Totalrevision der Bundesverfassung: Verfahren und Verfahrensfragen (BRG 96.061)

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Nachdem er im August bereits einige Teilaspekte bekanntgegeben hatte, stellte der Bundesrat Ende November seine Botschaft zur Totalrevision der Bundesverfassung vor. Den Räten wird die Vorlage in drei Bundesbeschlüssen unterbreitet: der Nachführung des bestehenden Verfassungstextes und den Reformen von Volksrechten und Justiz. Bei ersterer handelt es sich um Anpassungen veralteter Verfassungsbestimmungen an die heutige Verfassungswirklichkeit, die Übernahme grundlegender Bestimmungen auf Gesetzesebene und von ungeschriebenem Verfassungsrecht in die Bundesverfassung sowie die Schliessung von Lücken. Dazu gehören etwa internationale Konventionen zum Schutz der Menschenrechte, oder vom Bundesgericht anerkannte ungeschriebene Grundrechte wie das Recht auf Existenzsicherung. Auch die anderen der neu in die Verfassung aufgenommenen Sozialziele enthalten nichts grundlegend Neues. Ausserdem schreibt die neue Verfassung den Vorrang der privaten Verantwortung bei der Sicherung der materiellen Existenz fest.

Dossier: Totalrevision der Bundesverfassung 2/2: BRG 96.091 (1996 bis 2000)

Am 5. Dezember stellten die Büros beider Räte die vorbereitenden Verfassungskommissionen zusammen. Sie werden von Ständerat Rhinow (fdp, BL) und Nationalrat Deiss (cvp, FR) präsidiert. Eine Woche später nahmen die Kommissionen ihre Arbeit auf. Die Beratungen sollen bis Ende 1997 abgeschlossen sein, damit die Ratsplena die Vorlage im Jubiläumsjahr 1998 abschliessend behandeln können.

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Das Parlament wird sich erst 1998 mit der Totalrevision der Bundesverfassung auseinandersetzen. Bereits im Berichtsjahr regelte es aber eine Verfahrensfrage für die Durchführung der Volksabstimmungen zu dieser Reform. Die Verfassungskommission des Nationalrats hatte dazu mit einer parlamentarischen Initiative zwei nur für diese Totalrevision gültige Neuerungen beantragt. Die erste sieht vor, dass dem Volk nicht nur ein einziger Entwurf, sondern gleichzeitig auch Varianten zu einzelnen Bestimmungen vorgelegt werden können. Damit soll einerseits der Gestaltungsspielraum der Bürger ausgedehnt werden, vor allem aber soll vermieden werden, dass die ganze Revision der Opposition zu einer einzelnen Bestimmung zum Opfer fällt. Innerhalb eines Revisionspaketes sollen aber höchstens zu drei Bestimmungen Varianten vorgelegt werden dürfen. Die zweite Neuerung soll dem Parlament erlauben, zu wichtigen Grundsatzfragen bereits vor dem definitiven parlamentarischen Entscheid eine Volksabstimmung (auch mit eventuellen Varianten) durchzuführen, deren Ergebnis dann für das Parlament verbindlich ist.

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Die SVP, die FDP und die FP bekämpften im Nationalrat diese Vorschläge mit dem Argument, dass sich damit das Parlament aus der Verantwortung schleiche. Zudem werde damit für den Bürger der Entscheid nicht erleichtert. Da er bei gleichzeitiger Abstimmung über die Varianten und die Gesamtvorlage nicht wisse, wie letztere dann definitiv aussieht, könne er diese gar nicht beurteilen. Auch Bundesrat Koller äusserte sich eher skeptisch zu Variantenabstimmungen. Seiner Meinung nach sollen sich solche auf jeden Fall auf politisch wenig umstrittene Fragen im Bereich der Verfassungsnachführung beschränken. Bei wichtigen inhaltlichen Entscheiden im Bereich der materiellen Verfassungsreform (z.B. der Erhöhung der Unterschriftenzahlen) bestünde laut Koller die Gefahr, dass eine Mehrheit das ganze Paket ablehnen würde, um auf jeden Fall nicht zu riskieren, dass eine missliebige Neuerung in Kraft tritt. Der Nationalrat beschloss mit 95 zu 45 Stimmen, auf die Vorlage einzutreten. Bei der Detailberatung dieser neuen Regelung im Geschäftsverkehrsgesetz konnte sich der von der Ratslinken bekämpfte Kommissionsantrag durchsetzen, dass bei Variantenfragen zu Themen, die in der bestehenden Verfassung bereits geregelt sind, immer dieser alte Verfassungstext einer neuen Regelung gegenüberzustellen sei. Nicht zulässig soll es in diesen Fällen sein, zwei unterschiedlich weit gehende Neuerungen einander gegenüber zu stellen. Die Befürworter dieser Lösung begründeten ihren Entscheid damit, dass sonst die Befürworter des Status quo ihre Meinung nur durch eine Ablehnung der ganzen Vorlage ausdrücken könnten.

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Die Verfassungskommissionen der beiden Parlamentskammern, welche sich im Dezember des Vorjahres konstituiert hatten, nahmen Ende Januar die parallel geführte Beratung der drei Vorlagen zur Verfassungsrevision («Nachführung», «Volksrechte» und «Justizreform») in Angriff. Beide hiessen grundsätzlich das bundesrätliche Konzept gut. Während das Eintreten auf die Nachführung unbestritten war, zeigten sich beim Paket «Reform der Volksrechte» bereits zu Beginn grundlegende Differenzen, welche ihren Grund vor allem im Vorschlag der Erhöhung der Unterschriftenzahlen für Initiative und Referendum hatten. Die nationalrätliche Kommission fällte zwar auch diesen Eintretensbeschluss einstimmig, sieben der 39 Mitglieder enthielten sich aber der Stimme. Angesichts der Umstrittenheit dieses Pakets konzentrierten sich beide Kommissionen während des Berichtsjahres auf die beiden anderen Vorlagen (A «Nachführung» und C «Justizreform»), welche sie am 21. (nationalrätliche Kommission) resp. 27. November (ständerätliche Kommission) verabschieden konnten. Sie hielten damit bei diesen beiden Teilen die terminlichen Vorgaben des Bundesrates ein.

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Der Ständerat trat auf diese Vorschläge ebenfalls ein. Er lehnte aber den Beschluss des Nationalrats ab, dass bei Varianten immer die alte Verfassungsbestimmung einer Neuerung gegenübergestellt werden muss. Kommissionssprecher Rhinow (fdp, BL) argumentierte damit, dass es sonst unmöglich wäre, dort wo Konsens über eine Innovation besteht, das Volk mit einer Variantenabstimmung über das gewünschte Ausmass dieser Innovation entscheiden zu lassen. Der Nationalrat übernahm diesen Beschluss diskussionslos.

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Im Ständerat war Eintreten auf die nachgeführte Verfassung unbestritten. Der Kommissionssprecher Rhinow (fdp, BL) machte in seinem Eröffnungsvotum darauf aufmerksam, dass es darum gehe, zum ersten Mal seit 150 Jahren die Verfassung vollständig neu zu redigieren. Bei der Totalrevision von 1874 seien zwar wichtige materielle Neuerungen eingeführt, der Aufbau des Textes und dessen Formulierung aber aus der Fassung von 1848 weitgehend unverändert übernommen worden. In seinem Votum zur Eintretensdebatte rief Bundesrat Koller noch einmal den Parlamentsbeschluss von 1987 in Erinnerung, sich auf eine Nachführung der Verfassung zu beschränken. Es gehe nicht darum, «den Staat neu zu erfinden», seine Fundamente (liberaler Rechtsstaat, direkte Demokratie, Föderalismus und soziale Marktwirtschaft) seien nach wie vor tragfähig. Allerdings gelte es, die Verfassung, welche seit 1874 nicht weniger als 140 mal teilrevidiert worden sei, wieder in eine klare Struktur und eine lesbare Sprache zu bringen. Die Anpassung an den heutigen Sprachgebrauch erwies sich allerdings für die französisch- resp. italienischsprachige Version als nicht unproblematisch. Während der deutsche Text bewusst geschlechtsneutral gehalten war, sah man in den vorberatenden Kommissionen für die beiden anderen Sprachen davon ab, da dies nach Aussage des Redaktionskommissionsmitglieds Cavadini (lp, NE) mit den Gesetzen dieser Sprachen nicht vereinbar wäre oder zumindest zu als unschön empfundenen Wendungen und Wortkonstruktionen führen würde. Die Kommissionen schlugen vor, in diesen Sprachen mit einer Fussnote am Anfang darauf zu verweisen, dass bei den männlichen Formulierungen die Frauen immer mitgemeint sind. Auf Druck namentlich von französischsprachigen Parlamentarierinnen nahm die französischsprachige Redaktionskommission dann im Laufe der Plenumsberatungen entsprechende Änderungen vor und schuf mit Doppel- resp. Funktionsbezeichnungen (z.B. présidence anstelle von le président), aber ohne Rückgriff auf Wortschöpfungen, einen Text, der zur Zufriedenheit der Kritikerinnen ausfiel.

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Im Nationalrat war bereits der Grundsatz der Verfassungsrevision umstritten. Die Fraktion der Freiheitspartei beantragte Nichteintreten, da die Revision überflüssig sei und zudem im Entwurf viel zuviel Gewicht auf staatliche Regulierung und Sozialrechte gelegt und das Prinzip der Selbstveranwortlichkeit und Wirtschaftsfreiheit vernachlässigt werde. Dieser auch von den Schweizer Demokraten – diese bemängelten zudem noch, dass dieses Projekt nichts anderes als eine Unterwerfung unter die Normen der EU sei – unterstützte Antrag unterlag mit 153:10 Stimmen. Genau das Gegenteil kritisierte ein Teil (rund ein Drittel) der SP-Fraktion am vorliegenden Entwurf. Rechsteiner (sp, SG) forderte die Rückweisung an die Kommission mit dem Auftrag, die Sozialrechte und die Interventionsmöglichkeiten des Staates in die Wirtschaftspolitik auszubauen und den Willen zur Integration der Schweiz in die EU und die UNO explizit in die Verfassung aufzunehmen. Ähnliches, wenn auch etwas abstrakter und zudem angereichert mit dem Vorschlag, den Föderalismus neu zu konzipieren (und dabei insbesondere auch die Zahl der Kantone zu verringern) forderte Rennwald (sp, JU) in seinem Rückweisungsantrag an den Bundesrat. Nachdem Rechsteiner seinen Antrag zugunsten desjenigen von Rennwald zurückgezogen hatte, unterlag auch dieser deutlich mit 140:14 Stimmen.

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Nach Beendigung der Detailberatung erklärten sich im Nationalrat die Sozialdemokraten unzufrieden. Nachdem sie mit ihren zahlreichen materiellen Abänderungsanträgen praktisch durchwegs gescheitert waren (eine Ausnahme war die Aufnahme des neuen Kinderartikels, allerdings nicht in der von der SP vorgeschlagenen Formulierung) gaben sie bekannt, dass sie den Verfassungsentwurf in der vorliegenden Form ablehnen würden. Die Gesamtabstimmung fiel bei einer Annahme mit 49:40 Stimmen bei 47 Enthaltungen denn auch sehr mager aus. Neben den Sozialdemokraten hatten sich auch die meisten SVP-Vertreter der Stimme enthalten oder die Vorlage abgelehnt. Zurückgeführt wurde dieses eher konfuse Ergebnis auf eine taktische Stimmabgabe, mit der die Linke markieren wollte, dass für sie die vom Nationalrat beschlossene Version das absolute Minimum darstelle und sie vom Ständerat in der Differenzbereinigung ein weitgehendes Entgegenkommen erwarte. Im Ständerat erfolgte die Zustimmung in der Gesamtabstimmung oppositionslos.

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Im Ganzen gesehen hielt sich das Parlament an das Konzept der Nachführung und verzichtete weitgehend auf materielle Neuerungen. Dies trug dazu bei, dass das öffentliche Interesse an den Parlamentsberatungen eher gering war. Obwohl dieses Konzept auch den Medienschaffenden bekannt war, konnten doch viele unter ihnen ihre Enttäuschung nicht verbergen, dass die Gelegenheit nicht benutzt wurde, um ihrer Ansicht nach notwendige Reformen zu beschliessen. Um eine breitere Öffentlichkeit auf die Verfassungsreform aufmerksam zu machen, lancierte Bundesrat Koller anfangs Juni eine rund eine halbe Million Franken kostende Werbeaktion mit Plakaten.

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Nachdem in der zweiten Runde der Differenzbereinigung noch rund ein Dutzend Streitpunkte übriggeblieben waren, präsentierte die aus beiden Ratskammern paritätisch zusammengesetzte Einigungskonferenz in der Dezembersession ihre Vorschläge, welche von beiden Räten akzeptiert wurden. Die SP-Vertreter machten einen letzten Versuch, ihre in der parlamentarischen Auseinandersetzung unterlegenen Vorschläge doch noch in die Verfassung einzubringen. Sie schlugen vor, zwei ihrer Forderungen (aktivere Wirtschaftspolitik des Staates und dabei Einsatz für eine «gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung» bzw. zwingende Verwirklichung der Sozialziele) dem Volk als Alternativfragen vorzulegen. Beide Ratskammern lehnten es jedoch ab, dieses speziell für die Verfassungsrevision geschaffene Instrument der Alternativabstimmung anzuwenden.

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Damit konnte die neue Verfassung wie geplant noch im Jubiläumsjahr zum 150jährigen Bestehen des Bundesstaates vom Parlament verabschiedet werden. In der Schlussabstimmung votierte der Nationalrat mit 134:14 Stimmen bei 31 Enthaltungen und der Ständerat einstimmig für die Reform. Die Opposition im Nationalrat kam sowohl von links als auch von rechts. Die 14 Neinstimmen stammten von drei (welschen) Sozialdemokraten, der Freiheitspartei, der Mehrheit der Schweizer Demokraten (ohne Ruf, BE) und vier Vertretern der SVP. Gut vertreten waren die SP und die SVP auch bei den Enthaltungen (14 resp. 11). Die CVP und die GP stellten sich einhellig hinter das Projekt, während beim Freisinn fünf und bei den Liberalen eine Enthaltung zu verzeichnen waren.

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Das Parlament begann die Beratung der Verfassungstotalrevision in einer einwöchigen Sondersession im Januar. Die Verhandlungen beschränkten sich auf den Teil A (Verfassungsnachführung) und wurden parallel geführt, wobei der Ständerat Erstrat für die Detailberatungen eines ersten Teils (bis Art. 126), und der Nationalrat für den zweiten Teil war. Die Differenzbereinigung zog sich dann bis in die Wintersession, wo die totalrevidierte Bundesverfassung mit der Schlussabstimmung am 18. Dezember verabschiedet wurde. Die Behandlung der als Teile B und C ebenfalls zum Totalrevisionsprojekt gehörenden Vorlagen «Volksrechte» und «Justizreform» gerieten demgegenüber in zeitlichen Verzug. Die Justizreform steckte zu Jahresende noch in der Differenzbereinigung zwischen den beiden Räten. Die Plenumsberatungen zur Reform der Volksrechte konnten hingegen im Berichtsjahr noch nicht begonnen werden. In diesem Bericht wird die Entwicklung dieser beiden Reformpakete im jeweiligen Sachzusammenhang dargestellt.

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Das Parlament nahm diskussionslos die letzten technischen und redaktionellen Änderungen von Gesetzen vor, um diese formal an die neue, auf den 1. Januar 2000 in Kraft gesetzte Bundesverfassung (BV) anzupassen. Mit dem Einverständnis des Bundesrates überwies der Ständerat eine Empfehlung Büttiker (fdp, SO; E 00.3109), die neue Verfassung mit Hilfe eines Inhaltsverzeichnisses und eines Sachstichwortregisters benutzerfreundlicher zu gestalten. Die zum Totalrevisionsvorhaben gehörende Justizreform konnte, wenn auch in weniger ambitiöser Form als ursprünglich geplant, mit der Annahme in der Volksabstimmung vom 12. März ebenfalls abgeschlossen werden.

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