen der einzelnen Parteien gegenüber den verschiedenen Familienmodellen. Die Fraktionen der FDP, SP, Grünen und GLP unterstützten sowohl die Volksinitiative als auch den Gegenvorschlag. Dabei argumentierten sie, dass die Einführung der Individualbesteuerung zeitgemäss sei und zur Erhöhung der Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen und folglich zur Stärkung der Gleichstellung der Geschlechter sowie schliesslich auch zur Beseitigung des Fachkräftemangels und zur Sicherung des Wohlstands beitrage. Auf der anderen Seite fürchteten die ablehnenden Fraktionen der Mitte und der SVP durch die Individualbesteuerung eine steuerliche Benachteiligung von Familien mit nur einem verdienenden Elternteil und zweifelten an, ob steuerliche Anreize tatsächlich zur Erhöhung der Arbeitsmarktpartizipation beitragen können. Die Mitte hob zudem den besonderen Stellenwert der Ehe als rechtliche und wirtschaftliche Einheit im Zivilrecht hervor und sprach sich entschieden dagegen aus, diesen Status im Steuerrecht zu ignorieren. Sie plädierte für ein alternatives Modell, das sie in ihrer eigenen Volksinitiative vorschlägt: ein flexibler Steuerberechnungsansatz, der im Gegensatz zum Vollsplitting den jeweils niedrigsten Steuerbetrag berechnet und damit Steuergerechtigkeit schaffe, ohne bestimmte Familienmodelle zu benachteiligen. Zudem befürchteten die ablehnenden Parteien eine erhebliche administrative Mehrbelastung durch die vielen zusätzlichen Steuererklärungen. Diesem Argument entgegnete Bundesrätin Karin Keller-Sutter, dass zwar ein gewisser administrativer Mehraufwand entstehe – vor allem auf kantonaler Ebene – dieser aber durch die fortschreitende Digitalisierung und die Entlastung bei bestimmten Veranlagungen kompensiert werden könne. Sie fügte hinzu, dass grössere kommunale Steuerämter den zusätzlichen Aufwand nicht als übermässig bewerteten und die Individualbesteuerung die Bearbeitung von Quellensteuerfällen, Todesfällen oder Scheidungen administrativ sogar erleichtern könnte. Die Finanzministerin betonte abschliessend, dass der indirekte Gegenvorschlag zur Individualbesteuerung auf einem parlamentarischen Auftrag basiere, die Einführung einer zivilstandsunabhängigen Besteuerung zu prüfen und verfassungskonform umzusetzen und forderte den Rat dazu auf, diesem zuzustimmen.
Die Kommissionsmehrheit empfahl mit knappen 13 zu 12 Stimmen den indirekten Gegenentwurf anzunehmen, wie die WAK-NR-Mitglieder Samuel Bendahan (sp, VD) und Kathrin Bertschy (glp, BE) ausführten. Nationalrat Leo Müller (mitte, LU) vertrat die grösstmögliche Kommissionsminderheit, die Nichteintreten beantragte. Im Nationalrat setzte sich der Antrag auf Eintreten durch geschlossene Unterstützung der Faktionen der Grünen, SP, GLP und FDP mit 99 zu 90 Stimmen (4 Enthaltungen) gegen den Nichteintretensantrag Müller durch, der von der SVP- und der Mitte-Fraktion unterstützt wurde.
In der Detailberatung forderten insgesamt fünf Minderheitsanträge Änderungen am Entwurf, wogegen die jeweils unterschiedlich zusammengesetzte Mehrheit immer für Zustimmung zum Bundesrat plädierte. In diesen Minderheiten spiegelte sich auch die Haltung der SP, Grünen und der GLP, welche die Individualbesteuerung zwecks Gleichstellung der Geschlechter zwar befürworteten, die vom Bundesrat geschätzten Steuerausfälle von CHF 1 Mrd. aber nach Möglichkeit vermeiden respektive kompensieren wollten.
So forderte der Minderheitsantrag I Ryser (gp, SG) eine Tarifanpassung zur gerechten Verteilung der Steuerlast ohne Mehrbelastung des Bundeshaushalts. Durch eine leicht steilere Progression im obersten Einkommensdezil sollte das Steueraufkommen stabil gehalten werden. Dadurch würden immer noch 45 Prozent der Steuerzahlenden entlastet, während auf der anderen Seite 19 Prozent eine vertretbare Mehrbelastung tragen würden. Der Minderheitsantrag II Bertschy (glp, BE) schlug eine stufenweise Einführung der Steuersätze vor, um die Mindereinnahmen auf maximal CHF 500 Mio. pro Jahr zu begrenzen. Der Antrag sah eine Übergangsphase von zehn Jahren vor, in der zunächst ein alternativer Steuersatz mit stärkerer Progression im neunten und zehnten Einkommensdezil gelten würde, um die Steuerausfälle zu reduzieren. Während einer zehnjährigen Übergangsphase sollte eine stärkere Progression für hohe Einkommen gelten, bevor der Bundesratstarif greifen könnte. Falls die Mindereinnahmen die Grenze von CHF 500 Mio. nicht übersteigen, könne bereits früher auf den Bundesratstarif gewechselt werden. Cédric Wermuth (sp, AG) argumentierte, dass eine stärkere Erwerbsbeteiligung von Frauen nicht allein durch steuerliche Entlastungen erreicht würden, sondern eine gut ausgebaute familienexterne Kinderbetreuung ebenso erforderlich sei. Deshalb forderte er mit dem Minderheitsantrag III (Wermuth), die Vorlage der Individualbesteuerung mit der parallel behandelten Vorlage zur familienexternen Kinderbetreuung, zu verknüpfen, um den Bund stärker in die Förderung externer Betreuungsangebote einzubinden. Der Antrag sah keine Erhöhung des finanziellen Rahmens vor; vielmehr sollten die geschätzten finanziellen Mittel von CHF 1 Mrd. der Bundesratsvorlage für beide Vorlagen zusammen ungefähr hälftig eingesetzt werden.
Auf der anderen Seite versuchten zwei weitere Minderheiten aus der Feder der Mitte und der SVP, die Heiratsstrafe mit alternativen Modellen zur Individualbesteuerung abzuschaffen. Der Minderheitsantrag IV Pamini (svp, TI) schlug ein Vollsplitting-Modell vor, wie es bereits in 14 Kantonen angewandt werde. Dabei wird das Gesamteinkommen eines Ehepaars zur Steuerbemessung durch zwei geteilt. Dies ermögliche eine gerechte Steuerentlastung für verheiratete Paare, ohne dass ihnen eine steuerliche Trennung aufgezwungen werde, was insbesondere für Familienunternehmen und Bauernfamilien vorteilhaft sei. Ähnlich argumentierte der Sprecher des Minderheitsantrags V Aeschi (svp, ZG), der die Einführung eines Teilsplitting-Modells beantragte. Dabei wird das Gesamteinkommen eines Ehepaars statt durch zwei durch den Faktor 1.75 geteilt, wodurch die Progression abgeschwächt werde. Der Nationalrat folgte durchwegs seiner Kommissionsmehrheit und lehnte sämtliche Minderheitsanträge ab. Die grosse Kammer stimmte ebenfalls dem Antrag der Mehrheit zu, der ein Inkrafttreten der Initiative spätestens innerhalb von sechs Jahren nach der Volksabstimmung beziehungsweise nach Ablauf der Referendumsfrist vorsieht.
In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat den indirekten Gegenvorschlag des Bundesrates mit 98 zu 93 Stimmen (1 Enthaltung) an. Die ablehnenden Stimmen kamen aus den Reihen der SVP und der Mitte-Fraktion, während FDP, SP, Grüne und GLP geschlossen für den Entwurf stimmten. Stillschweigend stimmte der Nationalrat ebenfalls dem Antrag des Bundesrates zu, die folgenden parlamentarischen Vorstösse abzuschreiben: Mo.04.3276, Mo.05.3299, Po.11.3545, Po.14.3005, Mo.10.4127, Mo.16.3044, Po.21.3284.
Zur Volksinitiative fasste der Nationalrat in der Herbstsession noch keinen Beschluss; er wollte zuerst die weitere Beratung über den indirekten Gegenvorschlag abwarten. Mit Zustimmung zu einem entsprechenden Ordnungsantrag seiner Kommission verlängerte er daher die Behandlungsfrist der Volksinitiative bis zum März 2026.